A. Hudalla: Außenpolitik in den Zeiten der Transformation

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Titel
Außenpolitik in den Zeiten der Transformation. Die Europapolitik der Tschechischen Republik 1993-2001


Autor(en)
Hudalla, Anneke
Reihe
Tschechien und Mitteleuropa 4
Erschienen
Münster 2003: LIT Verlag
Anzahl Seiten
363 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffi Franke, Leipzig

Die Osterweiterung der Europäischen Union kann nicht nur als Nagelprobe für die Erweiterungs- und Integrationsfähigkeit dieses transnationalen politischen Gebildes angesehen werden, sondern auch als Lackmustest für die Leistungsfähigkeit der politikwissenschaftlichen Transformationsforschung. Die dominierende Wahrnehmung der ost- und mitteleuropäischen Staaten als Staaten im Übergang, im Konsolidierungsprozess, im Status des „Noch-nicht“ oder des „Beinahe“ hat den Blick auf die Qualität dieser Staaten als eigenständige Akteure verstellt. Folge dieses eingeschränkten Blickes sind u.a. die „alt“- oder westeuropäische Irritation über verschiedene Aspekte der Politik der neu beigetretenen Staaten, angefangen von deren Haltung zum Irakkrieg bis zu den Ergebnissen der ersten gemeinsamen Europawahl. Erst langsam verstärkt sich das Interesse am Themenfeld der Außen- und Europapolitik der ostmitteleuropäischen Staaten nach 1989, eine Vielzahl der Beiträge konzentrieren sich dabei auf sicherheits- und ostpolitische Aspekte 1, selten wird aus der Perspektive dieser Staaten argumentiert, sondern zuerst nach deren Verflechtung und ihrer Bedeutung für die Außenpolitik westlicher Staaten und der europäischen Union gefragt. 2 Insofern ist eine Publikation sehr zu begrüßen, die das außenpolitische und das transformationswissenschaftliche Problem zusammen in den Blick nimmt.

Der besonderen Verschränkung von transformationspolitischen Herausforderungen und außenpolitischem Handeln in einer politikwissenschaftlichen Untersuchung Rechnung zu tragen ist erklärtes Ziel der 2003 erschienenen Dissertation von Anneke Hudalla. Ihre zentrale These lautet: Bis Mitte der 1990er-Jahre bestimmten vor allem innenpolitische Problemlagen das tschechische außenpolitische Handeln, ab 1997/98 entwickelte sich dann zunehmend eine profilierte Außenpolitik. Die innenpolitische Dominanz des außenpolitischen Verhaltens beschreibt Hudalla mit Hilfe des von Peter Calvert Mitte der 1980er-Jahre entwickelten dramatic actor model, den konstatierten Wandel der tschechischen Außenpolitik begründet sie mit innenpolitischen und ökonomischen Veränderungen in der Tschechischen Republik wie auch mit der zunehmenden Konkretisierung des Erweiterungsprozesses, durch die in veränderter Form gleichzeitig auf die Beitrittskandidaten Druck ausgeübt und für sie Anreize gesetzt wurden.

Die Untersuchung folgt dabei einer komplexen Gliederung. Zum einen wird die tschechische Europa- und Außenpolitik auf grundsätzlich zwei Ebenen analysiert: der konzeptionellen und der Implementationsebene. Darüber hinaus wird die Entwicklung der tschechischen Politik in drei historische Abschnitte eingeteilt, die sich einerseits politisch-systematisch über wechselnde Regierungen und Entwicklungsphasen des politischen Systems abgrenzen lassen, sich andererseits aber auch ex post aus den Analyseergebnissen ergeben: eine erste Phase von 1993 bis 1996, die im Zeichen der Regierung von Václav Klaus stand und von der von Hudalla so beschriebenen innenpolitischen Dominanz außenpolitischer Entscheidungsfindung geprägt war; eine zweite, die Jahre 1997/1998 umfassende Phase, die innenpolitisch durch die Instabilität der Regierung Klaus und einer zunehmenden sozioökonomischen Krise charakterisiert war und auf der außenpolitischen Ebene von Hudalla als Phase des Wandels der interessierenden Entscheidungsmuster beschrieben wird, und eine dritte Phase von 1998 bis zum Ende des Untersuchungszeitraums im Jahr 2001/2002, in der unter der sozialdemokratischen Regierung Miloš Zeman die europa- und außenpolitischen Konzeptionen und Entscheidungen immer weniger von innenpolitischen Motiven bestimmt waren.

Neben dieser inhaltlichen und historischen Unterscheidung führt Hudalla eine politisch-systematische Analyseebene ein, nämlich die Unterscheidung zwischen policy und polity, also zwischen Politikinhalten und der verfahrensbezogenen Ebene von Politik, indem sie auf einzelne Politikfelder fokussiert – maßgeblich auf die Privatisierungspolitik und die Verwaltungsreform – und die Veränderungen im politischen System einer Untersuchung unterzieht.

