A. Neuwöhner, Den Kampf um die Freiheit verloren?

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Titel
Den Kampf um die Freiheit verloren?. Verwaltung und Finanzen der Stadt Paderborn im Spannungsfeld von städtischer Autonomie und frühmodernem Staat


Autor(en)
Neuwöhner, Andreas
Reihe
Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 48
Erschienen
Anzahl Seiten
311 S.
Preis
€ 35,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicolas Rügge, Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück

Schon das Titelbild des ansprechend gestalteten Bandes führt perfekt in das Thema ein: Ein Kupferstich zeigt den Paderborner Bürgermeister Wichart, wie er einem bischöflichen Bevollmächtigten die Kapitulationsurkunde der Stadt aus der Hand reißt – im Hintergrund Bajonette, Soldaten und Bürger im Straßenkampf. Der städtische Anspruch auf weitgehende politische und konfessionelle Autonomie endete 1604 mit der Unterwerfung Paderborns durch den Bischof Dietrich von Fürstenberg; Bürgermeister Wichart wurde hingerichtet und seine Überreste zur Mahnung an den fünf Stadttoren aufgehängt, das Regiment institutionell und personell im Sinne des Landesherrn neu formiert. Hinterlegt ist die Szene mit dem Auszug aus einer Stadtrechnung: Wie spiegeln sich die Folgen des dramatischen Machtkampfs in den städtischen Einnahmen und Ausgaben des 17. Jahrhunderts? So lautet eine zentrale Frage der Arbeit, die 2002 an der Universität Paderborn als Dissertation eingereicht wurde.

Über den engeren Bereich des Finanzwesens hinaus richtet sich der Blick auf die städtische Verwaltung insgesamt: auf die Aushandlung des normativen Rahmens, der sich in mehreren Stadtordnungen manifestierte, und auf die tatsächliche Ausübung des Stadtregiments unter den neuen Bedingungen. Indem der Autor die „Integration der Hauptstadt des Hochstifts Paderborn in den geistlichen Staat“ erkundet, will er „einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis des sich verändernden Verhältnisses zwischen dem frühmodernen Staat und den intermediären Gewalten“ leisten (S. 9). Damit schließt sich die Untersuchung der jüngeren Forschungstendenz an, über die Zäsur des Dreißigjährigen Krieges hinweg die Rolle der Städte und ihrer Bürger bei der Staatsbildung höher zu veranschlagen, als es die einseitig auf die Modernisierungswirkung des Fürstenstaates fixierte ältere Lehrmeinung tat. Möglichst abseits der Begriffswelt des 19. Jahrhunderts (Stadtfreiheit, Selbstverwaltung) wird die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der frühneuzeitlichen Landstädte zunehmend differenziert betrachtet, werden Triebkräfte und Auswirkungen der Entwicklung sowohl in institutioneller als auch sozialer Hinsicht präziser ermittelt. An der Veränderung der Rahmenbedingungen wirkten mitunter stadtbürgerliche Interessengruppen selbst mit, und die neue Ordnung musste weder eine Schwächung des Ratsregiments bedeuten, noch wirkte sie sich auf alle sozialen Gruppen in gleicher Weise aus. Da die erheblichen territorialen Unterschiede innerhalb des Alten Reiches eine größere Zahl von Einzelstudien erfordern, um zu einem halbwegs flächendeckenden Bild zu gelangen, ist der vorliegenden Arbeit einige Aufmerksamkeit gewiss.

Zunächst widmet sich der Autor dem intensiven Kampf um die politische Verfasstheit, der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht weniger als vier Stadtordnungen hervorbrachte. Der aufsehenerregende Oktroi Bischof Dietrichs von 1604 unterstellte die Stadt der direkten Aufsicht und Anordnungsgewalt zweier bischöflicher Amtsträger (Amtmann und Schultheiß). Kompetenzstreitigkeiten mit dem weiter bestehenden, zeitweise sogar wieder von protestantischen Bürgermeistern angeführten Rat ließen diese Lösung aber nur für eine Übergangszeit ratsam erscheinen. 1618 urkundeten für die Stadt letztmals „Schultheiß, Bürgermeister und Rat“. Im folgenden Jahr erhielt Paderborn einen wesentlichen Teil der vor der Revolte innegehabten Privilegien und Zuständigkeiten zurück, was dem Fürstbischof durch die Tatsache erleichtert wurde, dass das städtische Regiment inzwischen in die Hand einer katholischen Juristenelite mit Verbindungen zur fürstlichen Beamtenschaft gelangt war. Zu einer ruhigen Fortentwicklung kam es jedoch vorerst nicht, da die Besetzung der Stadt durch Christian von Braunschweig 1622 einen kurzfristigen Umschwung zugunsten der Protestanten herbeiführte. Dessen stärkstes Symbol stellte die Bestattung des immer noch auf die Stadttore verteilten Bürgermeisters Wichart dar – eine offensichtliche Provokation des Landesherrn, die dieser später mit hohen Geldstrafen ahndete. Denn kaum hatten Christians Truppen die Stadt verlassen, schränkte der Fürstbischof die Befugnisse der städtischen Gremien wieder ein und kehrte sogar zum Instrument des Schultheißen zurück, dessen Funktion aber faktisch von der Regierungskanzlei wahrgenommen wurde. Bei der nächsten Besetzung 1631, diesmal durch hessische Truppen, erwies sich die städtische Obrigkeit als politisch und konfessionell so standhaft im bischöflichen Sinn, dass die letzte Stadtordnung von 1642 schließlich wieder die Gewährung der Privilegien herbeiführte. Am Ende des heftigen Zick-Zack-Kurses hatte Paderborn damit den zeittypischen Zustand einer „staatlich kontrollierten und überformten Ratsherrschaft“ erreicht (S. 80; dieser Ausdruck gefiel dem Rezensenten besonders, hat er ihn doch selbst formuliert).

