Titel
Menschenwerk. Erkundungen über Kultur


Autor(en)
Scharfe, Martin
Erschienen
Köln 2002: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
387 S., 114 Abb.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Wolfgang Jacobeit, Fürstenberg/Havel

Mit dem Namen von Martin Scharfe verbindet vor allem der deutsche Volkskundler eine wissenschaftliche Persönlichkeit aus dem Tübinger Kreis um Hermann Bausinger, dessen kritische Sicht über Gegenstand und Geschichte der Volkskunde Entscheidendes zur rigorosen Um- und Neuorientierung des Faches als „empirische Kulturwissenschaft“ beigetragen hat. Von dieser Tatsache ausgehend hätte der Rezensent eine Publikation erwartet, in dem sich Martin Scharfe noch einmal als Konklusion über die Prozesshaftigkeit dieser „VolkskundeKulturwissenschaft“ – so sein häufig benutzter Terminus – äußern würde. Das ist expressis verbis nicht geschehen. Die Hinweise darauf sind relativ selten und beziehen sich eher auf eine Volkskunde „alter Art“, die Martin Scharfe seiner Zeit nicht nur schlechthin abgelehnt, sondern mit dem Blick auf die Notwendigkeit der Profilierung auf eine komplexe historische, interdisziplinär zu betreibende Wissenschaft mit einem bewussten Anteil von Untersuchungen gegenwartsrelevanter Phänomene von „Volkskultur“ verworfen hat. Dieser so entscheidende Entwicklungsprozess wird an keiner Stelle genannt. Wenn der Verfasser einige, wenige Male erwähnt, dass sich „VolkskundeKulturwissenschaft“ hauptsächlich mit der Alltagskultur der Bevölkerung beschäftige, dann mag er dies als allgemein bekanntes Ergebnis der „neuen“ Volkskunde Tübinger Provenienz voraussetzen, doch wie es dazu gekommen ist, welche Schwierigkeiten sich einerseits ergeben haben, andrerseits aber der Durchbruch zum neuen Paradigma letztlich an allen universitären Einrichtungen und wie erfolgte, hätte dem Alterswerk des emeritierten Marburger Ordinarius wohl mehr entsprochen, als die nun vorliegenden „Erkundungen über Kultur“ mit dem Hauptblick auf das „Menschenwerk“.

Gleich im Vorwort erklärt Martin Scharfe, wie es zu diesem Werk gekommen sei: Er hat jahrelang an dem Titel gearbeitet – eigentlich auf eine recht ungewöhnliche Art –,denn, was er darbietet, ist der Stoff von Lehrveranstaltungen am Marburger und Grazer Institut von 1995 bis 1999, ergänzt durch einige eigene Aufsätze. Ursprünglich hätte der Band unter dem Titel „Was ist Kultur?“ erscheinen sollen, was aber durch das Buch von Terry Eagleton „Was ist Kultur? Eine Einführung“ (München 2001) obsolet wurde. So entstand dann vielleicht auch als eine Art „Verlegenheitslösung“ (?) der Titel „Menschenwerk“, dessen Inhalt, wenn man das Buch durchgearbeitet hat, doch mehr dem ursprünglich angedachten Titel „Was ist Kultur“ entspricht.

