J. Hopfner u.a. (Hgg.): Die aufgegebene Aufklärung

Titel
Die aufgegebene Aufklärung. Experimente pädagogischer Vernunft


Herausgeber
Hopfner, Johanna; Winkler, Michael
Reihe
Beiträge zur pädagogischen Grundlagenforschung
Erschienen
Weinheim und München 2004: Beltz Juventa
Anzahl Seiten
175 S
Preis
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Rita Casale, Pädagogisches Institut, Universität Zürich

Die neun Beiträge in dem von Johanna Hopfner und Michael Winkler herausgegebenem Buch "Die Aufgegebene Aufklärung. Experimente pädagogischer Vernunft" verbindet kein inhaltlich einheitliches Konzept. Die verschiedenen Themen, mit denen sie sich beschäftigen, sind nur schwer unter einen Hut zu bringen. Dennoch bedeutet das nicht, dass es nicht etwas gäbe, das sie zusammenhält. Kein Beitrag arbeitet dieses "etwas", das der Titel "Aufgegebene Aufklärung" exakt bezeichnet, so gut heraus wie der Aufsatz Wolfgang Sünkels. Mit dem Band, in dem die Herausgeber die Beiträge der Tagung gesammelt haben, die sie im März 2002 anlässlich seiner Emeritierung in Erlangen veranstaltet hatten, wollten sie ihn wohl auch als ideellen Vater dieses Programms würdigen.

In "Aufklärung und bürgerliche Gesellschaft. Etwas über Marxismus" (ebd., S. 60-67) gibt Sünkel mit seiner Kritik an der marxistischen Revolutionstheorie sowohl ein Beispiel "aufgegebener Aufklärung" wie auch eine Begründung für ihren Fortbestand über die eigentliche Epoche der Aufklärung hinaus. Sie stehe für eine Denkhaltung, die mit der bürgerlichen Gesellschaft und deren Entstehung aufs engste verbunden sei und die auch darum aufgegeben sei, weil letztere noch keineswegs als erledigt gelten könne. In dieser Gesellschaft habe sie die doppelte Funktion, einerseits die neuen gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnisse zu erfassen und andrerseits das Erfasste unter der revolutionären Norm bürgerlicher Idealität zu beurteilen und zu bewerten. Sünkel negiert jeden über diese Gesellschaftsform hinausweisenden Charakter der Aufklärung und macht so Kritik zu einem notwendigen und dadurch stützenden, tragenden Element derselben. Als konstitutives Element einer Gesellschaft, die nach erst 200 Jahren ihres Bestehen gerade mal "die ersten frühen Stationen ihrer Evolution" (ebd., S. 67) hinter sich gelassen habe, diene sie lediglich deren Entwicklung zur Vollkommenheit. Diese Art der historischen Einbettung enthistorisiert die Aufklärung der Sache nach. Schon Hegel hat gegen die Vorstellung eines kontinuierlichen Fortschritts zur Vernunft zu recht eingewandt, daß die Betonung dabei auf dem unendlichen Progress liege, der, weil er unendlich sei, das Ziel, die Vernunft, zu einem unerreichbaren Jenseits mache. Nichts belegt dies drastischer als die Rede von der "aufgegebenen Aufklärung". Ist die Aufklärung nur Aufgabe, dann "ist" sie nicht. Eine nur subjektive Vernunft ist eben nicht nur nicht wirklich, sondern darum auch nicht vernünftig. Statt jedoch an dem Widerspruch einer nur subjektiven Aufklärung irre zu werden auch in Bezug auf ihr eigenes Tun, freuen sich die Pädagogen lieber darüber, dass es immer und überall eine Aufgabe für sie gibt. So haben sich die Herausgeber in der Einleitung durchaus bemüht, die zwiespältige Angelegenheit, den dialektischen Charakter der Aufklärung stark hervorzuheben. Aber wichtig ist ihnen daran vornehmlich, die entscheidende Rolle des aufklärerischen Programms für die Pädagogik zu betonen: "Geht Aufklärung verloren, dann verliert die Pädagogik zugleich ihren entscheidenden Sinn, den der Begriff der Mündigkeit und die Rede von einem Subjekt bezeichnen, das den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und entsprechend autonom zu handeln" (ebd., S. 11). Eine Pädagogik im Sinne der Aufklärung wäre interessanter als eine Aufklärung im Sinne der Pädagogik.

Sünkels Befund der jede geschichtliche Dynamik auflösenden reinen Immanenz der "aufgegebenen Aufklärung" erlaubt, verschiedene Fallstudien unverbunden nebeneinander zu stellen und entbindet davon, die eigene Tradition spezifischer zu bestimmen. Dabei hätte letzteres angesichts der tragenden Bedeutung, die die Denkfigur im Band hat, und den Wortspielereien, die sich mit "aufgegeben" treiben lassen, nicht geschadet. Was fehlt, ist jedoch ein klarer Hinweis auf den Ort, an dem das Projekt der aufklärerischen Mündigkeit angekündigt wird. Tatsächlich wäre er auch nur schwer zu finden. Denn bei aller Ähnlichkeit zu den Gedanken Kants negiert dessen pädagogische Reprise genau jenes revolutionäre Pathos bürgerlicher Idealität, das für seine Philosophie und die Aufklärung so charakteristisch ist.

Der endlose Auftrag der Pädagogik, dessen man sich nur mittels der Negation der entsprechenden Bestimmung der menschlichen Vernunft entledigen kann, wird in den Beiträgen, die in vier Abteilungen eingeteilt sind, an unterschiedlichen Gegenständen verfolgt.

Die erste Abteilung, "Grundlagen", enthält außer dem schon erwähnten Aufsatz von Wolfgang Sünkel, die von Christoph Lüth und Käte Meyer-Drawe.
In seinem Aufsatz "Die Aufklärung der Sophisten als Traditionsbruch und Reaktionen Platons. Zum Beginn der Erziehungstheorie in der griechischen Aufklärung" (ebd., S. 17-46) macht Christoph Lüth deutlich, dass es sich bei der "aufgegebenen Aufklärung" nicht um ein historisches Projekt des 18. Jahrhunderts, sondern um eine bestimmte Form der menschlichen Vernunft handelt, die bei der Erziehungstheorie der Sophisten ihre erste Formulierung gefunden habe und die sich als Selbstbestimmung durch das Denken charakterisieren lasse. Dass schon diese erste Form von Aufklärung ganz hegelianisch eine historische Aufhebung erfahren habe, zeigt Lüth anhand der platonischen Kritik am relativistischen Begriff der Vernunft der Sophisten.
In "Sklaverei und Tändelei: Kant zu den Grenzen von Erziehung und Bildung" (ebd., S. 47-59) betont Käte Meyer-Drawe das Element der Selbstbestimmung in der kantischen Fassung der Erziehung. Sie tut es, indem sie an dem facettenreichen kantischen Begriff der Erziehung (als Zivilisierung, Kultivierung und Moralisierung verstanden) die Dimension der Selbstregierung und ihr kritisches Potenzial stark macht. Auch in einem modernen Kontext bzw. mit aktualisiertem Bedeutungsgehalt sieht Meyer-Drawe die kritische Selbstbestimmung eher in der Selbstregierung gewahrt als im Selbstmanagement unterm Diktat lebenslangen Lernens: "Unser Problem ist vielleicht nicht mehr der Rückfall in das Rohe und Wilde. Wir werden vielmehr angehalten, unser Leben erfolgreich zu gestalten, indem wir uns an unausgesetzte Veränderungen anpassen. Das sogenannte lebenslange Lernen verdammt uns zu lebenslänglicher Flexibilität. Da bleibt keine Zeit für eine Vernunft, die ihre eigenen Grenzen auslotet, die nicht produktorientiert ist und für ihre Selbstkritik Zeit braucht" (ebd., S. 57).

In der zweiten Abteilung, "Rezeptionshermeneutik" betitelt, wird die "aufgegebene Aufklärung" in einem weiteren Sinne als hermeneutisches Verfahren dekliniert. In Alfred Langewands "Hölderlins 'Sokrates und Alcibiades' bei Johann Friedrich Herbart" (ebd., S. 71-84) geht es um die Dialektik von ästhetischer Identitätsphilosophie und Sophistik. Sie wird daran entwickelt, wie Herbart in seiner Schrift "Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet" das Versmaß von Hölderlins Ode "Sokrates und Alcibiades" (1798) auflöst.
Götz Hilligs "Einige Anmerkungen zu Sünkels 'Fassadenhypothese' mit Seitenblicken auf redaktionelle Eingriffe und Druckfehler" (ebd., S. 85-106) handelt von einer Rezeptionsepisode - vom Verhältnis Makarenkos zur kommunistischen Pädagogik -, die man als ein Beispiel der aufklärerischen Desillusionierung gegenüber der eigenen historischen Tradition interpretieren könnte.

In der dritten Abteilung, "Dialektik", werden die Ambivalenzen von Erziehungsprozessen in den zwei Aufsätzen von Caroline Hopf und von Eva Matthes anhand zweier Fälle problematisiert, die in einem gewissen Sinn als zwei Extreme verstanden werden können. Thema des Aufsatzes "'Bey so aufgeklärten Zeiten…' Leopold Mozart als Erzieher" (ebd., S. 109-123) von Caroline Hopf ist die aufgeklärte Erziehung Leopold Mozarts. Sie könne zwar in bezug auf die musikalische Bildung und das Karrieremanagement seines Sohnes als erfolgreich angesehen werden. Aber was die Förderung der Selbstbestimmungsfähigkeit desselben anbetreffe, sei sie nicht unbedingt als gelungen zu betrachteten.
Im Gegensatz dazu präsentiert Eva Matthes in "Die aufgegebene Aufklärung: Höhere Schulen im NS-Staat", (ebd., S. 124-142) als ein Kontrastprogramm zur Aufklärung die NS-Erziehungsideologie. Sie zeigt aber, wie es trotz vielfältiger Anstrengungen des staatlichen Apparats vor allem in den höheren Schulen nicht gelang, die aufklärerische Tradition völlig zu vernichten: "In einer Vielzahl von Zeitzeugenberichten wird deutlich, dass es auch in der NS-Zeit Lehrkräfte gab, die sich teilweise wohl auch in ihren inhaltlichen Grundüberzeugungen, sicher jedoch in der Art und Weise ihres erzieherischen Handelns der Aufklärung verpflichtet fühlten, indem sie ihre Schüler zu eigenständiger Reflexion, zum Gebrauch ihres Verstandes anregten und sie zum Selbstdenken ermutigen" (ebd., S. 131).

