Cover
Titel
Entmachtung im Amt. Bürgermeister und Landräte im Kreis Annaberg 1930-1961


Autor(en)
Weil, Francesca
Reihe
Geschichte und Politik in Sachsen 21
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
369 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Stelbrink, Soest

In der wirkmächtigen Tradition des deutschen Historismus galt der historische Vergleich lange Zeit als problematisch, schien er doch der postulierten prinzipiellen Individualität historischer Phänomene offensichtlich zu widersprechen. Die Nachwirkungen dieser Denkprägung reichen bis in die Gegenwart. Eine gewisse Reserve gegenüber historischen Vergleichen ist in einigen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft vor allem in Deutschland noch heute zu konstatieren. Die Sozialwissenschaften bedienten sich dagegen seit jeher auch komparativer Methoden. Daher ist es kein Zufall, dass der seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts angestellte wissenschaftliche Vergleich moderner Diktaturen zunächst im Grenzbereich zwischen Geschichte und Politikwissenschaft anzusiedeln war. Die seit Jahrzehnten auch von Historikern geführten Diskussionen kreisten lange Zeit vornehmlich um die Subsumierbarkeit des Nationalsozialismus unter ein übergreifendes Totalitarismus- oder Faschismus-Konzept. Die Vergleichsobjekte bildeten dabei vor allem die synchronen Diktaturen des sowjetischen Stalinismus bzw. des italienischen Faschismus. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks rückte in Deutschland dagegen schlagartig der ebenso naheliegende wie umstrittene diachrone Vergleich zwischen dem NS- und dem SED-Regime in den Vordergrund. Seitdem werden Erkenntnismöglichkeiten, Probleme und Grenzen von wissenschaftlich tragfähigen Diktaturvergleichen unter veränderten Vorzeichen erneut intensiv diskutiert. Zahlreiche empirische Forschungsvorhaben wurden auf den Weg gebracht 1. An hervorragender Stelle ist hier das „Sachsenprojekt“ über „Diktaturdurchsetzung, Diktaturformen, Diktaturerfahrung 1933-1961“ 2 zu nennen, in dessen Rahmen auch das Buch von Francesca Weil entstanden ist.

Weil hat sich zum Ziel gesetzt, an Hand des „konkreten Amtsalltags von Bürgermeistern und Landräten“ des erzgebirgischen Grenzkreises Annaberg darzustellen, „mit welchen Erfolgen, aber auch Einschränkungen der postulierte Herrschaftsanspruch von NSDAP bzw. KPD/SED durchgesetzt“ (S. 17) werden konnte. Durch eine solche „komparatistische Studie an einem ausgesuchten regionalen Fallbeispiel“ möchte sie „tiefere Einblicke in die Strukturen und Funktionsmechanismen von Diktaturen mit totalitärem Herrschaftsanspruch“ (S. 15) gewinnen. Gerade durch die kontrastierende Methode erhofft sie sich dabei eine deutlichere Konturierung der „spezifischen Phänomene der jeweiligen Systeme“ (ebd.). Sie wendet sich damit zu Recht gegen immer wieder auftauchende Vorwürfe, durch Diktaturvergleiche einer ungerechtfertigten Bagatellisierung des Nationalsozialismus den Boden zu bereiten.

Weil hat ihre Arbeit durch 7 Kapitel weitgehend chronologisch strukturiert. Der Darstellung der NS-Zeit widmet sie rund 66, der Entwicklung von 1945 bis 1961 gut 170 Seiten. Der eigentliche Diktaturvergleich beschränkt sich auf das abschließende, in sechs systematische Unterpunkte gegliederte und 30 Seiten umfassende „Resümee“. Bereits seit 1934 bzw. 1946 bestand „realiter keine umfassende Selbstverwaltung mehr“ (S. 301). Auf breiter Quellengrundlage, kenntnisreich und mit aufschlussreichen Ergebnissen schildert die Autorin die in beiden Diktaturen unter verschiedenen ideologischen Prämissen und Rahmenbedingungen erfolgende sowie mittels differierender Methoden stetig voranschreitende „Entmachtung“ der Annaberger Bürgermeister und Landräte „im Amt“. Eine zentrale Rolle spielten dabei die gesetzlich legitimierten oder auch willkürlichen, auf jeden Fall aber massiven Einflussnahmen der örtlichen bzw. regionalen Parteifunktionäre, die bereits 1933 bzw. 1945 einsetzten. Als wesentlicher Unterschied stellte sich u.a. jedoch heraus, dass die NSDAP „wesentlich mehr auf die Anpassungsbereitschaft der Verwaltungseliten bauen konnte“ (S. 315). Ihre Einflussnahme hatte daher einen eher fakultativen Charakter. „Die KPD/SED hingegen musste [...] auf bürokratische Kontrolle und Reglementierung setzen“ (ebd.). Der während der NS-Zeit noch bestehende „Dualismus“ zwischen Partei und Staat wurde in der SBZ/DDR durch eine fortschreitende „Verflechtung“ beider Instanzen abgelöst, die Anfang der 60er Jahre „weitgehend vollendet“ war (S. 316). Über relativ „umfangreiche Handlungsspielräume“ (S. 307) verfügten die Verwaltungsleiter nach Weils Feststellung lediglich in der Übergangsphase 1945/46.

