Aus mehreren Gründen ist es schwierig, dem Leser einen Eindruck von dieser Studie zu verschaffen. Zunächst liegt dies an der Fülle des ausgebreiteten Materials und der Vielzahl gewichtiger Thesen: Stefan Scheils Untersuchung der Machtpolitik Deutschlands, Polens, Italiens, Frankreichs und Großbritanniens sowie der Weltmächte USA und Sowjetunion entspricht in ihrer breiten thematischen Anlage und dem sparsamen Gebrauch von Fußnoten eher angelsächsischen Studien. Das ist ausgesprochen ambitioniert, zumal gegenwärtig viele Arbeiten am voluminösen Fußnotenapparat zu ersticken drohen, Scheil sich noch dazu ausschließlich auf veröffentlichte Quellen und Literatur stützt. Erschwerend kommt hinzu, dass sämtliche Thesen die bisherige Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges in atemberaubender Konsequenz neu interpretieren - fast die komplette Forschung zu diesem Gebiet wird revidiert. Allein dieser Versuch garantiert also eine ebenso spannende wie provozierende Darstellung. Gerade deswegen sind aber grundsätzliche Bemerkungen zum methodischen Vorgehen und der Perspektive des Autors angebracht.
Der Band beginnt mit der Prämisse, dass keine “geschichtswissenschaftliche Erklärung für den Zweiten Weltkrieg so einfach sein kann wie die Behauptung, er sei von Adolf Hitler langfristig geplant und gezielt entfesselt worden” (S. 495). Bisherige Darstellungen seien in ihrer “Einfachheit schlechterdings nicht zu unterbieten: Der Krieg konnte nur in Europa beginnen, nur ein Land konnte diesen Krieg auslösen und der Diktator dieses Landes hat dies ganz bewusst getan, umgeben von einer friedliebenden und gutwilligen Umwelt” (S. 17). Diesem “germanozentrischen Trend” (S. 19) müsse eine klare Absage erteilt werden, da der Zweite Weltkrieg von den Mächten gemeinsam entfesselt worden sei. In der Tat fällt auf, dass sich zahlreiche Gesamtdarstellungen der deutschen Forschung nahezu ausschließlich auf die Politik Hitlers konzentrieren. Den Zweiten Weltkrieg begreift Scheil hingegen als Konsequenz der “Globalisierung” der Politik in der Moderne, was die innereuropäische egoistische Machtpolitik der Staaten eigentlich ad absurdum geführt habe. Die USA und die Sowjetunion hätten die europäische Politik mit ihrem wachsenden Anspruch auf Mitsprache erheblich beeinflusst, eine zunehmende “Entmachtung Europas” sei die Folge gewesen (S. 20). Während Präsident Roosevelt auf ein System kollektiver Sicherheit und Abrüstung in Europa drängte, suchte Stalin die Rivalität der Staaten zur weiteren Expansion des Kommunismus zu nutzen. “So war die UdSSR Teilnehmer an der internationalen Konkurrenz der Mächte, und ihre sprunghafte militärische und wirtschaftliche Entwicklung setzte gemeinsam mit anderen Ereignissen, wie beispielsweise der Wiederbewaffnung Deutschlands, einen Prozeß in Gang, der die Nachkriegsordnung von Versailles überwand.” (S. 497) Hitler habe zunächst keinen konkreten Plan zur Führung eines Eroberungskrieges im Osten verfolgt, während Stalin bereits Expansion in Richtung Westeuropa geplant habe, worauf er sich seit Anfang der 1930er-Jahre intensiv vorbereitete. Später sei dies allerdings durch eine Phase machtpolitischer Konsolidierung unterbrochen worden. Der sowjetische Diktator entfesselte jedoch den Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit Hitler und versuchte mit seinem Angriff auf Finnland Ende 1939, die Westmächte und das Deutsche Reich gegeneinander aufzubringen.
Den Einfluss ideologischer Faktoren auf die Politik will Scheil “auf eine angemessene Größe reduzieren”, zumal sie “nur in wenigen Fragen entscheidend gewesen” seien (S. 18). Hier erheben sich jedoch Fragen, da etwa die große Bedeutung “universaler Prinzipien” wie Freihandel oder Menschenrechte für die Politik der USA betont werden (S. 24), die ja durchaus als “demokratisch-kapitalistische Ideologie“ begriffen werden können. Hier zeigt sich einmal mehr das gewichtige Problem, das eine strikte Unterscheidung zwischen ideologischen und machtpolitischen Faktoren sowie den komplexen persönlichen Motiven der Protagonisten kaum durchzuhalten ist. Großraumtheorien, wie die von Carl Schmitt, werden als Teil von auch heute noch verbreiteten geopolitischen Vorstellungen verstanden und als kontinentales Gegenstück zum imperialen Führungsanspruch der USA eingeordnet. Es habe sich um einen Versuch gehandelt, den “Globalisierungsdruck”, den “Zwang zur Ausübung direkter Herrschaft und zur permanenten Konkurrenz überall auf der Welt, von Europa und besonders von Deutschland” (S. 26) zu nehmen. Völkerbund und internationales Recht seien demgegenüber noch nicht ausreichend entwickelt gewesen, zumal mit Blick auf die umfangreichen Kolonialreiche Englands und Frankreichs. Die “Eigendynamik” der durch den Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg geschaffenen Nationalitätenkonflikte sei in London und Paris auf wenig Verständnis gestoßen. Ein gemeinsames Kennzeichen für alle Regierungen der 1930er-Jahre war jedoch die Einschränkung ihrer Handlungsfähigkeit durch die wachsende Bedeutung der öffentlichen Meinung. Der Glaube an die Wirkung militärischer Entscheidungen sei hingegen wenig verbreitet gewesen (S. 34), was manchen Leser verwundern dürfte. Gerade Hitler, Mussolini und Stalin waren es doch, die in begrenzten militärischen Aktionen eine wesentliche Option zur Machterweiterung erkannten.
