J. Czaplicka u.a. (Hgg.): Composing urban history

Cover
Titel
Composing Urban History and the Constitution of Civic Identities.


Herausgeber
Czaplicka, John J.; Ruble, Blair A.; Crabtree, Lauren
Erschienen
Anzahl Seiten
430 S.
Preis
$59.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Hackmann, Historisches Institut, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

„Stadt ohne Namen“ ist die Grafik eines Kaliningrader Architekten aus den 1990er-Jahren betitelt. Sie zeigt eine Ödfläche, an deren Rand Fabrikschornsteine und ein sozialistischer Wohnblock aufragen, und meint – wie Wappen und Jahreszahlen zeigen – das frühere Königsberg. Diese Grafik könnte das von John Czaplicka und Blair Ruble herausgegebene Buch illustrieren, das dem Zusammenhang von Stadtgeschichte, städtischen Identitäten und der Ablösung autoritärer Regime nachgeht. Im Zentrum steht dabei das wiedererwachte Interesse an städtischer Geschichte, das sich aus der Spannung zwischen dem Wunsch nach kultureller und sozialer Komplexität einerseits und einer Gemeinschaft ohne Spannungen andererseits (Spiro Kostof) speist. Die Herausgeber kleiden diesen Sachverhalt in eine primär politologisch-soziologische Fragestellung, ob sich in den Städten Kohäsionskräfte einer gemeinsamen öffentlichen „bürgerlichen“ 1 Identität als Grundlage demokratischer Strukturen erkennen lassen, von denen in autoritären Systemen Anstöße zum politischen Wandel ausgehen. Wer hier einen erneuten Aufguss von Themen und Theorien der Transformationsforschung vermutet, wird jedoch von den fallorientierten kulturwissenschaftlichen Beiträgen rasch eines Besseren belehrt.

Der vorliegende Band ist Resultat eines kulturwissenschaftlicher Zugriffs mit vielen Facetten, oder umgekehrt: Es handelt sich um verschiedene kulturwissenschaftliche Ansätze, die die Herausgeber sorgfältig durch Einleitung, Schlussbetrachtung und Einführungen zu den Unterabschnitten zusammengebunden haben. Von den insgesamt 13 Beiträgen befassen sich drei mit Washington, D.C., die übrigen gelten vor allem ost- und mitteleuropäischen Städten – St. Petersburg, Riga, Kaliningrad, (Ost-)Berlin, Prag und Wien – sowie Barcelona. Das formale Bindeglied ist die (post-)autoritäre Entwicklung der Städte; diese Begründung mag man für die Einbeziehung Washingtons anzweifeln, vor dem Hintergrund der Frage nach geteilter Geschichte und gemeinsamer städtischer Identität ist sie dennoch sinnvoll und anregend.

In seiner Einleitung reißt Blair Ruble die zentralen Aspekte von Stadtgeschichte in den gesellschaftlichen Umwälzungen am Ausgang des 20. Jahrhunderts an: So hat sich Lokalgeschichte vielfach als Mobilisierungsfaktor gegen autoritäre Entscheidungen und als Kontrapunkt zu simplifizierenden Geschichtskonstruktionen erwiesen, die auf einem wie auch immer begründeten „kto kogo“ („wer wen“) beruhen. Dennoch lassen sich in der Stadtgeschichtsschreibung ebenso zahlreiche Tendenzen zum Ausblenden der Nachbarn und zur Entwicklung paralleler und geteilter (divided) Geschichtsdeutungen erkennen. Dagegen setzt Ruble die Frage, ob es neben solchen umstrittenen Geschichtsbildern auch Ansätze zu einer gemeinsamen (shared) Sicht von Stadtgeschichte gebe. Ein Indiz könnte das in den letzten Jahren deutlich gewachsene Interesse an multiethnischer Geschichte sein, allerdings tritt dieses im östlichen Mitteleuropa vielfach in heute monoethnischen Städten auf, so dass sich die Frage stellt, ob der Fokus auf städtische Kulturen nicht mit dem Ausblenden historischer ethnischer oder sozialer Konflikte einhergeht. Eindeutige Antworten, das zeigt auch der vorliegende Band, wird man auf diese Fragen kaum geben können, sie sind in hohem Maße vom Standpunkt des Betrachters bedingt. Der vorliegende Band verharrt aber nicht bei der Präsentation von historischen Narrativen oder Perspektiven, sondern geht vor allem den Wirkungen von konkreten Stadträumen und -objekten nach. Es gebe eine Reziprozität zwischen städtischer Identität und materiellem Charakter des städtischen Raumes, schreibt John Czaplicka in seiner Schlussbetrachtung.

Der erste Beitrag des Buches ist Washington, D.C., gewidmet. Darin kann John Vlach zeigen, dass der Rückgriff auf städtische Geschichte mitnichten automatisch zur Stabilisierung von kollektiver Identität beiträgt; so stieß eine Ausstellung in der Library of Congress, die hinter die Marmorfassaden der Hauptstadt Washington blicken wollte, zunächst auf den Protest afroamerikanischer Angestellter, die die dort gezeigten Wohnverhältnisse nicht als kulturgeschichtliches Phänomen, sondern als Ausdruck überwunden geglaubter sozialer Gegensätze wahrnahmen. Mit einer überarbeiteten Ausstellung in der städtischen Bibliothek, ließ sich jedoch bei den afroamerikanischen Besuchern ein „Hunger nach Erinnerung“ an die lokale Geschichte jenseits der Hauptstadtfunktion Washingtons konstatieren.

