Cover
Titel
Familles en Révolution. Vie et relations familiales en Île-de-France. Changements et continuités (1775-1825)


Autor(en)
Daumas, Philippe
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claire Gantet, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte / Université Paris I - Panthéon Sorbonne

Wie in Frankreich üblich, geht dieses Buch aus einer Dissertation hervor. Der Autor verdankt seinem akademischen Verlag, dass er den ursprünglichen Text kaum kürzen musste, ein methodologisches Kapitel sowie einen Anhang von Tabellen (S. 281-306) beibehalten konnte, die von kommerziellen Verlagshäusern üblicherweise gestrichen werden. 1 Das Buch ist in sieben Kapitel gegliedert, in denen (I) die Untersuchungsmethode, (II) die ländliche Gesellschaft, (III) die Familien und das kirchliche Leben, (IV) die Wahl der Ehegatten bzw. -gattinnen, (V) die uneheliche Sexualität, (VI) die Wahl der Vornamen und anschließend (VII) die Familien und die Justiz behandelt werden.

Das Buch fragt nach dem Einfluß der französischen Revolution auf die Mentalitäten. Im Anschluß an diejenigen Historiker, die sich in den 1960er bis 1980er Jahren der ‚histoire des mentalités’ gewidmet hatten - vor allem Pierre Goubert, schon im Jahre 1958, und Michel Vovelle im Jahre 1973 - definiert Philippe Daumas ‚Mentalität’ als „ein Set von Praktiken, Einstellungen und Repräsentationen, durch welche die individuellen Verhaltensweisen die Regeln des Kollektivlebens und die sozialen Verhältnisse ausdrücken“ 2 (S. 13f.). Michel Vovelles Buch zur „revolutionären Mentalität“ 3 folgend, analysiert Daumas einige demografische Indikatoren - vor allem Herkunft, Alter bei Taufe und Hochzeit, Wahl der Vornamen der Kinder, Umgang mit der religiösen Eheschließung - und kombiniert sie mit einer Erschließung von Gerichts- und Notarsakten nach dem Beispiel von Arlette Farge. 4 Die quantitative Studie ist beeindruckend: Er analysiert insgesamt 2895 Hochzeiten, 10 863 Geburten und 22 227 Vornamen in elf Dörfern in der Umgebung von Paris, die die neuen Bestimmungen und Regelungen der Regierung durchgesetzt haben. Damit schreibt er eine Kulturgeschichte der Familien in einer Periode (1775-1825), die von der französischen Revolution im weiteren Sinne geprägt ist.

Der Ansatz des zweiten Kapitels besteht darin, die Öffnung der ländlichen Gesellschaft darzulegen und ihren Anteil an der Revolution zu zeigen. Nach einigen vorsichtigen Überlegungen zum Thema der ‚Dechristinanisierung’ stellt Philippe Daumas seine These vor, dass die Revolution durch die Etablierung des Standesamtes seit 1793-1794 eine Distanzierung gegenüber der rituellen bzw. klerikalen Religion erlaubte. Im vierten Kapitel zeigt er, dass stets 18-22 Prozent der Ehegatten bzw. -gattinen von außerhalb – und nicht einmal aus angrenzenden Dörfern – kamen und nur 60 Prozent aus einer ähnlichen professionellen Gruppe stammten; das wenig homogene Hochzeitsalter (der Altersunterschied war kein Hindernis mehr) interpretiert er sogar als eine „Explosion“ (S. 132) des Hochzeitsmodells des Ancien Régime. Die Zeugung vor der Eheschließung (d.h. die Zahl der Kinder, die innerhalb von weniger als sieben Monaten nach der Hochzeit geboren wurden) betraf 18 Prozent der Paare in den Jahren 1775 bis 1825, wie Philippe Daumas im fünften Kapitel darlegt; die Quote der unehelichen Kinder betrug etwa 1 Prozent im Ancien Régime, 2 Prozent während der Revolution und 7 Prozent zwischen 1820 und 1825; das Auftauchen von nicht verheirateten Paaren ab 1800-1804 schließlich wird als eine „ideologische Wahl, die einen echten kulturellen Wandel beweist“ 5 bezeichnet.

Das sechste Kapitel ist das originellste des Buches. Philippe Daumas analysiert hier 11 400 weibliche und 10 827 männliche Vornamen, deren Veränderung für die Mädchen ausgeprägter war als für die Jungen: von den 323 benutzten weiblichen Vornamen sind ab 1785 ganze 212 Namen, von den 340 männlichen Vornamen 201 Namen neu. Während die neuen männlichen Vornamen sich vor allem auf seltene bzw. ältere Heiligennamen beziehen, sind die neuen weiblichen Vornamen echte Erfindungen. Oft gaben die Eltern ihrem Kind zwei Vornamen, einen traditionellen und einen neuen. Philippe Daumas plädiert für eine differenzierte Untersuchung der Vornamen, die den Rang der Kinder (welche Vornamen wurden z.B. dem Erstgeborenen gegeben, im Unterschied zu den jüngeren Kindern), sowie für deren phonetische Analyse (die weiblichen Vornamen auf -ie und -ine z.B., selbst Basilide, Lussine, Félicie oder Ambroisie, scheinen besonders beliebt gewesen zu sein).

Im letzten Kapitel interpretiert Philippe Daumas die revolutionäre Gesetzgebung als eine Demokratisierung der Familienverhältnisse. Gegenstände von Konflikten waren Geld (zwischen Eltern und Kindern) und Gewalttaten (meist gegen die Ehefrau). Michel Vovelle folgend, schließt Philippe Daumas, dass die Familie grundsätzlich „eine resistente Struktur“ 6 war.