Natürlich können bei einer solchen Pionierstudie Defizite nicht ausbleiben. Die ausgeprägte SBZ/DDR-Lastigkeit des Buches etwa ist sachlich kaum zu rechtfertigen, zumal „die Quellenbasis relativ gleichwertig die verschiedenen Zeiträume umgreift“ (S. 28). Auf nicht einmal 70 Seiten sind die vielfältigen Problemlagen und Machtkonstellationen in den Gemeinden des „Dritten Reiches“ nun einmal kaum befriedigend in den Griff zu bekommen. Angesichts der de facto weitgehend ungeregelt gebliebenen Machtverhältnisse zwischen Gemeindeverwaltungen und örtlichen Parteiinstanzen ist Weils These von der ganz weitgehenden „Entmachtung“ der Bürgermeister „im Amt“ für die NS-Zeit sicherlich zu pauschal. Folglich bleiben viele Fragen offen oder werden nur angerissen, jedoch nicht systematisch untersucht: Gab es etwa Personalunionen zwischen Bürgermeistern und örtlichen „Hoheitsträgern“? Welche Machtposition konnte der Kreisleiter als „Beauftragter der NSDAP“ über die eng gesteckten Grenzen der „Deutschen Gemeindeordnung“ von 1935 hinaus usurpieren? Welche Handlungsspielräume ergaben sich für profilierte NSDAP-Mitglieder unter den neu ernannten Bürgermeistern im Vergleich zu ihren im Amt weiterhin geduldeten nationalkonservativen Kollegen aus Weimarer Zeit? Wie intensiv und zu wessen Nutzen wurde die von Weil oft angesprochene „straffe Staatsaufsicht“ (S. 317) in der Praxis tatsächlich wahrgenommen? Die Chancen einer Mikrostudie werden von der Autorin in diesen Kapiteln nicht voll ausgereizt. Mehr noch: Die Textpassagen zur NS-Zeit vermitteln bisweilen den Eindruck, als ob die als DDR-Spezialistin bereits ausgewiesene Weil das „Dritte Reich“ ein wenig lustlos und möglichst zügig „abgehakt“ hat.

Die Kapitel über die SBZ/DDR atmen einen ganz anderen Geist. Fast in jeder Zeile glaubt man zu spüren, dass die Autorin sich nunmehr ganz „in ihrem Element“ fühlt. Die Darstellung wird ausführlicher, die Argumentation differenzierter, die Ergebnisse belastbarer. Besonders gelungen sind etwa die Ausführungen über den langwierigen und mühsamen Etablierungsprozess der SED-Herrschaft bis Anfang der 50er Jahre, der mit einer endlosen Kette von Benachteiligungen, Diffamierungen und Verdrängungen bürgerlicher Politiker sowie fortwährenden parteiinternen Disziplinierungen und „Säuberungen“ einher ging. Dagegen vermißt der Leser genauere Untersuchungen über den Amtsalltag der Bürgermeister und die sich daraus ergebenden Grenzen der SED-Diktatur. Inwieweit lag etwa die reale Macht in den Gemeinden tatsächlich bei der – durchaus nicht immer allmächtigen – SED-Kreisleitung, den Räten und Ratssekretären und nicht teilweise doch bei den – auch von Weil wiederholt kurz erwähnten – Bürgermeistern, die sich nicht mit den ihnen zugedachten Rollen als „Laufburschen“ (S. 258) zufrieden geben wollten? Hatte die große Mehrheit der SED-Bürgermeister merkliche Vorteile gegenüber ihren wenigen Kollegen aus den Reihen der CDU bzw. LDP? Wie intensiv wirkte sich der „demokratische Zentralismus“ in der Praxis aus? Die Beantwortung solcher Fragen überlässt Weil manchmal etwas vorschnell der bereits vorliegenden Sekundärliteratur anstatt sie selbst empirisch zu erhärten 3. Gerne hätte man also mehr über die auf individuellen Charakterdispositionen oder „informellen Beziehungen“ beruhenden, individuell ertrotzten oder „ausgehandelten Gestaltungsfreiräume“ (S. 309) der Verwaltungsleiter erfahren.

Bei der Bearbeitung derartiger Fragen ergeben sich allerdings erfahrungsgemäß massive Quellenprobleme. Trotzdem hätten sich manche dieser Leerstellen eventuell ein Stück weit füllen lassen, wenn Weil sich auf eine exemplarische und damit noch tiefenschärfere Untersuchung ausgewählter Gemeinden beschränkt hätte. Ungeachtet dieser Anmerkungen bleibt als Fazit jedoch festzuhalten: Weil hat ein uneingeschränkt lesenswertes Buch vorgelegt, durch das die wissenschaftliche Fruchtbarkeit methodisch reflektierter sektoraler Diktaturvergleiche eindrucksvoll belegt wird. Einschlägige Referenzstudien sollten möglichst bald folgen.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa Schmiechen-Ackermann, Detlef, NS-Regime und SED-Herrschaft – Chancen, Grenzen und Probleme des empirischen Diktaturenvergleichs, in: GWU 52 (2001), S. 644 ff.; vgl. auch ders., Diktaturen im Vergleich, Darmstadt 2002.
2 Siehe Hehl, Ulrich von; Parak, Michael, Sachsen unter totalitärer Herrschaft: Ein Projekt des Historischen Seminars der Universität Leipzig und des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden, in: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland 2002 (2003), S. 34 ff.; vgl. auch Heydemann, Günther; Oberreuther, Heinrich (Hgg.), Diktaturen in Deutschland – Vergleichsaspekte. Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen, Bonn 2003.
3 Vgl. etwa den zweimaligen Bezug von Weil, S. 244 f. auf Henning Mielke, Die Auflösung der Länder in der SBZ/DDR 1945-1952, Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Stuttgart 1995.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension