H. Czech: Erfassung, Selektion und "Ausmerze"

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Titel
Erfassung, Selektion und "Ausmerze". Das Wiener Gesundheitsamt und die Umsetzung der nationalsozialistischen "Erbgesundheitspolitik" 1938 bis 1945


Autor(en)
Czech, Herwig
Reihe
Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 41
Erschienen
Anzahl Seiten
177 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Vossen, Institut für Geschichte der Medizin im Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften der Berliner Hochschulmedizin

Untersuchungen zur Geschichte städtischer Gesundheitsämter im Nationalsozialismus gehören zu den Desideraten der Forschung. Sie sind deswegen so wichtig, weil die städtischen Gesundheitsverwaltungen, wie auch die vorliegende Arbeit des im Wiener Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes tätigen Historikers Herwig Czech eindrucksvoll verdeutlicht, eine federführende Rolle bei der Umsetzung der Rassenpolitik des NS-Regimes spielten. Nach den Pionierforschungen zu Hamburg 1 und den Dissertationen von Julia Paulus über Leipzig 2 und von Asmus Nitschke zu Bremen 3 liegt nun mit Herwig Czechs Buch eine weitere Monografie zur Geschichte einer großstädtischen Gesundheitsverwaltung im Nationalsozialismus vor. Czech setzt damit eine Tradition des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes fort, von dem seit den 1980er-Jahren die nationalsozialistische Gesundheitspolitik im besetzten Österreich in ihren diversen Facetten kontinuierlich erforscht worden ist.4

Die Untersuchung beruht überwiegend auf Quellenbeständen des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und des Wiener Stadt- und Landesarchivs. Obwohl die Aktenüberlieferung empfindliche Lücken aufweist – der für Czechs Arbeit zentrale Quellenbestand der „Abteilung für Erb- und Rassenpflege“ des Wiener Hauptgesundheitsamts ist nicht erhalten geblieben – gelingt es dem Autor, aus den noch vorhandenen Quellenbeständen ein dichtes und kompaktes Bild des städtischen Gesundheitswesens in Wien zu rekonstruieren.

Die 1938 beginnende Umsetzung der NS-Gesundheitspolitik in der „Ostmark“ konnte, wie Czech herausarbeitet, auf den Erfahrungen aufbauen, die seit 1935 im „Altreich“ mit dem Aufbau eines NS-Gesundheitsdienstes durch die flächendeckende Einrichtung von Gesundheitsämtern auf der unteren Verwaltungsebene gemacht worden waren.5 Es erfolgte ein Transfer von Personal, Know how und normativen Grundlagen in Gestalt von Gesetzen und Verordnungen. Wie im „Altreich“ ab 1934 begann man auch in Wien zunächst mit Vorbereitungen zu einer „erbbiologischen Bestandsaufnahme“ der Bevölkerung, indem Aktenmaterial der unterschiedlichsten Herkunft aus Fürsorgestellen, Heil- und Pflegeanstalten, Krankenhäusern und Gerichten im Gesundheitsamt zusammengezogen und für eine „Zentralkartei der negativen Auslese für Gross-Wien“ (S. 45) ausgewertet wurde (S. 41-59). Dieser „Kataster des Volkskörpers“ war, wie Czech überzeugend herausarbeitet, unverzichtbare Voraussetzung für die Durchführung der NS-Erbgesundheitspolitik, denn durch ihn wurden durch die Behörden Menschen mit als vererbbar angesehenen Krankheiten bzw. andere als „belastend“ oder unerwünscht angesehene Bevölkerungsgruppen erfasst. Immer wieder setzt Czech dabei zur Erklärung der vom NS-System ausgehenden Pathologisierungstendenzen Foucaultsche Termini ein und vermag damit die Entwicklungen in Wien in den größeren Gesamtzusammenhang einer allgemeinen „Krankengeschichte der Moderne“ zu stellen.