Martin Scharfe hat ein – im besten Sinn des Wortes – Kompendium vorgelegt, das alles, was „Kultur“ ausmacht, in ihrer ganzen Differenziertheit darlegt. Eine Rezension kann dieser Stofffülle – die Gliederung des Buches umfasst fast 7 Seiten! – nicht im entferntesten gerecht werden. Sie muss versuchen, die wesentlichen Kriterien für Geschichte, Funktion und wissenschaftliche Relevanz von Kultur herauszufiltern. Dabei sind bestimmte Begrifflichkeiten, wie sie in heutigen, einschlägigen Untersuchungen erscheinen, von Wichtigkeit. Bei deren Erörterung spielt dann auch der volkskundliche Aspekt eine Rolle. Der Verfasser formuliert u.a. so: „ Eine erste Faustformel könnte [...] sagen: Krieg, Gewalt, Roheit, das Tierische, das Chaos empfinden wir als Gegensatz von Kultur – Kultur dagegen wäre der saubere Rahmen, die verläßliche Regelung, die von allen akzeptierte Ordnung des Lebens“ (S. 5). Und weiter: Den kulturwissenschaftlich-volkskundlichern Sprachgebrauch zeichne aus, „daß er weder dem Glanz der Idealisierung von Menschen und Kultur unkritisch erliegt, noch daß er erschrickt vor dem, was man mit der Rede vom Abgründigen im Menschen mehr zu verhüllen als zu bezeichnen pflegt“ (Ebd.). Dies zu ergründen, spiegele sich in der „Spannbreite der humanen Möglichkeiten“ wider, und das sind die verschiedenen Kulturwissenschaften, von denen die Mehrzahl eher die großen kulturellen Leistungen in den Vordergrund rücken. Hingegen sähen sich Volkskunde und Völkerkunde „auf ein Konzept geworfen, das die allgemeine und gewöhnlichen, aber deshalb keineswegs minder großen kulturellen Leistungen ins Zentrum des Interesses rückt. [...] Sie legen also ihrer Arbeit einen ‚weiten Kulturbegriff‘ zugrunde, [...] der die ganz unauffälligen alltäglichen“ Kulturschöpfungen berücksichtigt. Daraus hat sich seit den 1960er Jahren, wie Martin Scharfe zu recht schreibt, das „Alltagskultur-Paradigma“ herausgebildet und zwar auch als eine sich anbahnende „Überwindung der Ost-West-Konfrontation“ (S. 6) in den Volkskunden beider deutscher Nachkriegsstaaten, und dies unabhängig von den jeweils gegebenen wissenschaftshistorischen Voraussetzungen. „[...] daß der Volkskultur ein eigenes Potential an Kreativität innewohnt“ – in den 1920er Jahren schon von Wilhelm Fraenger vertreten – war eine wesentliche gemeinsame Erkenntnis.

Als Wegbereiter und Vertreter der gegenwärtigen „KulturwissenschaftVolkskunde“ widmet Martin Scharfe dann der „Erschaffung, Erhaltung und Gestaltung des Werks als Kristallisations- und Schwerpunkt von Kultur“ seine Aufmerksamkeit. Er tut dies im „Interesse einer alten [...] wertvollen und würdigen Traditionsspur der Kulturwissenschaft Volkskunde, die seit je ein Faible für die ‚Güter‘ hatte“ (S.8). “Reflexion aufs Werk“, fährt er an anderer Stelle fort, „ist also der Aspekt, der stärker als bisher zur Geltung gebracht werden soll, weil das Werk, kulturanthropologisch gesehen, vielleicht die eigentliche Pointe der menschlichen Existenz ist – einmal als Differenz zum Tier, zum andern als mögliche Überdauerung des Todes: menschenspezifisches Werk“ (S.8). In diesem Sinn „preist“ das Buch „auf weite Strecken die kulturelle Leistung des Menschen, weil erst sie ihn zum Menschen macht; es singt also, methodisch-theoretisch zumindest das Hohe Lied des Menschenwerks und täte das nicht, wenn ihm nicht bedeutende Köpfe auf diesem Weg überzeugend vorangeschritten wären“ (Ebd.), und diese lässt er in zwei langen Kapiteln „Was ist Kultur? Antworten der Klassiker“ (Teil 1 und 2, S.11-143) vor dem Leser erscheinen.

Sein wichtigster „nichtvolkskundlicher Bezugswissenschaftler“ (S. 15) ist Karl Popper, dessen Thesen für die „Neuorientierung der Volkskunde auf eine sozialwissenschaftlich fundierte Kulturwissenschaft hin“ von entscheidender Bedeutung gewesen seien. Hier ist es vor allem Poppers „Welt-3-Theorie“, die Martin Scharfe als verbindliche „Kulturtheorie“ betrachtet. Ohne diese hier analysieren zu können, ist Poppers „Welt 3“ der Bereich dessen, „was objektiv aus den geistigen Tätigkeiten der Menschen hervorgeht“, und das ist die große, weite „Welt der Objektivationen“ in Vergangenheit und Gegenwart (S. 17, 22). Es folgen sodann Erörterungen über Friedrich Schiller als „Kulturanalytiker“ (S. 27ff.), über „Kultur als Selbstschöpfungsgeschichte des Menschen: Immanuel Kant“ (S. 31ff.), über „Grundthesen“ Johann Gottfried Herders zum „Menschen als Kulturwesen“ (S. 40f.), über „Kulturen als Institution: Arnold Gehlen (S. 51ff.) und über „Kultur als Ferngestelltes: Max Scheler“ (S. 64ff).