Mit der „Archäologie des Lokalen“ befassen sich die Beiträge von Olga Sezneva zu Königsberg/Kaliningrad und Ilya Utekhin 2 zu Leningrad/St. Petersburg. Als Kontrapunkt zur sowjetischen Perspektive auf die Geschichte Kaliningrads, die die Relikte des Stadtraums vor 1945 nahezu vollständig ausblendete, skizziert Sezneva eine alternative Stadtgeschichte, die etwa Kopfsteinpflaster, Ziegeldächer und unverputzte Backsteinwände zu ihrem Ausgangspunkt nehmen kann, weil diese bereits durch die Tatsache ihrer Existenz ein ideologisches Problem sowjetischer Herrschaft darstellten. Dabei spielt der Rückgriff auf die deutsche Historiografie nur eine nachrangige Rolle, wie Sezneva – offensichtlich unabsichtlich – an ihren verkürzten lokalhistorischen Ausführungen zeigt. Es ist eher eine diffuse Wahrnehmung in die vorsowjetische Zeit zurückreichender Geschichtsfragmente, die für das Selbstverständnis der Kaliningrader prägend sind. In seinem beeindruckenden Einblick in die Kultur der Leningrader „komunalki“ (Gemeinschaftswohnungen) kann Utekhin zeigen, dass den mündlichen Geschichten über die Wohnung eine wichtige Orientierungsfunktion für Bewohner und Besucher zukommt. Die Geschichte der Wohnung beschränkt sich keineswegs nur auf die ihrer Nutzung als Komunalka, sondern bezieht auch die mittlerweile bereits vor mehreren Generationen vergangene ursprüngliche Nutzung ein, die sich an materiellen Relikten, wie Resten von Dekoration oder Türrahmen festmacht. Trotz der zahlreichen sozialen Konflikten, die mit dieser Wohnform verbunden sind, schreibt Utekhin solchen historischen Fundierungen einen zentralen Anteil an der Ausbildung einer spezifischen Leningrader Identität zu.

Im zweiten Abschnitt des Buches, der der Instrumentalität historischer Bilder gewidmet ist, verdient die Analyse der Straßenumbenennungen in L’viv/Lemberg von Yaroslav Hrytsak und Victor Susak hervorgehoben zu werden. Sie lässt nicht nur Umfang und Grenzen der polnischen Nationalisierung der Straßennamen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert erkennen, sondern zeigt auch plastisch die Aporien des sowjetischen Geschichtsbildes auf. So wurden Straßenbenennungen nach ukrainischen Personen nur in engen ideologischen Abgrenzungen zugelassen, in deren Mittelpunkt Ivan Franko als sozialistischer Schriftsteller rückte, während nun jüdische Straßennamen völlig verschwanden. Von 1990 bis 1997 gab es in Lemberg eine Expertengruppe, die die Umbenennungen nach dem Ende der sowjetischen Epoche durch Regeln steuern sollte. An signifikanten Stellen des öffentlichen Raumes wurden diese Regeln jedoch durchbrochen, so dass auch bei der Rückkehr zu historischen Straßennamen eine Zunahme ukrainischer Namen festzustellen ist.

Historische Konflikte um den öffentlichen Raum in Prag zu Beginn des 20. Jahrhunderts beleuchtet Cynthia Paces am Beispiel der Errichtung des Hus-Denkmals 1915 und der 1918 gestürzten Mariensäule auf dem Prager Altstädter Ring. Den Sturz der Säule interpretiert sie als weniger als Folge nationaler oder konfessioneller Konflikte, sondern als Ausdruck einer instabilen Identität der tschechischen Bevölkerung Prags, die die Parallelen in der Symbolik beider Denkmäler nicht wahrgenommen hat. In ähnlicher Weise ließen sich auch zahlreiche weitere Denkmalkonflikte im östlichen Europa betrachten.

Der dritte Teil des Buches behandelt unter dem Titel „historische Alterität“ ausgeblendete oder überlagerte Aspekte städtischer Geschichte. Interessant ist hier insbesondere der Beitrag von Brian Ladd über den Zusammenhang von städtebaulichem Zerfall und dem Ende der DDR. Anders als etwa in der Bundesrepublik trugen die Debatten über Denkmalpflege und Altstadterhaltung in der DDR zu einem Erosionsprozess staatlicher Macht bei. Zwar wurde der Denkmalschutz offiziell propagiert, er wurde jedoch dort problematisch, wo er zu einem Kristallisationspunkt demokratischer Partizipationsforderungen von Bewohnern und Anwohnern wurde. Die Diskussion um die Sprengung der Gasometer im Prenzlauer Berg 1984 löste eine Entwicklung aus, die zu vielfachen Bemühungen um die Sanierung von Altbauwohnungen in- und außerhalb Ost-Berlins führte. Wenn der Abriss von Baudenkmalen über Nacht geschah, dann konnte die Dokumentation der zerstörten Bauten bereits einen Protest gegen die Politik der Partei- und Staatsführung darstellen.

