M. Bernold u.a. (Hgg.): Auto/Biografie und Frauenfrage

Titel
Auto/Biografie und Frauenfrage. Tagebücher, Briefwechsel, Politische Schriften von Mathilde Hanzel-Hübner (1884-1970)


Herausgeber
Bernold, Monika; Gehmacher, Johanna
Reihe
L'Homme Archiv 1
Erschienen
Anzahl Seiten
272 S. mit 1 CD-ROM
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gudrun Wedel, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

„Am Anfang war das Archiv.“ Mit diesem Einleitungssatz machen Monika Bernold und Johanna Gehmacher auf eine Quellenedition neugierig, die für die Frauen- und Geschlechtergeschichte, die Autobiografie- und Biografieforschung, die Editionswissenschaft und die Geschichtswissenschaft von ganz besonderem Interesse ist. Hervorgegangen ist die Publikation aus der Arbeit am umfangreichen Nachlass von Mathilde Hanzel-Hübner, den die Nachkommen seit 1989 in mehreren Lieferungen an das Institut für Geschichte der Universität Wien übergeben haben. Dort wurden die unterschiedlichen Materialien verzeichnet, aufbereitet und zum Teil transkribiert. Die wissenschaftliche Bedeutung dieses Nachlasses gab den Anstoß, die „Sammlung Frauennachlässe“ 1 zu gründen, die bis zum Jahr 2003 auf 60 Nachlässe angewachsen ist. Nun eröffnet diese Publikation die Reihe „L’Homme Archiv. Quellen zur Feministischen Geschichtswissenschaft“ im Böhlau Verlag Wien. Angesichts dieser vielversprechenden Anfänge weckt der vorliegende Band hohe Erwartungen, die - um es vorweg zu sagen - erfüllt werden.

Die einzelnen Kapitel des Buches sind unterschiedlich konzipiert. Das erleichtert das Springen im Text, erfordert aber auch ziemliche Konzentration. Hilfreich sind dabei die klar formulierten Kommentare, die bei dem hohen Differenzierungsgrad der Reflexionen und dem multiperspektivischen Ansatz flüssiges Lesen erlauben. Die Einleitung führt in Arbeitsweise und Konzeption ein und erläutert die Editionsprinzipien.

Das erste Kapitel gibt einen biografisch-narrativen Überblick über Mathilde Hanzel-Hübners Bildungsweg, wobei die ausgewählten Quellen den Zusammenhang von Bildung, Geschlecht und Biografie deutlich machen. Leitthema sind das frühe Wissenwollen von Mathilde Hanzel-Hübner und die Förderungen und Behinderungen, die sie dabei erfuhr. Ihre Herkunft aus dem mittellosen Bildungsbürgertum - die Mutter war ausgebildete Privatlehrerin in Französisch und Englisch und arbeitete als Gouvernante, der Vater war Gymnasiallehrer - machte eigenständige Erwerbsarbeit notwendig. Die Ausbildung zur Lehrerin lag nahe; später legte sie das Abitur ab und entwickelte selbst ein bildungspolitisches Programm; als Pionierin kämpfte sie um die Zulassung zum Studium an der Technischen Hochschule in Wien, die sie als erste Frau erreichte. Mathilde Hanzel-Hübner heiratete 1910 ihren Privatlehrer Ottokar Hanzel, der sie auf das Abitur vorbereitet hatte, und der später Gymnasiallehrer war.

Im zweiten Kapitel geht es um die Dimensionen „auto/biographischen Schreibens“. Im Zentrum stehen drei Texte, in denen Mathilde Hanzel-Hübner ihr Leben zu unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen Anlässen beschreibt. Der erste Text ist eine Lebensübersicht aus dem Jahr 1953, die 16 Jahrgangskolleginnen als Beitrag zu einer Jubiläumsschrift anlässlich des 50-Jahre-Matura-Jubliäums verfasst haben. Bei dem zweiten Text handelt es sich um ein „Curriculum Vitae“ von 1934, ein „Behördendokument“, das institutionelle Fakten und Daten der Berufsbiografie aufzeichnet. Mathilde Hanzel-Hübner hat es als Bürgerschuldirektorin für den Wiener Stadtschulrat verfasst, als sie um die Zuerkennung des Titels „Schulrat“ ansuchte. Der dritte Text ist eine Biografie für den Sammelband „Der Ruf der Mütter“, der 1949 erschien und von der Pazifistin Barbara Nordhaus-Lüdecke herausgegeben wurde.

Wie die Vorbereitung auf ein anderes Medium wirken auf den folgenden Seiten die Fotografien, die dort allerdings nicht näher kommentiert werden. Das dritte Kapitel erläutert das umfangreiche Material aus dem Zeitraum von 1899 bis 1918, das auf 275 Manuskriptseiten auf einer CD-ROM dem Buch beigegeben ist: Es enthält die Edition der Tagebücher, ein mit dem Ehemann geführtes Brieftagebuch, Briefe, politische Schriften und politische Korrespondenzen Mathilde Hanzel-Hübners sowie Behördendokumente über ihren schulischen und beruflichen Werdegang. Es gibt jedoch nur wenige Dokumente über die Zeit ihrer Tätigkeit im Allgemeinen Österreichischen Frauenverein, in dem sie Schriftführerin, dann Vizepräsidentin war. Die Texte auf der CD-ROM sind im PDF-Format dargestellt. Eine Version von Acrobat Reader zum Lesen der Dokumente ist der CD-ROM beigegeben und kann, falls nötig, installiert werden. Die Navigation ist benutzerfreundlich, Quellentexte und Kommentare sind zur besseren Orientierung farblich voneinander abgesetzt. Wünschenswert für ein leichteres Lesen wäre es allerdings gewesen, das Textbild nicht im Format einer Buchseite wiederzugeben, sondern dynamisch an die Bildschirmgröße anzupassen.

