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Titel
Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik


Autor(en)
Nolte, Paul
Erschienen
München 2004: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriele Metzler, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Dem aktuellen Krisendiskurs kann man sich kaum entziehen: Allerorten hat sich die Rede von der Krise der Arbeitsgesellschaft, der Krise der sozialen Sicherungssysteme, der demographischen Krise und ihrer gesellschaftlichen Weiterungen (Stichwort: „Methusalem-Komplott“) fest etabliert. Die Reaktionen auf diese Beobachtungen fallen durchaus unterschiedlich aus. Denn während die einen glauben, das bestehende System ließe sich bewahren, wenn man nur wolle, haben sich bei den anderen tiefer Pessimismus und Politikskepsis, wenn nicht gar Politikverdrossenheit ausgeprägt. Paul Nolte eröffnet engagiert und selbstbewussßt eine neue Perspektive, indem er sowohl die tatsächlichen Dimensionen der Krise herausarbeiten als auch Auswege aufzeigen will.

Entstanden ist aus diesem Impuls ein Buch, das zwar wissenschaftlich informiert, aber nicht als wissenschaftliche Studie im strengen Sinne zu lesen ist. Es richtet sich nicht – zumindest nicht vorrangig – an die Fachkollegen, sondern an eine breitere Öffentlichkeit. Dass gerade jüngere Historiker sich außerhalb der eigenen Wissenschaftler-Community bewegen und zu aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen Stellung nehmen – und dabei aus ihrem historischen Wissen Argumente für ihre politischen Positionen beziehen – hat sich noch kaum durchgesetzt, obwohl doch die öffentlichen Debatten von informierten Argumenten zweifellos profitieren würden, und obwohl doch gerade die historische Perspektive über die Aufgeregtheiten tagespolitischer Auseinandersetzungen hinaus größere Zusammenhänge gegenwärtiger Problemlagen erhellen könnte. Dass historisch fundierte Argumentation in einem solchen Kontext nicht den Differenzierungsgrad historischer Spezialstudien erreichen kann (und im Grunde wohl auch nicht soll, weil dies den Nachhall in der breiten Öffentlichkeit beschränken würde), dürfte auf der Hand liegen. Entsprechend würde man mit Einwänden gegen den gelegentlich plakativen, manchmal etwas vereinfachenden Grundton der historischen Passagen den Anliegen Noltes nicht gerecht.

Das Buch versammelt 20 Beiträge, die zumeist aus Vorträgen oder Zeitungsartikeln hervorgegangen sind; nur die beiden einleitenden Abschnitte sind neu geschrieben und sollen den übrigen Texten gleichsam ein verbindendes Leitmotiv voranstellen. Noltes Leitmotiv ist das der „Generation Reform“: Eine neue Generation – darunter fasst Nolte sich selbst (Jahrgang 1963) und seine Altersgenossen – trete aus dem Schatten der Älteren, der „45er“ wie auch und vor allem der „68er“ heraus und „erkennt, dass sie Verantwortung für die eigene Zukunft übernehmen muss“ (S. 15), jenseits gewohnter und liebgewonnener Arrangements, die sich allesamt als wenig krisentüchtig erwiesen haben. Entsprechend unerschrocken stellt Nolte zentrale Elemente bundesrepublikanischer Befindlichkeiten und ihre Träger in Frage, allem voran den deutschen Sozialstaat, die Scheu vor tiefgreifenden Reformen, damit aber auch etablierte Parteien und Verbände, die sich in der „Equilibrium-Gesellschaft“ eingerichtet hätten (S. 15). Realistisch und nüchtern nimmt sich in Noltes Sicht hingegen die „Generation Reform“ der drängenden Fragen an; sie wage den Schnitt mit der Vergangenheit und sei im Begriff, neue Denkstrukturen und Institutionen auszuprägen.