In der Geschichtswissenschaft gab es in den letzten 10-15 Jahren, verbunden mit den Namen Browning, Goldhagen aber auch Heer – mit der Wehrmachtsausstellung – große Anstrengungen auch unter Berücksichtigung und Einbezug subjektiver Zeugnisse, die Verstrickung von Millionen in den arbeitseilig organisierten Vernichtungsprozeß nachzuweisen und damit deutlich zu machen, dass auch ein Terrorsystem nicht nur auf Zwang beruhen kann, sondern weite Teile der Bevölkerung kooperiert haben. Die Autorin versucht demgegenüber anhand von insgesamt fünf autobiographischen Äußerungen die Widerstandsfähigkeit von Aufklärung noch unter widrigsten Umständen zu zeigen. Den Beschreibungen glücklicher Zufälle und Ausnahmen soll sich ihr zufolge entnehmen lassen, dass eher der Unterricht als die Erziehung die Möglichkeit zu Aufklärung auch unter der Naziherrschaft bot. Dass am Ende die Verordnungen des Reichserziehungsministers, weil in ihnen die Notwendigkeit von Unterricht stärker betont wurde als die völkischer Erziehung, in die Nähe von aufklärerischen Akten rücken, lässt allerdings Zweifel an der Konzeption aufkommen.

Abgeschlossen wird der Band von einem Kapitel mit der Überschrift "Perspektiven". Helmut Heid und Michael Winkler gehen in ihren Beiträgen der Frage nach, wie zukunftsträchtig die "aufgegebene Aufklärung" sei.
Heids "Kann man zur Verantwortlichkeit erziehen? Über Bedingungen der Möglichkeit verantwortlichen Handeln" (ebd., S. 145-154) zufolge besteht die aktuelle Bedeutung der Aufklärung vorrangig in einer Erziehung zu menschlicher Verantwortung.
Winkler versucht in seinem Aufsatz "Aufklärung. Ein Tableau und drei Worte zu ihrer Zukunft insbesondere in der Pädagogik" (ebd., S. 155-174) die Zukunft der aufgegebenen Aufklärung zu bestimmen, indem er sie im Verhältnis zu den anderen beiden Zeitbestimmungen, d. h. zu Gegenwart und Vergangenheit, betrachtet. Winkler schlägt vor, ihre Gegenwart in einem husserlianischen Sinn als Epoché, als schlichte Störung, Unterbrechung zu begreifen: "Aufklärung, will sie Aufklärung bleiben, gelingt nur als Störung des Betriebsfriedens. Sie bleibt also durchaus verdächtig, sie schließt keine Freundschaft, will und soll sich den laufenden Geschäften nicht ausliefern" (ebd., S. 157). Zukunft und Vergangenheit sind Winkler zufolge nicht voneinander zu trennen, da es für die "aufgegebene Aufklärung" nur dann eine Zukunft geben kann, wenn die aktuelle Vergessenheit der Tradition der Moderne aufgehoben werde. Was für die aufgegebene Aufklärung gilt, gilt selbstverständlich auch für ihr Organ, die Pädagogik. Die modernisierte Erziehungswissenschaft könne sich selbst nur eine Zukunft garantieren, wenn sie ihre historischen Grundphänomene - Erziehung, Bildung und Unterricht - nicht aufgebe.

Auf dem Buchumschlag ist das Bild Les vacances de Hegel von Henri Magritte zu sehen. Es zeigt ein Glas gefüllt mit Wasser, das auf einem Regenschirm steht. Dem Schirm kommen offensichtlich zwei einander ausschließende Funktionen zu: Er trägt das Glas und er schützt vor dem Wasser, das es enthält. Fällt aber das Glas um, trägt der Schirm nicht mehr. Und trägt er, dann braucht es keinen Schirm. Denn schließlich hat man nur einen Schirm gewählt, weil es umfallen könnte. Obwohl Magritte nur den paradoxalen Zustand gemalt zu haben scheint, der Aufklärung zur Aufgabe macht, zeigt das Cover das exakte Gegenbild zum im Buch entfalteten pädagogischen Programm. Die Pädagogen erkennen die Provokation in dieser Dialektik im Stillstand nicht mehr. Alles scheint ausbalanciert. Die Dynamik – oder Hegel? – hat Urlaub. Genau darum wird dem konzentrierten Betrachter das Bild jedoch bald unerträglich. Nichts wünscht er sehnlicher herbei, als dass das Glas doch endlich fiele.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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