Im Gegensatz zu vielen Studien nimmt Scheil Hitler beim Wort, d.h. dessen interne Äußerungen werden nicht als Teil eines groß angelegten Täuschungsmanövers gegenüber seiner engeren Umgebung auf dem Weg zur Entfesselung des “ersehnten“ Krieges, sondern als Ausdruck seiner Überlegungen zu dieser Zeit begriffen. Tatsächlich scheint sich jene Hitler-Forschung allzu weit von den Quellen zu entfernen, die Vieles als taktisch inspirierte Einlassung interpretiert und ihre Ergebnisse selektiv auf vergleichsweise wenige Dokumente aufbaut. Hitler erscheint bei Scheil hingegen weniger als Subjekt der internationalen Politik, sondern das Deutsche Reich wird überwiegend als Objekt der Politik anderer Mächte präsentiert. Diese begrüßenswerte Modifizierung der Perspektive wird in dieser Studie jedoch übertrieben, wenn Hitler als “normaler“ Außenpolitiker in einer Linie mit Bismarck und Wilhelm II. rangiert und suggeriert wird, dass Danzig tatsächlich das alleinige Ziel seines Vorgehens gegen Polen gewesen sei. Nur “unmittelbaren Anlass für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges” (S. 499) bot demnach der seit 1928 schwelende deutsch-polnische Konflikt. Schuld an der Eskalation im September 1939 sei vor allem die hypertrophe Politik der polnischen Regierung gewesen, die jede Einigung abgelehnt habe und einen siegreichen Angriffskrieg (S. 84ff.) gegen das Deutsche Reich hätte führen wollen. Die Ausweitung zum Weltkrieg 1940/41 wird wiederum auf die Ablehnung aller vermeintlich ehrlich gemeinter Friedensbemühungen Hitlers durch die englische Regierung zurückgeführt.
War das so? Hätte Hitler tatsächlich die besetzten polnischen Gebiete aufgegeben, einen polnischen Staat wiederhergestellt – trotz des zweifellos enormen Verlustes an Ansehen in der eigenen Bevölkerung? Gab es nicht vielmehr niemals diese Chance für einen wirklichen Frieden, weil Hitler zu taktieren versuchte, um die ersehnte “freie Hand“ im Osten endlich zu erhalten und die deutsche Vorherrschaft auf dem Kontinent zementieren wollte? Konnte Winston Churchill Hitler überhaupt einen gesichtswahrenden Rückzug angesichts der aufgepeitschten Stimmung 1940 ermöglichen? Hat Churchill nicht vielmehr Hitlers Absichten richtig erkannt und alles getan, um ein deutsch-beherrschtes Mitteleuropa zu verhindern?
Viele Thesen Scheils erscheinen eingängig, andere erwecken hingegen den Eindruck, dass Quellen in ihrer Aussagekraft strapaziert wurden. Auch der polnischen Seite hätte der Autor beispielsweise jenes Maß an Empathie zuteil werden lassen sollen, dass er der deutschen zuerkennt. Konnte man als polnischer Außenpolitiker Hitlers Versprechungen 1939 vor dem Hintergrund der aus vielen Gründen aufgeheizten Atmosphäre trauen? Manchmal trennt der Autor die verschiedenen Ebenen der Analyse nicht sauber. Beispielsweise die drei Fragestellungen: Was wollte Stalin 1941? Wie nahmen andere Länder die Sowjetunion 1941 wahr? Was wissen wir heute über Stalins Absichten? Angesichts der anhaltend rudimentären Quellenlage zur sowjetischen Politik scheint jedenfalls Vorsicht geboten. Abschließend muss darauf verwiesen werden, dass allein ein Experte zur Außenpolitik der europäischen Mächte, der Sowjetunion und USA in den 1930er-Jahren das Gewicht der Quellen und der vorgebrachten Argumente treffend bewerten kann. Zumindest der Rezensent konnte sich von Zweifeln nicht lösen, gleichwohl argumentiert und belegt der Autor zumeist plausibel. Seine Thesen verdienen es deswegen, eingehend diskutiert und verifiziert zu werden.