In seiner Diagnose gegenwärtiger Krisenlagen setzt Nolte auf unterschiedlichen Ebenen an. Zum einen verdeutlicht er, wie sich die Krisen historisch herausgebildet haben. Im Hinblick auf den deutschen Sozialstaat hebt er zu Recht hervor, dass das aus dem späten 19. Jahrhundert herrührende sozialstaatliche Arrangement unter den Bedingungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts nicht mehr funktionieren kann: Es wird blockiert durch die demografische Entwicklung, die Transformation der Arbeitsgesellschaft sowie jene Individualisierungsschübe, die seit den 1960er-Jahren in zunehmendem Maße das Fundament der Sozialstaatlichkeit erodieren lassen. Wie stark indessen auch die Lösungsvorstellungen der politischen Akteure, hier der beiden großen Volksparteien, noch in den Denkwelten der Industriegesellschaft befangen sind, wird dabei abermals erkennbar. Zum anderen thematisiert Nolte das Problem sozialer Ungleichheit, das in den aktuellen, stärker an Effizienz oder Marktkonformität orientierten sozialpolitischen Debatten nahezu vollständig marginalisiert worden ist. In diesem Kontext steht der wissenschaftlich wohl anregendste Text dieses Buches, „Überlegungen zur deutschen Gesellschaftsgeschichte“, die Nolte aus der Diskussion von „Zivilgesellschaft und sozialer Ungleichheit“ entwickelt (Kap. 7).

Eher auf das politische Argument zielt sein Plädoyer, dem Klassenbegriff wieder größeren Raum zu geben: Warum nicht von „Klassengesellschaft“ sprechen, um tiefgreifende soziale Unterschiede und Chancenungleichheiten zu benennen? Warum die Vorstellung von einer „Neuen Mitte“ verbreiten (immerhin ein Wahlkampfschlager der SPD 1998), wenn eine tiefe Kluft zwischen einzelnen sozialen Gruppen nicht zu übersehen ist? Dass Nolte die Problematik solcher Patentrezepte und vermeintlich zukunftsträchtiger Konzepte gerade in historischer Perspektive diskutiert, zählt zu den Stärken seines Buches. Denn, soviel wird deutlich, gerade der Begriff der „Mitte“ war immer ein politischer Kampfbegriff und ideologisch aufgeladen, kam in ihm doch die Sehnsucht nach Stabilität, nach Konfliktfreiheit in den gesellschaftlichen Beziehungen zum Ausdruck. Hier kann Nolte an seine eigenen Forschungen zum deutschen Gesellschaftsverständnis im 20. Jahrhundert unmittelbar anknüpfen1 und daraus überzeugende Argumente gegen das allzu naiv anmutende Konzept der „Neuen Mitte“ ableiten. Warum er freilich selbst den nicht minder unproblematischen Begriff der „Generation“ bemüht, um seiner Position Nachdruck zu verliehen, bleibt gerade vor dem Hintergrund seiner begriffsgeschichtlichen Sensibilität rätselhaft.2

Nolte lässt es nicht bei der historisch informierten Analyse gegenwärtiger Probleme bewenden, sondern hat den Ehrgeiz, Lösungswege aus der Krise zu weisen. Seine Thesen strahlen eine Gewissheit aus, welche den üblichen Hinweis auf die Komplexität der Problemlagen müßig erscheinen lässt. Dabei schöpft er aus dem US-amerikanischen Kommunitarismus ebenso wie aus religiösen Wertvorstellungen; er will konservative Positionen neu definieren und sozialdemokratische Gerechtigkeitsvorstellungen modernisieren, in der Gesellschaft neuen „Gemeinsinn“ verankern und die „Ego-Gesellschaft“ (S. 227) „eindämmen“. Am ehesten an pragmatischen Fragen orientiert sind seine Überlegungen, an die Stelle des „Steuerstaates“ eine „Gebührengesellschaft“ zu setzen, die zugleich „Verantwortungsgesellschaft“ wäre (Kap. 12, 17). Es überwiegen jedoch normative Vorstellungen, etwa in seiner Kritik an der „fürsorglichen Vernachlässigung“ der Unterschichten, für die Nolte eine „neue Politik“ einfordert (Kap. 5). Nicht mehr Transferzahlungen, etwa in Form von Sozialhilfe, solle diese neue Politik kennzeichnen, sondern „eine politische und gesellschaftliche Intervention in diese [Unterschichten-]Kulturen, die über den materiellen Transfer hinausgeht“ (S. 65). Noltes Vorschläge reichen von verbesserter Bildung bis hin zu veränderter Ernährung und schließen ein Plädoyer für den höheren qualitativen Standard von „Vollkornbrot und Käse“ gegenüber der „Dauerernährung in Imbissbude und Schnellrestaurant“ durchaus mit ein (S. 65).

