Titel
Die Ordnung der Kleider. Ländliche Mode in Württemberg 1750-1850


Autor(en)
Keller-Drescher, Lioba
Reihe
Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts 96
Anzahl Seiten
319 S., 20 s/w & 50 farb. Abb.
Preis
€ 23,50
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Gabriele Mentges, Institut für Textilgestaltung und ihre Didaktik, Universität Dortmund

Mit der vorliegenden Untersuchung, die als Dissertation an der Universität Tübingen eingereicht wurde, wird eine Lücke in der Kleidungsforschung über das traditionelle Württemberg geschlossen, die bislang – erstaunlich für die ansonsten breit gestreute und rege Publikationstätigkeit des Ludwig-Uhland-Institutes – eine eher stiefmütterliche Behandlung erfuhr. Angesichts der Fülle an Literatur zum Thema ländliche Kleidung (Tracht) im Allgemeinen mag dies nicht erstaunen, erwartet man doch kaum noch neue Einsichten und Erkenntnisse, die nicht längst gesichert und bekannt wären.

Umso positiver überrascht diese Untersuchung, die mit neuen methodologischen Ansätzen (Diskursanalyse) und unter aktuellen Fragestellungen hoch interessante Befunde aufzeigt und den Blick auf die Genese von ländlichen Kleidungsstilen in ein neues Licht rückt.

Zugrunde gelegt werden zwei sehr unterschiedliche Quellenbereiche, die eine bildet die Ikonografie der Trachtengrafik und die andere basiert auf den archivalischen Quellen der Inventuren und Teilungen der Dörfer Betzingen und Dußlingen, denen wir bis heute wirksame Stereotypen württembergischer „Trachten“ verdanken.

In der Einleitung werden Vorgehensweise und theoretische Konzepte vorgestellt, die für die Untersuchung maßgeblich wurden. Die Heterogenität der Quellen soll eine Vielfalt von Perspektiven bereitstellen, die anhand von text- und bildanalytischen Verfahren ausgewertet werden. Der von Lioba Keller-Drescher hier eingeführte Begriff der historischen Feldforschung veranschaulicht eine Methodik, die historisch arbeitende Wissenschaftler als Akteure im Feld betrachtet. Diese finden sich ebenso wie empirische Beobachter mit der Ungewissheit des Feldes konfrontiert und sollte daraus entsprechend die methodologische Folgerung ziehen, nämlich Forschung als ein prozesshaftes Geschehen zwischen Akteur und Gegenstandsfeld zu verstehen.

Es bleibt nicht bei dem bloßen Postulat, sondern sorgfältig, akribisch schreitet Lioba Keller-Drescher die verschiedenen Materialwege ab und fesselt den Leser, indem sie Analyse und Befund für Befund zu einer stringenten Argumentationskette vernetzt und mit einer jeweils überzeugenden, pointierten Interpretation abschließt. Dies gilt für die historische Analyse der Kleiderordnungen wie auch für die akribisch gemusterte und ausgewertete ikonografische Analyse der Trachtengrafiken seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, und es trifft zu – wenngleich nicht mit der gleichen Brillanz – für die nachfolgende Inventarforschung. Trotz der vielfach sehr detaillierten und dichten Sichtung der verschiedenen Materialgruppen ist es der Verfasserin außerordentlich gut gelungen, für jede Quellengruppe distinkte und klare Resultate herauszuarbeiten.

Die anfängliche Feststellung, dass Kleidung ein wesentliches Instrumentarium zur Visualisierung von Ordnung sei, wird durch die eingehende Prüfung der Kleiderordnungen bestätigt. Relativiert wird die hinlänglich bekannte These von der Lesbarkeit der Welt, die Martin Dinges anhand des Kleidungsreglements seit der Frühen Neuzeit feststellte, in die Richtung, dass es vor allem um die visuelle Konstruktion einer ständischen Ordnung ging, die sich allerdings in ihren Zielen wie Absichten historisch unterschied. Die reale Kleidungspraxis auf dem Lande wurde offenbar kaum davon betroffen.

Das Interesse der Obrigkeit in Gestalt des württembergischen Landesherrn zielte ab auf die Vereinnahmung des Landes für seine Herrschaftslegitimation, jeweils mit wechselnden historischen Absichten. Bildlichkeit und Inszenierung gingen dabei von vorne herein Hand in Hand, und führten gemeinsam zum Resultat einer nicht nur erfundenen, sondern absichtsvoll gestalteten Kleidungswirklichkeit der württembergischen Untertanen auf dem Lande. Durch gezielte Differenzkonstruktionen mittels der Unterscheidung in Kleidungsgruppen ländlich-bürgerlich-höfisch wurden Ordnungsgefüge imaginierbar und zugleich definiert, ohne dass an ihre praktische Umsetzung gedacht war.

Die Tradierung, Fixierung und Verfestigung der Bilder von der ländlichen Kleidung fügten sich zu einem festen Topos und einem Bildgenre, das im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit künstlerischen Strömungen, Kunstkonsum und Verlagswesen eine Dynamisierung und Durchdringung erfahren. Das so konzipierte Bild vom Land ging dem „realen“ voraus und hat es entscheidend geprägt – nicht umgekehrt.

Hat die bisherige Kleidungsforschung (Brückner) im Wesentlichen die ländlichen Kleidungsstile als Ergebnis und Variante des Historismus betrachtet, so wird hier der Nachweis dafür erbracht, wie früh und stark die Bilder und Ansichten des Ländlichen bereits in der höfischen Konzeption und Festwelt des 18. Jahrhunderts verankert waren. Von hier ausgehend wurden diese Bildwelten in den bürgerlichen Kontexten des 19. Jahrhunderts rezipiert, durch die gegenseitige Durchdringung verschiedener Medien intensiviert und neu bedeutet, um schließlich ein nachhaltiges visuelles Gedächtnis der „longue durée“ zu formieren.

Einen ähnlich wichtigen Befund fördern die gesichteten Inventuren und Teilungen zutage. Er zeigt, dass die so genannte trachtenmäßige Ausstattung der Landbewohner, wie sie die Trachtengrafiken suggerieren und behaupten, nicht mit dem realen Kleidungsbesitz belegbar ist. Vielmehr besaß dieser eher den Regelcharakter gewöhnlicher Alltagskleidung der Zeit.

Diese Untersuchung hat neue Maßstäbe in der Kleidungsforschung gesetzt, weil sie konsequent die Wirkungszusammenhänge von normativen Ordnungen, Bildkonstruktionen und Besitzstrukturen als einen in sich gegenseitig dynamisierenden Prozess begreift, der, anstatt sich in das herkömmliche entweder/oder auseinander zu dividieren, die Komplexität des Gefüges herausarbeitet.

Ein kritischer Einwand gilt dem etwas einseitigen Beharren auf dem Bourdieuschen Modell der Distinktion. Gerade weil, der Verfasserin zufolge, die geografische Peripherie durch die regionale Kleidung eine konkrete Gestalt im württembergischen Staatswesen annahm, hätte es hier Sinn gemacht, die Kategorie des Raums zu überprüfen. Denn Kleidung bildet durch ihren unmittelbaren Körperbezug eine räumliche Entität heraus und visualisiert daher nicht nur soziale, sondern benennt ebenso räumliche Ordnungen, wobei natürlich beide immer zusammenhängen.

Für einen umfassenderen Forschungskontext, der Fragen nach der kulturellen Bedeutung von Bild und Kleidung bzw. der Repräsentation stellt, liefert die Studie interessante Impulse dafür, wie sich die Beziehung von Bild und „Realität“ in historischen Konstellationen dynamisiert und konfiguriert. In ihrer Komplexität der Analyse sowie durch ihre differenzierte Beweisführung liefert die Studie einen weiteren, wichtigen argumentativen Baustein für jene zwar etwas überspitzte, aber griffige These von S. Greenblatt, Repräsentation sei nicht das Ergebnis, sondern der Produzent sozialer Verhältnisse.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/