M. Sehlmeyer (Hg.): Origo Gentis Romanae

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Titel
Origo Gentis Romanae. Die Ursprünge des römischen Volkes


Herausgeber
Sehlmeyer, Markus
Reihe
Texte zur Forschung 82
Erschienen
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Dietrich, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Die von Markus Sehlmeyer besorgte Ausgabe der "Origo Gentis Romanae" (im Folgenden kurz als OGR bezeichnet) verfolgt den Zweck, eine beachtenswerte Quelle zur römischen Frühzeit in der Übersetzung einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen. Ausdrücklich hebt Sehlmeyer hervor, dass der von ihm angefügte Kommentar vorwiegend historisch orientiert ist und sich dadurch von anderen, eher quellenkritisch orientierten Ausgaben unterscheidet.

In der Einleitung gibt Sehlmeyer einen Überblick über die Überlieferungs- und Forschungsgeschichte der OGR. Gleichzeitig versucht er, die OGR als Brevarium mit historischem und antiquarischem Charakter in der antiken Literaturlandschaft zu verorten. Dabei werden Belegstellen genannt, die den Schluss zulassen, dass es sich bei der OGR um die Epitomierung eines Werkes aus augusteischer Zeit handelt (S. 14). Kurze Hinweise zu Text, Übersetzung und Kommentar beschließen die Einleitung. An Text und Übersetzung schließt sich Sehlmeyers historischer Kommentar an. Danach folgen sieben "Essays", in denen Sehlmeyer bestimmte Aspekte des Werkes näher beleuchtet: "1. Die augusteische Quelle des Werkes: Verrius Flaccus?"; "2. Archäologie und Geschichte vor den römischen Königen"; "3. Anthropologie in der OGR"; "4. Mythologie in der OGR"; "5. Religiöse Praxis in der OGR"; "6. Bildung in der Spätantike"; "7. Mutmaßungen über die Intention des Basistextes und der spätantiken OGR." Im Anhang finden sich ein Glossar der in der OGR zitierten republikanischen Autoren sowie ein Literaturverzeichnis. Den Abschluss des Bandes bilden das Nachwort und ein Register.

Nach einer kurzen Beschreibung des spätantiken, nicht-christlichen Charakters der OGR (S. 9f.) widmet sich Sehlmeyer der Frage, welcher Teil der OGR als der ursprüngliche zu betrachten ist. Die ersten sechs Kapitel des Werkes sind gekennzeichnet durch eine Fülle von Vergil-Zitaten, die im siebten Kapitel gänzlich versiegen. Im Einklang mit der communis opinio vertritt Sehlmeyer daher die Auffassung, dass es sich bei dem zweiten Teil der OGR (Kapitel 10-23) um den originären Part des Werkes handelt.1 Als terminus post quem für die Entstehung der Schrift gibt Sehlmeyer aufgrund sprachlicher Charakteristika die Mitte des 4. Jahrhunderts n.Chr. an und folgt damit Momigliano und Schmidt (S. 18) ebenso wie in der Fixierung des terminus ante quem um das Jahr 400.2

In der Wiedergabe des lateinischen Textes selbst finden sich tatsächlich nur sehr wenige Anmerkungen. Dafür geht Sehlmeyer im historischen Kommentar, wo er es für nötig erachtet, genauer auf textkritische Problemstellen ein. Es ist daher für "vertieft Interessierte", wie sie von Sehlmeyer bezeichnet werden (S. 28), unerlässlich, eine Ausgabe mit einem textkritischen Apparat hinzuzuziehen.3 Der Kommentar liefert alle notwendigen Informationen für das Textverständnis und bietet dem Leser ausreichend Gelegenheit, sich eine intensive Begegnung mit dem Text zu verschaffen.

Im ersten Essay zur augusteischen Quelle führt Sehlmeyer gewichtige Gründe für die Annahme an, der der OGR zugrunde liegende Text sei mit dem in augusteischer Zeit verfassten Werk des Verrius Flaccus zu identifizieren. Dabei hebt er, wie an vielen Stellen des Kommentars, besonders hervor, dass die OGR den Wissensstand der Zeit des Augustus widerspiegelt (S. 126). Insofern kommt dem Text auch im Hinblick auf die Erforschung des augusteischen Zeitalters einige Bedeutung zu. Das zweite Essay zu Archäologie und Geschichte behandelt in erster Linie die Frage nach der Historizität der in der OGR geschilderten Vorgänge. Insbesondere Carandini 4 hat in jüngster Zeit versucht, Ausgrabungsbefunde mit literarischen Quellen der römischen Frühzeit in Verbindung und Übereinstimmung zu bringen. Ungeachtet der vielen bedeutenden Neufunde in letzter Zeit wehrt sich Sehlmeyer jedoch vehement dagegen, die teilweise spektakulären Befunde als Beweis der Historizität der in der OGR geschilderten Ereignisse, insbesondere auch der Reihe der Könige, heranzuziehen.