Im zweiten Teil dieses umfangreichen Kapitels handelt der Verfasser über einige Zusammenhänge philosophischer, religiös-biblischer, naturwissenschaftlicher und psychologischer Art sowie über die jeweiligen Bezugspersönlichkeiten: Das sind der frühe Erfinder des Blitzableiters, Pfarrer Prokop Divich aus Mähren(1696-1765) (S. 72 ff.); Ludwig Feuerbach, Karl Marx und Friedrich Engels in ihren komplexen Auffassungen zum Historischen Materialismus, den Martin Scharfe als einen „der ganz wenigen theoretischen Ansätze“ apostrophiert, „die an historischen Wandlungen interessiert sind und zu erklären vermögen, warum und nach welchen Regeln sich Überbau, Welt 3, Kultur verändern“ (S. 94); über den „Leib als Voraussetzung aller Kultur“ handelt der Abschnitt über Arthur Schopenhauer mit Erörterungen über „Sterben und Tod“, über die „Metaphysik der Geschlechtsliebe“, über die „Scham“ u.a. Wenn auch ein Repräsentant des 19. Jahrhunderts nennt Martin Scharfe ihn als „Mann schon und immer noch des 21. Jahrhunderts“ (S. 95ff.). In ähnlicher Weise gegliedert sind die Ausführungen zu „Kultur als Zeichensprache der Affekte: Friedrich Nietzsche“ (S. 109ff.). Hier lesen wir über „Die nächsten Dinge (wie „die Dialektik von Kopf und Unterleib“), „Triebe und Instinkte: Hunger, Geschlechtsbegierde, Eitelkeit“, „‚Du wirst getan‘: Denken und Kulturschaffen als ‚Instinkt-Tätigkeit‘ „Herrschaft des Unbewußten“ u.a.m. Den Abschluss des Gesamtkapitels bildet gewissermaßen als logisch-wissenschaftsgeschichtliche Folgerung aus dem Bisherigen „Das Unbewußte in der Kultur: Sigmund Freud“ (S. 125ff.) mit Darlegungen zur „Psychoanalyse als Kulturwissenschaft“ sowie einer Zusammenfassung „Am Schlaf der Welt gerührt: Schopenhauer, Nietzsche und Freud.“

Was bereits als Grundton in diesem historisch-biografischen Kapitel angeklungen ist, verdichtet sich im 3. Kapitel „Bausteine zu einer Theorie der Kultur“ (S. 144 -312). Auch hier ist nur eine grobe Auswahl zu treffen wie beispielsweise die Frage „Was können wir vom historischen Ursprung des Menschengeschlechts und seiner Kultur wissen?“ (S. 147). Martin Scharfe findet die Antwort in einer Exegese des Alten Testaments (Sündenfall, Vertreibung aus dem Paradies, Brudermord), in der antiken Mythologie (Ödipus, Prometheus) und in den Mythen generell, denn sie hätten nicht nur einen „erheblichen Nutzen für das Verständnis der alten weisen Geschichten“, sondern auch für das „Verständnis der Moderne, denn die Mythen veralten nicht und gehen nicht zu Ende, auch Moderne und moderne Wissenschaft machen sie nicht überflüssig“ (S. 151).

Der folgende Abschnitt des 3. Kapitels „Die Gesamtkultur und der Einzelne“ (S. 161-182) wird eingeleitet und letztlich bestimmt von einer Sentenz aus Goethes Maximen und Reflexionen „Das Jahrhundert ist vorgerückt; jeder Einzelne aber fängt doch von vorne an“. Das ist ein bekanntes volkskundliches Problem, das seine Wurzeln bereits in der Aufklärung hat und seine Ausprägung in den positiven wie negativen Tendenzen des „kulturellen Erbes“ hat. Bezeichnend für die Schwierigkeiten dieses Aneignungsprozesses scheint dem Rezensent eine Rötelzeichnung des Malers Johann Heinrich Füssli (1778/80), die einen Künstler „verzweifelnd vor der Größe antiker Trümmer“ zeigt, deren Nachvollzug er offenbar nicht gewachsen ist.