Noltes Rezepte deuten an, dass grundlegende Reformen und tiefgreifende Einschnitte ihren Preis haben könnten: Denn es ist erst noch zu klären – und auf diese zentrale Frage hat Nolte keine Antwort parat –, ob und wie sich solche „Interventionen“ in Wertvorstellungen, Lebensentwürfe und Lebensstile ganzer sozialer Gruppen einpassen lassen in eine liberale, pluralistische Gesellschaft, die sich in einem langwierigen, mühsamen, oft schmerzhaften Lernprozess die Erkenntnis erst aneignen musste, dass die Freiheit des Individuums und die Anerkennung von Konflikten konstitutiv für ihre Existenz sind. Ob Noltes Appell, den „Gemeinsinn“ wieder zu stärken, hinreicht, um höchst divergente Erfahrungswelten und Werthorizonte zu integrieren, erscheint eher zweifelhaft.

Nolte präsentiert eine Handlungsanweisung, nominiert aber keine Akteure für die Ausführung. Die Formel von der „Generation Reform“ ist zwar griffig, geht aber kaum über andere gängige Formeln und Slogans hinaus. Verbindet die Vierzigjährigen tatsächlich mehr als der bloße Zufall des Geburtsjahrgangs, hat sich in dieser Alterskohorte tatsächlich eine „Generationseinheit“ im Mannheimschen Sinne herausgebildet? Man sollte sich von den Auftritten einiger prominenter Protagonisten dieser Altersgruppe nicht täuschen lassen: Den vierzigjährigen Investmentbanker trennen Welten von der alleinerziehenden Mutter, die von Sozialhilfe lebt; und die international agierende Unternehmensberaterin dürfte mit der gleichaltrigen Sozialarbeiterin wenig gemeinsam haben. Die prägenden Jugenderfahrungen, die Nolte als einheitsstiftende Elemente benennt, sind vorrangig die Erfahrungen der Westdeutschen; über die Jugend, die die heute Vierzigjährigen in der DDR erlebt haben, erfährt man hingegen zu wenig. Dass Nolte den Vorwurf auf sich gezogen hat, er betreibe „Generationstheologie“, überrascht kaum.3

Bei aller Kritik im Einzelnen bleibt festzuhalten: Paul Nolte hat in den Debatten über die gegenwärtige Situation neue Positionen akzentuiert, die weder auf die Wahrung des Status quo fixiert sind noch dem puren Ökonomismus des freien und globalen Marktes huldigen. Vielmehr erinnert er zu Recht daran, dass gesellschaftliche Integration ohne ein verbindendes normatives Fundament kaum gelingen kann und dass wir deshalb nicht allein und nicht vorrangig über den Umfang wirtschaftlichen Wachstums, nicht über Kommastellen bei den Sozialbeiträgen oder effizientere Abwicklungsmodi für die Sozialhilfe diskutieren sollten, sondern uns über die Grundwerte unserer Gesellschaft neu verständigen müssen. Dass sich Nolte als Historiker seiner Zeitgenossenschaft stellt und vor dem Hintergrund seines professionellen Wissens Positionen bezieht, über die man trefflich streiten kann, dürfte dem öffentlichen Nachdenken über unsere gesellschaftliche Zukunft allemal mehr nutzen, als in wissenschaftlicher Zurückhaltung zu schweigen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Nolte, Paul, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000.
2 Erinnert sei an den Topos der „jungen Generation“ und seines politischen Gehalts während der 1920er und 1930er-Jahre.
3 Glotz, Peter, Neugründungspathos. Die Vierziger proben den Aufstand, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.5.2004, S. 39.

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