Mit einer kulturanthropologischen Fragestellung befasst sich das dritte Essay ("Anthropologie in der OGR"). Die in der OGR kolportierten ethnografischen Vorstellungen folgen griechischen Denkmustern. In diesem Sinne wird die Entstehung der römischen Kultur als Folge des Kulturtransfers einzelner Gründergestalten erklärt; lediglich der Bericht über die Urkönige Latiums folge wohl römischen Vorstellungen. Eng mit dieser Thematik verknüpft ist der Gegenstand des vierten Essays zur Mythologie in OGR. Entgegen der althergebrachten Forschungsmeinung, in der römischen Religion hätten keine originären Mythen bestanden, sondern es seien nur griechische rezipiert worden, ist gerade die OGR ein Beispiel dafür, wie mehrere lokale Ursprungsmythen unter Einbeziehung griechischer Vorstellungen zusammengefasst wurden. Anhand des Beispiels der Lupercalia verdeutlicht das fünfte Essay, dass die in der OGR erwähnten religiösen Handlungen keineswegs die bronze- oder eisenzeitliche Praxis wiedergeben sollen, sondern vielmehr in augusteischer Zeit übliche Kulthandlungen beschreiben, die zur Abfassungszeit der Vorlage der OGR als bereits in der römischen Frühzeit etabliert angesehen wurden.

Das sechste Essay ("Bildung in der Spätantike") verortet die OGR im Kanon derjenigen Schriften, denen im spätantiken Grammatikunterricht eine wesentliche Rolle zukam. Sehlmeyer betont dabei, dass die spätantiken Kommentare insgesamt wohl eher als Handreichung für Lehrerkollegen denn als Pflichtlektüre für die Schüler zu verstehen seien (S. 155). In den Kontext der Ausarbeitung des statuarischen Programms des Augustusforums stellt das siebte Essay den Basistext der OGR ("Mutmaßungen über die Intention des Basistextes und der spätantiken OGR"). Im Hinblick auf eine Beschäftigung mit der römischen Frühgeschichte, die einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurde, ist die OGR durchaus in Zusammenhang mit der in theodosianischer Zeit zu beobachtenden Wiederbeschäftigung mit klassischer Bildung zu sehen.

Der vorliegende Band bietet dem interessierten Leser einen fundierten Einstieg in eine bemerkenswerte antike Quelle. Dem Text lassen sich dabei nicht nur Erkenntnisse für die Entstehungszeit der OGR selbst, sondern ebenso für die augusteische Zeit entnehmen. Anhand der Essays bietet sich dem Leser die Möglichkeit, sich schnell über die OGR betreffende aktuelle Forschungsfragen zu informieren. Somit hält der Benutzer mit dem Band ein Werk in Händen, das ihm einen adäquaten und facettenreichen Zugang zu dieser antiken Quelle gewährt.

Anmerkungen:
1 Vgl. dagegen etwa Wifstrand Schiebe, Marianne, Vergil und die Tradition von den römischen Urkönigen, Stuttgart 1997.
2 Momigliano, Arnoldo, Some Observations on the "OGR", Journal of Roman Studies 48 (1958), S. 56-73, hier S. 59-63; Herzog, Reinhart; Schmidt, Peter L. (Hgg.), Restauration und Erneuerung (Handbuch der lateinischen Literatur der Antike 5), München 1989, hier § 532.1, S. 186.
3 Vgl. etwa Pichlmayr, Franz; Gründel, Roland (Hgg.), S. Aurelii Victoris Liber de Caesaribus, praecedunt OGR et DVI, subsequitur Epitome de Caesaribus, Leipzig 1970; Richard, Jean-Claude (Hg.), Pseudo-Aurélius Victor, Les origines du peuple Romain, Paris 1983; D'Anna, Giovanni (Hg.), Anonimo, Origine del popolo Romano, Roma 1997.
4 Carandini, Andrea, Die Geburt Roms, Düsseldorf 2002 (Übersetzung der italienischen Originalausgabe: La nascità di Roma, Torino 1997).

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