Das Verdienst des Buches liegt in der präzisen und nuancierten demografischen Analyse der ländlichen Familien. Drei Elemente schwächen allerdings den allgemeinen positiven Eindruck. Der Ansatz der ‚histoire des mentalités’, der von dem Postulat der „Unbeweglichkeit der Mentalitäten“ 7 ausgeht und ein rein quantitatives Verfahren vorschlägt, scheint heutzutage nur teilweise sinnvoll. Daumas ist sich zwar bewusst, dass sich eine Studie der unterschiedlichen Wahrnehmungen der Revolution in den Familien, z.B. anhand von Tagebüchern, gelohnt hätte. Aber indem er solche Quellen unberücksichtigt lässt, hinterfragt er nur die Durchsetzung der Gesetzgebung und nicht deren Verinnerlichung. Auch eine Untersuchung der Soziabilität sowie eine Differenzierung in Richtung der Geschlechtergeschichte 8 hätten das Buch sicher bereichert und die ‚histoire des mentalités’ der 1970er-Jahre zu einer moderneren ‚Mentalitätsgeschichte’ gewandelt.

Die zweite Schwäche betrifft die Einschätzung der Französischen Revolution. Wie Michel Vovelle und die Historiker jener Zeit steht Daumas gewissermaßen in Empathie mit seinem Untersuchungsgegenstand. Die Revolution bleibt nicht nur ein wissenschaftlicher Gegenstand, sondern auch ein Ideal; trotz seiner Kautelen kann man z.B. seine Bezugnahme auf die von Albert Soboul annotierte Ausgabe der „Sozialistischen Geschichte der Französischen Revolution“ von Jean Jaurès 9 nicht übersehen. Die Revolution wird als Zeit der Emanzipation, d.h. auch des Fortschritts, gewertet, und die ‚Terreur’ (1793-1794), das Konsulat und das Empire vernachlässigt, obwohl der zeitliche Rahmen breit angelegt ist. Im Unterschied zu den meisten neueren Untersuchungen, die das empirische Verhalten der Akteure und deren Unsicherheiten angesichts der Beschleunigung der Ereignisse betonen, schreibt Philippe Daumas den Zeitgenossen ein klares politisches Engagement zu. 10 Er sieht die Kirche eher als einen Ort der Tradition denn als einen Akteur in der historischen Entwicklung; Modernität und der Rückgang des kirchlichen Einflusses werden gleichgesetzt.

Schließlich bezieht sich Daumas in den Fußnoten so gut wie ausschließlich auf französische Sekundärliteratur (nur drei von 324 angegebenen Titeln sind englisch). Wie ist es heutzutage möglich, eine so ‚franco-française’ Untersuchung zu schreiben? Insofern ist dieses Buch ein spätes Beispiel der nationalen Verengung der französischen Geschichtsschreibung im Laufe der 1950er und 1960er-Jahre. Dennoch widmet sich Philippe Daumas seinem Thema mit Sensibilität, was Alain Croix in seinem Vorwort betont: „Das ganze Verdienst von Philippe Daumas liegt in der mit Feinheit geführten Analyse dieser Auswirkungen, und vielleicht mehr noch, in deren Zärtlichkeit. Denn auch Zärtlichkeit ist eine Qualität des Historikers!“ 11

Anmerkungen:
1 Die kompletten Dissertationen werden immer in Form von Mikrofiches von einem Institut in Lille an alle französischen Universitätsbibliotheken gesandt.
2 „‚mentalités’, ensemble de pratiques, attitudes ou représentations par lesquelles les comportements individuels traduisent les règles de la vie collective et les rapports sociaux“.
3 Vovelle, Michel, La Mentalité révolutionnaire, Paris 1985.
4 Farge, Arlette, La Vie fragile. Violence, pouvoirs et solidarités à Paris au XVIIIe siècle, Paris 1986.
5 „choix idéologique[s] témoignant d’un véritable changement culturel“, S. 173.
6 „la famille est une structure résistante“, S. 265.
7 „l’immobilisme des mentalités“, S. 11. Vgl. auch S. 272: „l’inertie des mentalités“.
8 Philippe Daumas hat die Französische Üubersetzung des Buches von Hunt, Lynn, The Family Romance of the French Revolution, Berkeley 1992 zur Kenntnis genommen, aber nicht benutzt. Er kennt auch nicht die Untersuchung von Baxmann, Inge, Die Feste der Französischen Revolution. Inszenierung von Gesellschaft als Natur, Weinheim 1989, die die Familie als symbolische Form der politischen Praxis analysiert. Die im gleichen Jahr wie das besprochene Werk erschienene Dissertation von Fend, Mechthild, Grenzen der Männlichkeit. Der Androgyn in der französischen Kunst und Kunsttheorie 1750-1830, Berlin 2003, interpretiert die Widersprüche zwischen der politischen Ausgrenzung der Frauen und der bildlichen Repräsentation von passiven Männern.
9 Jaurès, Jean, Histoire socialiste de la Révolution française, réédition annotée par A. Soboul, Bd. 3, Paris 1970, S. 348, hier zitiert S. 268.
10 Vgl. z.B. S. 11: „Ils exprimaient aussi une volonté politique d’une étonnante modernité : celle d’éduquer le peuple par l’exercice d’une citoyenneté active, de changer radicalement les règles de la vie sociale, les habitudes séculaires, les mentalités.“
11 „Tout le mérite de Philippe Daumas est d’analyser avec une grande finesse ces effets et peut-être plus encore de les analyser avec tendresse. Car la tendresse aussi est qualité d’historien!“, Alain Croix, Vorwort, S. 10.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Land
Sprache der Rezension