Für die erste Phase der tschechischen Außenpolitik stellt Hudalla auf der Ebene des politischen Systems erhebliche Konsolidierungsdefizite fest: die Folgen der Staatsteilung, eine schwache Abgeordnetenkammer, der ein dominanter Ministerpräsident gegenüber stand, ein noch im Fluss befindliches Parteiensystem und der Konflikt zwischen den außenpolitischen Instanzen des Minister- und Staatspräsidenten, Klaus und Havel. Der Mangel an konsensualen Entscheidungsfindungsprozessen auf der innenpolitischen Ebene prägte dabei auch den Charakter der tschechischen Europa- und Außenpolitik, der nach innen durch Dissenz und nach außen durch Inkonsistenz und Schwanken gekennzeichnet war.

Mit dem „Ende der Ära Klaus“ nach der Mitte der 1990er-Jahre und der Erstarkung der tschechischen Sozialdemokratie in der Opposition ging zunehmend, zuerst auf der konzeptionellen, dann auch langsam auf der Implementationsebene, ein Wandel des Akteursverhaltens einher. Dafür macht Hudalla den wachsenden innenpolitischen und ökonomischen Druck und die Konkretisierung des Beitrittsprozesses verantwortlich. Europapolitische Motive gewannen zunehmend an Eigenständigkeit. Sie verloren langsam ihren Charakter als Medien der innenpolitischen Auseinandersetzung. Der Druck der EU auf die tschechische Politik durch den näher rückenden Beitrittstermin führte zu einer Lösung der Selbstblockade im politischen System Tschechiens (S. 244). Mit der zunehmenden institutionellen Konsolidierung setzte nach Hudalla die Ablösung des dramatic actor models ein, die weiterhin andauert. Von einem europapolitischen Konsens könne noch nicht gesprochen werden, aber außen- und europapolitische Motive würden verstärkt als eigenständige politische Parameter wahrgenommen. Diese Bedeutung der europapolitischen Dimension fasst Hudalla begrifflich in Anlehnung an Kjell Goldmann als stabilizer für die innenpolitische Entwicklung in Tschechien und verweist damit auf die enge Verflechtung der europa- und innenpolitischen Dimensionen.

Hudalla verfolgt diese Entwicklungen über einen Zeitraum von 10 Jahren für alle relevanten tschechischen politischen Akteure. Sie stützt sich dabei auf ein umfangreiches Quellenmaterial an Dokumenten und Erkenntnisse aus Experteninterviews. Sie kann dabei auch von ihrer Magisterarbeit profitieren, die unter dem Titel „Der Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union“ 1996 ebenfalls im Lit-Verlag erschienen war. Bedauerlich ist dabei allerdings die nur sehr knappe methodische Reflexion der Untersuchung: die Autorin hat offensichtlich eine Fülle von Experteninterviews geführt, doch weder findet sich im Literaturverzeichnis ein Nachweis dieser Interviews oder wenigstens eine Zusammenstellung der Interviewpartner, noch werden Nachweise der aus den Interviews direkt zitierenden Stellen geliefert. Man sucht vergeblich nach der methodischen Präzisierung der Interviews ebenso wie nach einem Gesprächsleitfaden.

Gegenüber dem Argumentationsgang der Arbeit bleiben einige Fragen offen. Zu diskutieren wäre beispielsweise, ob gerade das Feld der Europapolitik als Gegenstand einer außenpolitisch orientierten Untersuchung geeignet ist, vor allem, wenn der Wandel von einer „typisch postkommunistischen“ zu einer „westlichen“ Außenpolitik (S. 321) am Grad der Verflechtung innen- und außenpolitischer Themen- und Konfliktfelder festgemacht wird. Eine solch klare Unterscheidung zwischen innen- und außenpolitischen Motivationen und Konfliktfeldern lässt sich vor allem für das Feld der Europapolitik nicht aufrecht erhalten, ist doch gerade dieses Politikfeld an sich von einer intensiven Verflechtung der innen- und außenpolitischen Dimension gekennzeichnet.3 Hingegen wäre die verstärkte, normativ weniger aufgeladene Berücksichtigung gerade des Verflechtungsaspektes eine lohnende Perspektive gewesen, um den Bestimmungsfaktoren der tschechischen Außenpolitik auf die Spur zu kommen. Diesen Gedanken beginnt die Autorin im hinteren Teil der Arbeit selbst zu entwickeln (S. 280ff, 289) – u.a. die These von der stabilisierenden Wirkung der EU auf die innenpolitische Situation in Tschechien deutet selbst auf die Relevanz eines verflechtungsorientierten Denkens.