Das Aufgabengebiet der Abteilung für „Erb- und Rassenpflege“ des Wiener Hauptgesundheitsamts, das Czech auf der Basis des erhaltenen Geschäftverteilungsplans im Hauptteil seiner vorzüglichen Arbeit beschreibt, umfasste neben der bereits erwähnten „erbbiologischen Bestandsaufnahme“ geburtenfördernde Maßnahmen in Gestalt von Säuglingsfürsorge sowie „Ehestandsdarlehen“ und Kinderbeihilfen (S. 61-72) ebenso wie Zwangssterilisationen und Eheverbote, mit denen staatlicherseits unerwünschte Geburten verhindert werden sollten (S. 73-79). Außerdem hat Czech den bislang weitgehend unerforschten Umgang des Wiener Gesundheitsamtes mit ausländischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern untersucht (S. 81-88) und den Zusammenhang von städtischer Jugendfürsorge und Rassenhygiene beleuchtet (S. 89-102). Zusätzlich wird außerdem die Beteiligung der Wiener Gesundheitsverwaltung an der Ermordung behinderter Kinder behandelt (S. 103-126), ein Themengebiet, zu dem der Verfasser schon seit längerem ausgewiesen ist. Abschließend geht Czech auf die Verfolgung der „Asozialen“ durch die Wiener Gemeindeverwaltung ein (S. 127-134).

Der besondere Wert von Czechs Buch liegt neben seiner intensiven Grundlagenforschung zur Geschichte des Wiener Gesundheitsamtes darin, dass er überzeugend die immense Spannbreite des Tätigkeitsfeldes städtischer Gesundheitsverwaltungen im Bereich der „Erb- und Rassenpflege“ beschreibt, die in den bisherigen Forschungen so nicht deutlich wurde. Czechs Arbeit zeigt, dass großstädtische Gesundheitsämter als eigener Typus mit bestimmten exklusiven Merkmalen zu begreifen sind, die sie von kleineren, ländlich oder kleinstädtisch gelegenen Gesundheitsämtern unterschieden. Den großstädtischen Gesundheitsämtern unterstanden zum Beispiel im Regelfall die städtischen Heil- und Pflegeanstalten und Krankenhäuser, wodurch sie automatisch in die „Verlegungen“ im Rahmen der nationalsozialistischen Krankenmordaktionen einbezogen wurden (was bei kleineren Gesundheitsämtern nicht der Fall war). Dieser besondere Typus „großstädtisches Gesundheitsamt“ sollte durch Fallstudien über weitere Großstädte näher untersucht werden. Man möchte daher wünschen, dass die sachkundig, genau, klar und engagiert geschriebene Arbeit von Herwig Czech eine Anregung für weitere Monografien über die Geschichte städtischer Gesundheitsämter im Nationalsozialismus darstellt.

Anmerkungen:
1 Ebbinghaus, Angelika; Kaupen-Haas, Heidrun; Roth, Karl-Heinz (Hgg.), Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik im Dritten Reich, Hamburg 1984; Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes (Hg.), Verachtet - verfolgt - vernichtet. Zu den "vergessenen" Opfern des NS-Regimes, Hamburg 1986.
2 Paulus, Julia, Kommunale Wohlfahrtspolitik in Leipzig. Autoritäres Krisenmanagement zwischen Selbstbehauptung und Vereinnahmung, Köln 1998.
3 Nitschke, Asmus, Die „Erbpolizei“ im Nationalsozialismus. Zur Alltagsgeschichte der Gesundheitsämter im Dritten Reich. Das Beispiel Bremen, Opladen 1999.
4 Vgl. u.a. Malina, Peter; Neugebauer, Wolfgang, NS-Gesundheitswesen und -Medizin, in: Tálos, Emmerich u.a. (Hgg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, S. 696-720; Gabriel, Eberhard; Neugebauer, Wolfgang (Hgg.), NS-Euthanasie in Wien, Wien 2000; Dies. (Hgg.), Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung. Zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien, Teil II, Wien 2002.
5 Vgl. dazu Vossen, Johannes, Gesundheitsämter im Nationalsozialismus. Offene Gesundheitsfürsorge und Rassenhygiene in Westfalen zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik 1900-1950, Essen 2001.

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