Wie die anschließende nähere Betrachtung der Institutionen und Ämter des Stadtregiments zeigt, verfügten Bürgermeister, Rat und Gemeinheit in der alltäglichen Verwaltung über wesentliche Handlungsspielräume, und zwar nicht zuletzt auf dem wichtigen Gebiet des städtischen Finanzwesens, das durch die Kriegsbelastungen noch eine zusätzliche, bislang ungeahnte Bedeutung erfuhr. Für dessen Verwaltung wurden auch neue, vergleichsweise professionell ausgeübte Ämter geschaffen, die der städtischen Aufsicht unterstanden. Diesem komplizierten Bereich ist der dritte, bei weitem umfangreichste Hauptteil der Arbeit gewidmet. Durch minutiöse und scharfsinnige Analysen kann der Autor – soweit es die Quellen hergeben – Entwicklungen belegen, die sonst oft eher geahnt als analysiert und mit entsprechend pauschalen Bemerkungen abgetan werden. Dabei kommt ihm der Aufbau der älteren Quellen gewissermaßen entgegen: Schon um 1600, kurz vor Beginn des Untersuchungszeitraums, waren mehrere getrennte Kassen zu einer einzigen, offenbar allein vom Kämmerer geführten Jahresrechnung zusammengefasst worden. Für das letzte Drittel des 17. Jahrhunderts erschwert hingegen eine nach Stadtvierteln zweigeteilte Rechnungsführung die Rekonstruktion des Gesamthaushalts. Erst in dieser Zeit wurde übrigens die schon 1604 dekretierte Kontrolle der Stadtrechnungen durch landesherrliche Instanzen kontinuierlich durchgesetzt.

Differenziert nach den verschiedenen Einnahme- und Ausgabeposten folgt eine Untersuchung der Etats, die erheblichen Schwankungen unterlagen. Beispielsweise gingen die Einnahmen aus städtischem Grundbesitz kriegsbedingt zeitweise dramatisch zurück. Das Aufkommen der Hauszinsen brach regelrecht ein, erreichte aber immerhin 1665 wieder das Vorkriegsniveau, während sich die einst bedeutende Weinakzise später erholte, zum Jahrhundertende hin aber Spitzenwerte erreichte. Nicht nur für den Landesherrn, auch für die Stadt entwickelten sich die direkten Steuern in Form von Schatzungen zur zentralen Einnahmequelle. Auf diese Weise konnte der Haushalt zwar längerfristig konsolidiert, die in den Notjahren des Krieges aufgehäuften Schulden allerdings nicht effektiv abgetragen werden. Nicht weniger genau wird anschließend einzelnen Ausgabepositionen nachgegangen: den insgesamt steigenden Besoldungen der anwachsenden Dienerschaft, den Aufwendungen für Zusammenkünfte und Repräsentation und nicht zuletzt der Spiegelung der Kriegsereignisse in den Stadtrechnungen. Unter den Ausgaben für Infrastruktur und Bauten ragt der bekannte Neubau des Rathauses 1613/20 heraus, das der Fürstbischof zumindest „gebessert“ sehen wollte (mögliche politische Implikationen werden an dieser Stelle nicht erörtert). Die Zahlungen an den Landesherrn stiegen bis gegen Ende des Jahrhunderts auf nahezu die Hälfte der Gesamtausgaben: Die „zunehmende Integration der Stadt in das Hochstift Paderborn“, von der Stadtregierung schließlich akzeptiert, beließ dieser zwar erhebliche Handlungsspielräume, wurde aber mit einer bedeutenden Abschöpfung von Ressourcen durch den Fürstbischof erkauft (S. 256-260).

Dem Autor ist eine in Argumentationsgang und Ergebnissen überzeugende Studie gelungen. Sie dürfte nicht nur den kürzlich von seinem Doktorvater Frank Göttmann herausgegebenen Frühneuzeitband der neuen Paderborner Stadtgeschichte ergänzen und teilweise modifizieren, sondern insbesondere in ihrem finanzgeschichtlichen Teil auch überregional wahrgenommen werden. Was die politische Ebene und das Verhältnis von Stadt und Landesherrn angeht, hätten die Resultate noch fundierter ausfallen können, wenn die stadtgeschichtliche Literatur über die Paderborner hinaus weniger selektiv mit Blick auf das Finanzwesen berücksichtigt worden wäre: Einschlägige, auch terminologisch weiterführende Untersuchungen werden nicht rezipiert (etwa Luise Schorn-Schüttes Studie über Göttingen und die Bischofsstadt Osnabrück; von den zahlreichen Veröffentlichungen Heinz Schillings ist nur der erste Siedler-Band knapp berücksichtigt), und so bleibt denn auch die für die Vormoderne problematische Terminologie der „Selbstverwaltung“ undiskutiert stehen. Schließlich trübt die etwas flüchtig ausgefallene Endkorrektur die Lesefreude an dem ansonsten klar und eingängig formulierten, mit Tabellenanhang, Personen- und Ortsregister versehenen Band.

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