Offen bleiben auch Fragen bezüglich der theoretischen Reflexion der Arbeit. Das in der Einleitung knapp entfaltete dramatic actor model, das auf Eliteakteure abhebt und deren Verhalten als auf die Optimierung des individuellen politischen Images gerichtet beschreibt, wird im Gang der Argumentation eher zurückhaltend weitergeführt und die von Peter Calvert angesprochenen Ebenen des Modells – Rolle, Skript, Bühne, Personal und Requisiten – nicht genügend zum Aufbau der Untersuchung argumentativ in Bezug gesetzt. So hätte – auch in Anlehnung beispielsweise des framing-Modells von Ervin Goffmann – die mitunter starke Personalisierung der Argumentation abgefedert werden können. Das ebenfalls verknappt am Ende der Untersuchung eingeführte Modell der stabilzer bleibt im Ertrag für die Untersuchung ähnlich wenig genutzt.

Mit der vorliegenden Untersuchung wird einerseits die westliche Voreingenommenheit der Perspektive kritisiert (S. 11), andererseits der Vorsatz vertreten, die Besonderheiten der postkommunistischen Staaten intensiv zu berücksichtigen. Ein solches Vorhaben ist sehr begrüßenswert, entbehrt aber in der Durchführung nicht einer eigenen unterschwelligen normativen Perspektivierung. Dies ist in begrifflichen Qualifikationen wie „typisch postkommunistisch“ (S. 321) oder „keine substantielle europapolitische Auseinandersetzung“ (S. 221) erkennbar oder auch in der argumentativen Präsentation der Beitrittskriterien als Selbstzweck, ohne ihren auf der Hand liegenden Bezug zu einer integrationspolitischen und konsolidierungsorientierten Politik einzugestehen.

Die mangelnde komparatistische Orientierung der Autorin erweist sich als prinzipielles Problem. Natürlich kann von einer Länderstudie nicht eine grundsätzliche vergleichend angelegte Untersuchung erwartet werden, allerdings ist gerade im Fall eines als Beispiel für eine Region gewählten Staates die vergleichende Einordnung und Abstützung der Interpretation von Analyseergebnissen unabdingbar – auch, um die oben angesprochenen normativ motivierten Ungenauigkeiten zu minimieren. Ansätze dazu lassen sich in der Untersuchung selbst finden (S. 236), ohne dass sie konsequent weiter verfolgt würden.

Insgesamt präsentiert die Studie Anneke Hudallas eine dichte, zusammenhängende Analyse der tschechischen Außenpolitik seit dem Zerfall der Tschechoslowakei am 1.1.1993, obgleich die politikwissenschaftliche Interpretation des empirischen Materials an einigen Stellen streitbar bleibt. Mit dieser Untersuchung wurde ein wichtiger Schritt zur veränderten Wahrnehmung der ostmitteleuropäischen Staaten in der deutschen Transformationsforschung unternommen.

Anmerkungen:
1 Beispielhaft können hier genannt werden: Pradetto, August (Hg.), Die zweite Runde der NATO-Osterweiterung. Zwischen postbipolarem Institutionalismus und offensivem Realismus, Frankfurt am Main, 2004; Heinemann-Grüder, Andreas, Im Namen der NATO. Sicherheitspolitik und Streitkräftereform in Osteuropa, Münster 2003; Seidelmann, Reimund (Hg.), EU, NATO and the Relationsship Between Transformation and External Behaviour in Post-socialist Eastern Europe, Baden-Baden 2002; Ziemer, Klaus (Hg.), Schwierige Nachbarschaften. Die Ostpolitik der Staaten Ostmitteleuropas seit 1989, Marburg 2001.
2 Neben vielen: Raue, Maria Cornelia, Doppelpunkt hinter der Geschichte. Die Prager Deutschlandpolitik 1990-1997, Berlin 2001; Tampke, Jürgen, Czech-German Relations and the Politics of Central Europe, Basingstoke 2003; vgl. gerade im Fall der Tschechischen Republik umfangreiche Veröffentlichungen zum deutsch-tschechischen Verhältnis. Stärker auf die tschechische Perspektive hebt Weichsel, Volker, Westintegration und Rußlandpolitik der Tschechischen Republik, Münster 2000 ab.
3 Zu diesem Problemfeld hat u.a. die Zeitschrift für internationale Politik ihr letztes Heft 60,1 (2005) gewidmet, vgl. dort insbesondere: Sandschneider, Eberhard, Neue Welt, anderes Denken. Die Grenzen zwischen Außen- und Innenpolitik lösen sich auf, S. 6-15 und Messner, Dirk, Wettstreit der Akteure. Die internationale Verflechtung revolutioniert das Regieren, S. 16-22.

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