Im Mittelpunkt des Kapitels steht aber nun „Das Werk“ (S. 183-234) mit dem Aspekt des „Gemachten und Hingestellten“. Das eben ist dieses „Menschenwerk“ in seiner großen Differenziertheit und als der eigentliche Ausdruck von „Kultur“, von dem Martin Scharfe meint, dass es „etwas von einem Mysterium an sich“ habe (S. 188). Dem möchte der Rezensent widersprechen: Für ihn ist „Menschenwerk“ ganz gleich aus welchem Bereich etwas sehr Reales, das nur im Kontext mit den Verhältnissen bestimmter kulturhistorischer Epochen oder Perioden verstanden und interpretiert werden kann. Auch der Mensch als Schöpfer von Werken ist jener historisch-kulturhistorischen Deutungsebene unterworfen, und dafür sprechen eine Reihe von Gegebenheiten, die der Verfasser in diesem Kapitel anschneidet wie „Kontinuität der Aneignungen als Kontinuität des Werks“, „Arten des Werks“, „Dauer des Werks (Speicher, Museen), „Buch, Bibliothek, Enzyklopädie“, „Reproduktion und Multiplikation des Werks“ bis hin zum „elektronischen Wunder“ und schließlich „das Werk als Ware“.

Eine Reihe von Aspekten, die letztlich das Thema „Werk“ erweitern bzw. vertiefen sollen, werden in drei weiteren Abschnitten abgehandelt: „Dauer und Kontinuität in der Kultur“ (S. 234-252); „Objektive Kultur und Entfremdung“ (S.253-285) und „Das Mißverständnis in der Kultur: Verstehen, Mißverstehen und die Entstehung des Neuen“ (S.286-312). In diesen Abschnitten, so möchte der Rezensent unterstellen, wird bisweilen die Herkunft bzw. Entstehung des Textes aus Lehrveranstaltungen mit studentischen Seminarbeiträgen recht deutlich; ein Werk also im „popperschen Sinn“, wie sich der Verfasser des Öfteren auszudrücken pflegt.

Da es an einer Zusammenfassung gerade einer solchen umfangreichen Monografie fehlt, könnte das vierte und letzte Kapitel „Kultur als Gewalt und das Ende aller Dinge“ (S.313-334) als eine solche aufgefasst werden. Vielleicht aber ist dieses Kapitel eher als ein Ausblick gedacht, denn Martin Scharfe handelt da u.a. sehr koinzidiert darüber „Soll, wo ein Anfang war, ein Ende gedacht werden? Wird, was einmal begonnen hat, auch notwendigerweise wieder aufhören? [...] Ist es unziemlich, ein Ende der Gattung Mensch und ein Ende aller Kultur zu denken?“ (S. 318) Wenn man versucht, auf diese existentiellen Fragen eine Antwort zu finden, so eigentlich nur eine solche negativer Art, in der sich letztlich äußert „Gewalt“ gegen Menschen und Kultur, als „Pornographie des Fortschritts“, als „Fäkale Produktivität und die Arsenale des Mordes“ und als letzte Überlegung „Allegorische Notausgänge“, illustriert durch zwei Linolschnitte von Wolfgang Mattheuer „Ikarus st abgestürzt“ sowie „Prometheus verläßt das Theater“ und – eigens allein auf die letzte Seite gesetzt? – ein Holzschnitt des Nazareners Julius Schnorr von Carolsfeld (1850) „Die Vertreibung aus dem Paradies“, ein sehr reales, fast horrormäßiges Szenario, das den Betrachter beeindrucken soll und tatsächlich beeindruckt.

Es soll aber auch nicht verschwiegen werden, dass es Martin Scharfe nicht bei diesen Endzeitbildern belässt. Er fordert angesichts „des Wissens um den Unsinn unendlichen Fortschritts“ und der daraus resultierenden Angst „Aufklärung, Vernunft und vernünftige Politik“, auch wenn „man sich nicht mit Illusionen über rasche Erfolge solcher Appelle verstopfen lassen soll (S. 333). Vom Volkskundlichen her will es dem Rezensenten aber gar nicht passen, wenn Martin Scharfe eine „Ethnologie des Mülls (oder der fäkalen Produktivität)“ fordert, weil „Hauptproblem unserer Kultur nicht mehr das Machen ist, sondern das Wegkriegen des Gemachten“ (S. 328).

Abschließend bleibt der überaus umfangreiche Anmerkungsapparat von 40 Seiten zu nennen, der einem solchen Kompendium angemessen ist. Für eine bessere Benutzbarkeit dieses Werkes wäre jedoch ein Sachregister dienlich gewesen. Das Personenregister reicht da nicht aus.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension