H. Heer u.a.: Wie Geschichte gemacht wird

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Titel
Wie Geschichte gemacht wird. Zur Konstruktion von Erinnerungen an Wehrmacht und Zweiten Weltkrieg


Autor(en)
Heer, Hannes; Manoschek, Walter; Pollak, Alexander; Wodak, Ruth
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Rohdenburg, Royal Holloway University of London

Die Aufgabenstellung des interdisziplinären Projektes „Wie Geschichte gemacht wird“, das Politologie, Semiotik, Cultural Studies, Vorurteilsforschung, Diskursanalyse und Geschichtswissenschaft vereint, war die Untersuchung der Debatten rund um die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ als Fallstudie für den Umgang von Gesellschaften mit traumatischen Erfahrungen. Die Herausgeber machten es sich zum Ziel, das „unmittelbare diskursive Geschehen im Kontext der Ausstellung mit zu berücksichtigen – zu dokumentieren, zu klassifizieren, zu analysieren“ (S. 8). Für die Frage, „wie demokratische und pluralistische Gesellschaften mit traumatischen Erfahrungen und radikalen Brüchen mit Blick auf universalistische Werte umgehen“ (S. 10), haben die Herausgeber drei Untersuchungsschwerpunkte herausgearbeitet: Darstellung und Bild der Wehrmacht in Deutschland und Österreich sowie die Entwicklung dieses Bildes; Untersuchung von Instanzen kollektiven Gedächtnisses neben der Untersuchung der individuellen Erinnerung der Kriegsgeneration an den Zweiten Weltkrieg; unmittelbare Wahrnehmung der „Wehrmachtsaustellung“ in den österreichischen und deutschen Medien im Zeitraum 1995 bis 2002.

Hannes Heer und Ruth Wodak bieten zunächst eine Einführung in den gegenwärtigen Forschungsstand zu den Themen Konstruktion von Geschichtsbildern, Gedächtnis und Erfahrung, kollektives Gedächtnis, Vergangenheitspolitik und nationale Narrative. Auf dieser theoretischen Grundlage stellen sie die Entwicklung der Narrative von Vernichtungskrieg und Wehrmacht in Österreich und Deutschland dar und versuchen den Anteil der ersten Wehrmachtsausstellung daran zu beschreiben. Dabei beschränken sich die Ausführungen über die Wehrmachtsausstellung indes auf ein Mindestmaß.

Walter Manoschek fragt in einem seiner Beiträge nach Wahrnehmungsmustern von Wehrmachtssoldaten in Bezug zum Holocaust und stellt fest, dass diese als noch weitgehend unerforscht gelten müssen. Mentalität als Verhaltenspotenzial sowie der Judenmord als vermeintliche militärische und sicherheitspolitische Notwendigkeit sollten verstärkt untersucht werden. Manoschek analysiert persönliche Aufzeichnungen, Feldpostbriefe und Tagebücher der Kriegsjahre. Er erkennt an, dass das Quellenkorpus („Sammlung Sterz“) keine Induktionsschlüsse auf die gesamte Wehrmacht zulässt. Allerdings gelingt es ihm sehr gut zu zeigen, wie sich Wehrmachtssoldaten anhand ihrer mitgebrachten Feindbilder und antisemitischen Vorurteile in der Situation des Vernichtungskrieges orientierten und die Geschehnisse auf „bewährte Weise“ im Sinne der politischen Vorgaben des „Dritten Reiches“ dekodierten.

Die Auswertung der Fragebogenuntersuchung „Österreicher im Zweiten Weltkrieg“ ist ein besonders interessanter Teil des Gesamtprojektes. Untersucht werden sollte, ob sich die „staatsoffiziöse Interpretation der österreichischen Wehrmachtssoldaten“ (S. 72) im Bewusstsein der befragten ehemaligen österreichischen Wehrmachtsangehörigen wiederfindet. Das Ergebnis ist deutlich und zeigt, dass weltanschauliche Zielsetzungen des NS-Staats bei der persönlichen Interpretation der Kriegserlebnisse noch sehr präsent sind und in dieser Hinsicht von einer Opferrolle der Österreicher in der Wehrmacht nicht die Rede sein kann. Die Auswertung des Fragebogens weist zudem darauf hin, dass immerhin „mehr als ein Viertel der Befragten in den Juden die Hauptschuldigen am Ausbruch des Weltkriegs zu erkennen glaubte“ (S. 80). Diese erstmalige empirische Erhebung aus dem Jahr 1982 und ihre Auswertung durch Walter Manoschek ist vielleicht nur begrenzt auf die gesamte Wehrmacht anwendbar und kann natürlich dem einzelnen Wehrmachtsangehörigen nicht gerecht werden, doch wird die Beachtung ihrer Ergebnisse für die weitere historische Erforschung der Wehrmacht im Allgemeinen (nicht nur der Kriegsverbrechen) von herausragender Bedeutung sein.