In einem weiteren Beitrag zu Wien befasst sich Siegfried Mattl kenntnisreich mit der Zuspitzung Wiener Geschichte im 20. Jahrhundert auf das offiziell propagierte Narrativ der Kulturstadt. Er lokalisiert dessen Ursprünge bereits in der ausgehenden Habsburgerzeit und erklärt seine sozialdemokratische Fortschreibung nach dem Ersten Weltkrieg aus dem politischen Interesse, den Zusammenhang mit Deutschland hervorzuheben. Mattls Plädoyer in seinem stellenweise unübersichtlichen Beitrag, in dem manche Fußnote sich verirrt hat, für eine stadtbürgerliche Geschichtsschreibung ist wohl vor dem Hintergrund des Erfolges gerade dieses Kulturparadigmas zu sehen.

Der verschiedenartigen Transformationen gewidmete vierte Teil befasst sich explizit mit post-autoritären Entwicklungen, die am Beispiel Barcelonas und Rigas das von Mattl kritisierte Kulturparadigma unterstreichen. Für Pep Subirós ist Kulturpolitik die Antwort auf die zentrale Frage, wie eine gemeinsame städtische Identität mit urbaner Diversität einhergeht. Die ausführliche Darstellung von Ojars Sparitis zur Umgestaltung des Rathausplatzes in Riga kann zeigen, dass die Rekonstruktion des Platzes einschließlich seiner beiden zerstörten architektonischen Dominanten, des Schwarzhäupterhauses und des Rathauses, nicht erst ein Projekt der Jahre seit 1991 war, sondern mit Plänen für die Wiederherstellung des Schwarzhäupterhauses bereits unmittelbar nach der endgültigen Zerstörung 1948 begann. Während der Realisierung dieses Vorhabens in den 1990er-Jahren kam es freilich zu einer folgenschweren Umdeutung. Von ursprünglich national konnotierten Plänen, die sich gegen die sowjetische Überformung der Altstadt richteten, wandelte sich das Projekt zu einem Ausweis einer multiethnischen, von europäischen Kulturströmen geprägten Großstadt.

John Czaplicka geht in seinen abschließenden Betrachtungen anhand von Beobachtungen aus Danzig, Lemberg, Wilna und Riga auf die Rolle historischer Stadttopografien ein. Von Objekten universaler politischer Strategien sind diese historischen Topografien vielfach zu Ausgangspunkten städtischer Retroversionen geworden, die sich dem lokalen Erbe verpflichtet fühlen. Dass derartige Stadtgeschichten in undemokratischen Strukturen eine subversive Wirkung entfalten konnten, zeigt der vorliegende Band, ohne in multikulturelle Verklärungen oder Kassandrarufe vor neuen Nationalismen zu verfallen. Czaplicka weist aber zu Recht darauf hin, dass solche Rückgriffe auf die historischen Topografien nicht frei von ideologischen Aspekten sind. So spielten im Zurückdrängen der Uniformität sowjetischer Städtebilder zunächst einmal nationale Deutungsmuster eine wichtige Rolle, wie sie etwa in Bemühungen um den Aufbau des Unteren Schlosses in Wilna zu sehen sind. Allerdings schützen auch in demokratischer Willensbildung gefundene Lösungen nicht vor exklusiven Perspektiven, zumal in Städten, die ihre polyethnische Struktur durch Holocaust und Zwangsumsiedlungen verloren haben. Die Konstruktion politisch, sozial und national inklusiver Konzepte städtischer Geschichte bleibt vor diesem Hintergrund eine Herausforderung, die von einer polykulturellen Perspektive auf die Stadtgeschichte ausgehen muss.

Zweifelsohne haben die Herausgeber eine anregende Zusammenschau stadtgeschichtlicher Darstellungen vorgelegt, die in ihrem regionalen wie disziplinären Zuschnitt Grenzen überschreitet. Dass bei einem solchen Sammelband nicht alle Einzelbeiträge völlig überzeugen können, liegt in der Natur der Sache. Die Aufsätze des Buches dokumentieren gleichsam seismografisch die gesellschaftlichen Wirkungen, die von einer Auseinandersetzung mit der Geschichte städtischer Räume ausgehen können und in der Konstituierung städtischer Identitäten zur Ablösung oder zur Relativierung großer Gesellschaftsentwürfe beigetragen haben. Das Verdienst des Buchs von Czaplicka und Ruble ist es, einer vergleichenden Perspektive auf diese Aspekte von Stadtgeschichte im östlichen Europa und darüber hinaus den Weg bereitet zu haben.

Anmerkungen:
1 „Civic“ im Englischen; in diesem Sinne wird der Begriff in dieser Rezension verstanden.
2 Russische und ukrainische Autorennamen werden hier nicht in Transliteration, sondern nach der Schreibweise des vorliegenden Buches wiedergegeben.

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