E. Conze u.a. (Hgg.): Adel und Moderne

Titel
Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Conze, Eckart; Wienfort, Monika
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
354 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus Ventzke, Sächsisches Landesgymnasium, Meißen

„Adel und Moderne“ – schon der Titel des von Eckart Conze und Monika Wienfort herausgegebenen Bandes scheint einen Widerspruch zu formulieren und hebt damit sowohl dessen inhaltliche Spezifik als auch Problematik hervor. Die in vier Abteilungen gruppierten Beiträge resultieren aus einer im Jahr 2002 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld abgehaltenen Tagung, die es sich zum Ziel gestellt hatte, die neueren Ansätze und Ergebnisse der (deutschen) Adelsforschung zusammenzuführen und zu diskutieren. Die „Renaissance“ der neueren Adelsforschung erhält ihre Impulse einerseits aus einer die Epochenschwelle von 1800 mit ihren politischen, sozial-kulturellen und ökonomischen Umbrüchen bewusst überschreitenden Perspektive und andererseits aus der Erarbeitung einer mentalitäts-, institutionen- und kommunikationsgeschichtlichen Methodik. Beides führt zu fruchtbaren neuen Erkenntnissen, denn erst wenn die das Selbstverständnis einer sozialen Gruppe tragenden gesellschaftlichen Kontexte brüchig werden oder ganz entfallen setzen Selbstvergewisserungs- und Reflexionsprozesse ein, deren Untersuchung sowohl die historische Bedeutung der (eigenen) Gruppe als auch Vorstellungen über ihre zukünftige Rolle offenbaren. Das trifft auf den deutschen wie auf den europäischen Adel insgesamt zu.

Die Beiträge des vorliegenden Bandes widmen sich der Redefinitionsphase des europäischen Adels, indem sie nach „Herrschaftspraxis und sozialem Kapital“, „Elitenkonzepten“, „Aspekten von Adeligkeit“ sowie „Adelsgeschichte als Erfahrungsgeschichte“ fragen und damit die gegenwärtige Adelsforschung immer wieder darauf ausrichten, die Art und Weise des Bestehenbleibens von Adeligkeit in adelskritischen oder sogar -feindlichen Gesellschaftsumständen zu erklären sowie die Bestandteile und Konzepte der Adels(neu)konstruktionen des 19. und 20. Jahrhunderts zu analysieren. Indes sind die Abteilungen des Bandes nicht sonderlich trennscharf. So ließe sich der sehr lesenswerte Beitrag von Michael G. Müller (S. 87-105) über die Elitenkonzepte des polnischen Landadels nach den Teilungen sicher auch unter den Aspekten von „Herrschaftspraxis und sozialem Kapital“ einordnen. Gleiches gilt für den Beitrag von Raffael Schenck über die „Höfische Intrige als Machtstrategie in der Weimarer Republik“ (S. 107-118).

In der Zusammenschau aller Beiträge zeigt sich, dass sehr viele Forschungsrichtungen der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft aufgegriffen wurden. Die Erforschung des Adels lässt sich ohne Zweifel gleichermaßen unter Gesichtspunkten der Eliten- wie auch der Genderforschung, der Mentalitätsgeschichte, Körperwahrnehmung oder allgemeinen Sittengeschichte betreiben. Aber erst in der Zusammenschau dieser Facetten, so der durch den Band vermittelte Eindruck, liegt die Erklärung für das Phänomen der Überlebensfähigkeit der Adels. Seine Existenz war offenbar weder vor noch nach 1800 allein an den rechtlichen Status und die materiellen Ausstattungen der Standesgruppe gebunden. Vielmehr nutzte er schon in der Vormoderne selbst- und sonderbewusstseinsprägende Strategien, die auf kommunikativ-symbolische Akte ausgerichtet waren und eine kulturtragende Funktionalität kreierten. Auf diese Sachverhalte machen etwa die Beiträge von Josef Matzerath (S. 237-246) und Angelika Linke (S. 247-268) aufmerksam. Bis in die Gegenwart hinein fanden über die gesellschaftlichen Brüche hinweg im selbstdefinitorischen System des Adels offenbar nur Akzentverschiebungen statt, die, wenn es die Umstände erforderten, beispielsweise die politische Bedeutung zugunsten der kommunikativen Selbstbestätigung ab- oder persönliche Qualifikationen im Verhältnis zu Landbesitz aufwerteten. Das polnische Konzept des Adeligen als „Landbürger“ steht für letzteres Beispiel.

Indes verdeutlicht der europäische Vergleich, dass sich in unterschiedlichen Räumen zu gleicher Zeit ganz gegensätzliche Definitionsvarianten entwickeln konnten. So wurde der polnische Adel im 19. Jahrhundert in den preußischen Teilungsgebieten politisch marginalisiert und mit dem Verlust seiner Güter bedroht, woraus die Aufwertung von Familientraditionen, Hingabe an die nationale Sache und ein Drang zu Bildung resultierten. Thomas Kroll (S. 19-39) legt hingegen in seinem Beitrag dar, dass sich zu gleicher Zeit in der Toskana – angestoßen durch die Einflüsse der napoleonischen Gesellschaftspolitik – eine neue patrizische Adelsschicht entwickelte, die sich auf materiellen Reichtum und gesellschaftlichen Einfluss gründete. Genealogien wurden daher gering geachtet, fiktive Familientraditionen postuliert und bei Nobilitierungen scheinbar ohne weitere Prüfungen akzeptiert. Der Beitrag von Claude-Isabelle Brelot erinnert daran, dass umbrechenden Gesellschaften nach der ersten Veränderungseuphorie oft ein Hang zur Erhaltung oder Wiedereinführung traditioneller Lebensformen anhaftet (S. 59-63).