In einem weiteren Beitrag beschäftigt sich Hannes Heer mit den 150 Interviews, die Ruth Beckermann im Oktober 1995 mit Besuchern der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ in Wien geführt hat. Aufgrund der zufälligen Auswahl der Interviewpartner, der Interviewführung und des Umstandes, dass die Interviews unmittelbar nach dem Besuch der Ausstellung durchgeführt wurden, kann man diese nicht streng wissenschaftlich auswerten. Das ist Heer auch bewusst, und er gibt nur die beobachteten Reaktionen der Interviewpartner wieder. Diese Befragten unterteilt Heer in verschiedene Altersgruppen und untersucht ihre jeweiligen Reaktionen auf die Ausstellung: Kriegskinder (1929–1935), letzte Reserve (1925–1928), die Landser (1920–1924) und die Alten (1915–1919). Heer führt ausdrücklich an, dass die Interviews nicht zum Zwecke der Forschung entstanden sind. Allein das „provokativ-hartnäckige Nachfragen“ (S. 82) weist schon darauf hin, dass wir in diesem Falle, im Gegensatz zu der Fragebogenauswertung von Walter Manoschek, keine wissenschaftlichen Ergebnisse erwarten können. Allerdings gibt der Beitrag wertvolle Denkanstöße für das Verständnis der Wahrnehmung von eigener Vergangenheit und deren Reflexion durch andere.

Der erste Beitrag des Abschnittes „Die Wehrmacht im Kollektiven Gedächtnis nach 1945“ analysiert die Argumentationsmuster der österreichischen Regierung und der Parteien gegenüber den Anspruchsberechtigten der Kriegsopferversorgung – ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht und der Waffen-SS sowie deren Hinterbliebenen – und will sie in einen erinnerungspolitischen Kontext stellen. Dargestellt werden hierfür die Entstehung des Kriegsopferversorgungsgesetzes, das am 1. Januar 1950 in Kraft trat, und die ersten Novellen vor 1955. Die Autoren Günter Sander und Walter Manoschek zeigen überzeugend, dass „nicht logische Stringenz und innere Kohärenz eines Narrativs, sondern machtpolitische Konstellationen und Interessen sowie die daraus resultierenden Deutungsangebote an Kollektive und Individuen“ im jeweiligen politischen und kulturellen Kontext letztlich bestimmen, „inwieweit und für wie lange Geschichtskonstruktion hegemonial in einer Gesellschaft verankert werden kann“ (S. 140). Das österreichische „Opfernarrativ“ wird von den Autoren bei allen politischen Parteien festgestellt, Unterschiede werden lediglich als graduell erkannt.

Wird das Projekt seinem Anspruch gerecht? Die interdisziplinäre Aufgabenstellung ist ambitioniert und von großer Wichtigkeit. Umfassende Antworten auf zentrale Fragen des „Entstehens der Geschichte“ können nur in Zusammenarbeit mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen gegeben werden. Die Debatte um die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ kann heute sicherlich noch nicht abschließend betrachtet werden, und dies ist auch den Autoren des Buches klar. Sie leisten gleichwohl einen wertvollen Beitrag zur Erforschung der Entstehung von Geschichtskonzeptionen. Nun wird es kritische Stimmen geben, die den Machern der Ausstellung „Vernichtungskrieg“ ein unabhängiges Urteil über die Diskussionen, die eben diese Ausstellung auslöste, absprechen möchten. In der Tat ist festzustellen, dass eine kritische Reflexion dieser möglichen „Befangenheit“ nicht geleistet oder gewagt wurde. Schon um kleingeistigem Kritteln den Wind aus den Segeln zu nehmen, hätte man dies nicht auslassen sollen.

Auf den Internet-Seiten des Czernin Verlages (<http://www.czernin-verlag.com>) erfahren wir auch, dass dieses Buch für ein breites Publikum geschrieben wurde. Leider ist trotzdem festzustellen, dass sich der eine oder andere Beitrag in wissenschaftlicher Sprache gefällt und eben nicht den Sprung in das klare, einfache Wort gewagt hat. Ausdrücklich sei allerdings betont, dass diese Kritik den Wert des Buches insgesamt nicht tangieren kann. Es handelt sich um ein wichtiges Dokument, das die Debatte um die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ fundiert, kritisch und aussagekräftig untersucht.