Das im Buch folgende vierte Kapitel konzentriert sich als exemplarische „Nahaufnahme“ auf die Jahre 1907 und 1908, in denen eine Transformationsphase in Mathilde Hanzel-Hübners Leben sichtbar wird. Sie wird nicht nur als biografische Krise thematisiert, sondern lässt sich auch als Veränderung der Schreibpraxis nachweisen, nämlich als eine Verschiebung vom Tagebuchschreiben hin zu Eintragungen über politische Themen in ein Konzeptheft.

Das fünfte Kapitel stellt Mathilde Hanzel-Hübners Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus in den Vordergrund, vor allem anhand von Tagebuchaufzeichnungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Briefwechsel mit ihrer in Dänemark lebenden Tochter Ruthilt Lemche. Die dabei zutage tretenden nationalistischen und rassistischen Äußerungen machen Widersprüche in der Person von Mathilde Hanzel-Hübner sichtbar.

Im sechsten und letzten Kapitel werden hauptsächlich Dokumente über Mathilde Hanzel-Hübners öffentliche politische Stellungnahmen zur Berufstätigkeit von Frauen vorgestellt sowie Texte, die ihr friedenspolitisches Engagement und ihre bildungspolitischen Interventionen zeigen. Der Anhang bietet Informationen zur schnellen Orientierung: ausgewählte biografische Daten zu Mathilde Hanzel-Hübner in tabellarischer Form, kurze biografische Daten zu Familienangehörigen, Freundinnen und Kolleginnen und zu Personen aus dem beruflichen und politischen Umfeld, ein Verzeichnis der ganz oder teilweise wiedergegebenen Dokumente, eine Aufstellung der in verschiedenen Archiven durchgesehenen Bestände, eine Tabelle der Editionszeichen sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis.

Monika Bernold und Johanna Gehmacher bieten zu den edierten Texten nicht nur weiterführende Kommentierungen, sondern beziehen die „spezifische Aufschichtung“ (S. 14) dieses Nachlasses in ihre Reflexionen mit ein. So benennen sie die unterschiedlichen Interessen, die ihn in seiner gegenwärtigen Form konstituiert haben: Das ist zum einen Mathilde Hanzel-Hübners ausgeprägtes Interesse an ihrer Selbst-Dokumentation, zum andern die Bereitschaft der beiden Töchter und von Enkeln, die große Menge an schriftlichem Material aufzubewahren und zugänglich zu machen, schließlich im Kontext der Frauen- und Geschlechtergeschichte das dokumentarische Interesse an einer Frau „aus der zweiten Reihe“. Davon ausgehend formulieren Monika Bernold und Johanna Gehmacher ihre Fragen, die auf zwei Themenfelder konzentriert sind: „die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Frauenbewegung und ihren sozialen und politischen Forderungen und die biographietheoretische Frage der Selbstthematisierung“ (S. 14). Recherchen in anderen Archiven in Wien und in Moskau förderten aufschlussreiche Ergänzungen zu Tage. Ergebnis ist ein komplexes Werk, das sich einer einfachen Zuordnung entzieht. Monika Bernold und Johanna Gehmacher sind sich bewusst, dass Buch und CD-ROM nicht die gängigen Erwartungen eines chronologisch erzählten Lebens erfüllen: „Das Ergebnis unserer Arbeit ist weder eine Biographie, noch eine bloße Edition, sondern sucht als kommentierte biographische Edition die Vielstimmigkeiten und Uneindeutigkeiten biographischer Thematisierung sichtbar zu machen und zu bearbeiten.“ (S. 28) Das erreichen sie durch unterschiedliche Perspektiven und Kommentierungen: Längere Texte diskutieren ausgewählte biografische, biografietheoretische und historische Fragestellungen; Kurzkommentare kontextualisieren konkrete Dokumente. Hervorzuheben ist die offene Art, in der Monika Bernold und Johanna Gehmacher immer wieder ihre methodischen Überlegungen und ihre praktische Arbeitsweise zur Sprache bringen, was das Lesen besonders anregend macht.

Die Publikation überzeugt durch die gelungene Auswahl der Dokumente und die thematische Schwerpunktbildung, durch anregende Kommentierungen und Kontextualisierungen, klare Editionsprinzipien und transparente Methoden und ihre Darstellung. Die Entscheidung für eine Frau aus der „zweiten Reihe“ liefert nicht nur der Diskussion über Kanonisierungsprozesse wichtige Anstöße, sondern auch der vor allem in der Literaturwissenschaft geführten Diskussion, wie Quellen in großer Zahl zeitgemäß und technisch benutzerfreundlich zugänglich gemacht werden können. Wenn man das gelungene Ergebnis der Zusammenarbeit von Monika Bernold und Johanna Gehmacher betrachtet, dann ist Edith Saurer zuzustimmen, dass die Forschung mehr denn je davon braucht.

Anmerkung:
1 Sammlungsgut sind Quellen wie Briefe, Tagebücher, Fotografien und Rechnungsbücher, nicht aber Autobiografien, die von der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien aufbewahrt werden.

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