Freilich konnte die Anpassung an gesellschaftliche Umstände auch zu extremen Verengungen im Wertekonzept führen. Dies zeigen etwa die (erfolgreichen) Versuche deutscher Adeliger, sich in nationalsozialistische Organisationen zu integrieren. Stephan Malinowski und Sven Reichardt belegen dies anhand von Untersuchungen des SA-Führerkorps bis 1934 (S. 119-150). Adelige NS-Führer waren nicht selten extremen Männlichkeitsvorstellungen verfallen, strahlten Härte gegen sich selbst und andere aus und vollendeten damit einen schon in Wilhelminischer Zeit beginnenden Prozess, in dessen Verlauf ästhetisches Gefühl, Ungebundenheit und ‚Dandytum’ immer mehr abgelehnt wurden. Nicht zuletzt die Kriegserfahrung von 1914-1918 sowie das Erlebnis des als schmachvoll empfundenen Kriegsendes verstärkten diesen Prozess, wie etwa den Beiträgen von Wencke Meteling (S. 289-321) und Marcus Funck (S. 205-235) zu entnehmen ist. Das nationalsozialistische Motiv eines ‚Neuadels der Tat’ lieferte dann in den 1930er-Jahren die ideologische Vorgabe für viele aus altem Adel stammende Männer. Eckart Conze stellt eindrücklich dar, dass Adel an sich auf den säkularen Führerstaat einen großen Reiz ausübte: Lokale Landbeherrschung, Abstammungsdenken und Kriegsbereitschaft wurden als Kriterien von Adeligkeit willkürlich aus der vormodernen Adelgeschichte herausgegriffen und einseitig überhöht, um sie in den Dienst der Etablierung eines ‚rassisch reinen’ Führerstaats und der Beherrschung des zu erobernden ‚Raumes’ zu stellen. „Der ‚neue’ Adel wurde nach dem Vorbild des alten konzipiert.“ (S. 151-176; Zitat: S. 176)

Viele Beiträge des Bandes belegen die Beweglichkeit der Adeligen im alltäglichen (politischen) Kampf um die Verteidigung ihrer gesellschaftlichen Verankerung. Nach Angriffen und Niederlagen versuchten sie fast immer, verlorenes Terrain zurückzugewinnen und auch dann noch Elite zu sein, wenn es ihnen rechtlich weder vorgeschrieben noch überhaupt erlaubt war. Dieses Verhalten belegen Karina Urbach für die süddeutschen Standesherren (S. 323-351), Peter Mandler für die britische Aristokratie (S. 41-58) sowie Jaap Dronkers und Huibert Shijft für den niederländischen Adel (S. 65-82). Ewald Frie trifft mit seinem Beitrag über das Leben der Brüder Alexander und Ludwig von der Marwitz die Erfahrungen Adeliger am Ausgangspunkt der modernen Umbrüche sehr genau (S. 273-288). Jenen Adeligen, denen die Anpassung und damit das Überleben in einem öffentlich als „adelig“ wahrgenommenen Selbstverständnis gelang, muss eine erstaunliche Flexibilität und Aktivität bescheinigt werden. Das „Obenbleiben“ wurde in diesen Fällen möglich, weil sie gestaltend mit den Entwicklungen ihrer Zeit umzugehen suchten.

Ein Vergleich dieser Erfolgs- mit den Misserfolgs- und ‚Abstiegsgeschichten’ hätte die Beiträge vorliegenden Bandes sehr gut ergänzen können, einerseits, um dem Eindruck entgegen zu wirken, zwischen Adel und Moderne bestehe eine besondere, bislang verkannte Beziehung, andererseits, um den Begriff des ‚modernen Adels’ insgesamt zu schärfen. Denn offenbar konnte sich der Adel unter Heranziehung ganz unterschiedlicher Werte und Methoden ‚oben halten’. Gerade deshalb stellt sich aber die Frage, worin das gemeinsame Kriterium aller modernen Formen von Adeligkeit zu sehen ist. Einen „inhaltlichen Zentralindikator“ für Adeligkeit mit Verweis auf einen „Mechanismus“ abzuweisen (siehe den Beitrag von Matzerath: S. 240), erscheint nur dann überzeugend, wenn dieser Mechanismus eine Unterscheidung des Adels von anderen gesellschaftlichen Gruppen ermöglicht. Besteht dieser aber lediglich aus einem binnenkommunikativ vermittelten Bekenntnis in Form einer nicht näher bestimmten sprachlichen Konvention, dann bleibt Adel als soziale Formation relativ unbestimmt. Monika Wienfurt belegt in diesem Zusammenhang den Bezug adeliger Frauen ganz unterschiedlicher Lebensumstände auf den wie eine Markierung verwendeten Adelsbegriff, von dem sich eine scheinbar ‚unhintergehbare Qualität’ ableitete (S. 181-203).

Den sprachlich durchweg eingängigen und auf hohem Argumentationsniveau formulierten Beiträgen dieses Band ist es – ausgehend von einer exakten Standortbeschreibung der gegenwärtigen Adelsforschung – sehr überzeugend gelungen, die Dialektik von Gesellschaft und adeliger Existenz an verschiedenen adeligen Gruppen über den gesamten in den Blick genommenen Untersuchungszeitraum im europäischen Vergleich darzulegen. Sie sind daher eine Bereicherung der historischen Forschung über den engeren Bereich der Adelsforschung hinaus.