E.-C. Onken: Demokratisierung der Geschichte in Lettland

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Titel
Demokratisierung der Geschichte in Lettland. Staatsbürgerliches Bewußtsein und Geschichtspolitik im ersten Jahrzehnt der Unabhängigkeit


Autor(en)
Onken, Eva-Clarita
Erschienen
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
€ 29,70
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Oliver Loew, Deutsches Polen-Institut Darmstadt

Erst vor kurzem hat die Rede der lettischen Außenministerin zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse 2004 für Irritationen gesorgt; die Geschichte, die Sandra Kalniete erzählte, wurde als Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus verstanden. „Lettische Geschichtspolitik“ übertitelte die „taz“ ihren Artikel. 1 Was aus diesem hervorgeht, dass nämlich in Lettland die unrühmlichen Taten nicht weniger Letten im Zweiten Weltkrieg zwar diskutiert, jedoch von der jüngeren, kommunistischen Vergangenheit oft überlagert werden, belegt Eva-Clarita Onken in ihrer Berliner Dissertation eindringlich und ausführlich. Sie bietet eine Schilderung der Geschichtsdebatten in einer jungen Demokratie, die soeben erst jahrzehntelanger Unterdrückung entkommen ist und nun ihr amputiertes Gedächtnis zu rekonstruieren sucht. Die Untersuchung dieser Vergangenheitsdiskurse erlaubt laut Onken „einen tiefen Einblick in den Charakter einer Gesellschaft“, was vielleicht besser heißen sollte: „[...] in die historischen Mentalitäten einer Gesellschaft“.2

Gestützt vor allem auf eine Analyse der lettischsprachigen Presse und untermauert durch konzise theoretische Abrisse über „Nation, Nationalismus und Demokratie“ sowie über Gedächtnis, Geschichtsschreibung und Geschichtspolitik unterscheidet Onken zwei Phasen: Eine erste zwischen 1988 und 1993/95, die noch sehr von traditionell ethnisch gefärbten Konzepten geprägt war, und eine zweite, bis in die Gegenwart reichende, in der sich die Nationsdiskurse zu öffnen begannen. Dabei spielte die Sprachenfrage stets eine wichtige Rolle und führte zu einer starken Emotionalisierung der Debatte. Am Ende ihres Untersuchungszeitraums kommt die Autorin zu dem Schluss, dass „in zunehmendem Maße von zwei separaten Gemeinschaften [der russischen und der lettischen, P.O.L.] mit jeweils eigenen Wertstrukturen und Kommunikations- und Informationskanälen gesprochen werden“ kann (S. 82).

Die lettische Geschichte spielte bei diesen Diskussionen über die Nation eine wesentliche Rolle. Sie erlaubte die Ausgrenzung der Russen aus der Nationsgeschichte und half den „lettischen Letten“ bei der Konstruktion eines eigenen politischen Bewusstseins. Von zentraler Bedeutung war hier das „kommunikative Gedächtnis“. Onken geht folglich der Frage nach, „welchen Einfluß intellektuelle Diskurse und die professionelle Geschichtswissenschaft auf die Entstehung eines kollektiven Gedächtnisses und nationaler Identitätsbildung haben“ (S. 106). Zu diesem Zweck schildert sie die Entwicklung der lettischen Historiografie seit 1905, die sie als einen zentralen Elitendiskurs versteht.

Politische Brisanz gewann die Geschichte mit der Perestroika und der Erosion der bisherigen sowjetischen Geschichtssicht. Die Unabhängigkeitserklärung von 1918 war seit 1987 ebenso Anlass zu Massendemonstrationen wie die Jahrestage der stalinistischen Deportationen von 1941 und 1949. Wie bereits zeitgenössische lettische Beobachter feststellten, zeugte dies davon, dass sich die Erinnerung der Menschen nie habe völlig auslöschen lassen (S. 153). Besonders umstritten waren in der Folge einige geschichtspolitische Topoi, von denen Onken drei eingehend untersucht: Die Diskussionen um das autoritäre Ulmanis-Regime der Zwischenkriegszeit, die Debatten um Kollaboration und Widerstand zwischen 1940 und 1953 sowie die Auseinandersetzungen über die Anpassung ans Sowjetsystem. Dabei versuchten stets mehrere Gruppen, die geschichtspolitische Deutungshoheit zu gewinnen – für die Kriegszeit beispielsweise die verschiedenen Opfergruppen, aber auch die Angehörigen der an deutscher Seite kämpfenden „Lettischen Legion“. Die Frage der Kollaboration mit der NS-Besatzung ruft bis heute hitzige Debatten hervor, die Onken mit den deutschen Diskussionen um die Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg vergleicht (S. 192, Anm. 365).

In einer Zwischenbilanz reflektiert die Verfasserin den Wandel „vom historiographischen Nationalismus zum ‚liberalen Geschichtsbewußtsein‘“ (S. 226). Sie kommt zu dem Ergebnis, dass nicht etwa die Sowjetisierung des Landes 1941/44, sondern bereits der Umsturz von 1934 den zentralen Bruch für die lettische Geschichtsschreibung wie auch für eine Geschichtspolitik darstellte, die sich unter autoritären Vorzeichen nur noch sehr unausgewogen und immer weniger pluralistisch entwickeln konnte. Auch wenn heute in Lettland noch „ein apologetisch argumentierendes und stark national-affirmatives Geschichtsverständnis“ vorherrscht (S. 229), so waren doch gegen Ende der 90er-Jahre Anzeichen für eine Neubewertung der Nationalgeschichte zu erkennen.

Eva-Clarita Onken fordert am Ende eine Öffnung der lettischen Geschichtsdebatten auf die nichtlettischen Bevölkerungsgruppen des Landes. Dies ist allerdings auch eine Schwachstelle ihrer eigenen Arbeit, denn trotz des Titels „Demokratisierung der Geschichte in Lettland“ erfährt der Leser fast ausschließlich etwas über die „Demokratisierung der Geschichte durch die Letten“; russische (und andere) Versuche, eine Identität in Lettland jenseits der Sowjetgeschichte zu finden, werden nicht behandelt. Hinter dem beeindruckenden methodischen Aufwand, den die Verfasserin treibt, kommen auch die vielfach vorhandenen lokalen Initiativen zu kurz, in denen Nationalgeschichte konterkariert wird durch die Neukonstruktion der Erinnerung „von unten“. Dennoch hat sie eine anregende Arbeit vorgelegt, die sich mit Rainer Lindners Arbeit zu Weißrussland 3 und den Veröffentlichungen einer Projektgruppe am Leipziger GWZO 4 zu einer geschichtspolitischen Bestandsaufnahme Ostmitteleuropas fügt.

Anmerkungen:
1 Semler, Christian, Lettische Geschichtspolitik, in: taz vom 26.3.2004, S. 16.
2 Zum Begriff der „historischen Mentalität“: Le Goff, Jacques, Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1992, S. 168.
3 Lindner, Rainer, Historiker und Herrschaft. Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrussland im 19. und 20. Jahrhundert (Ordnungssysteme, Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 5), München 1999. Vgl. die Rezension von Eva-Clarita Onken in H-Soz-u-Kult (http://www.h-net.msu.edu/reviews/showrev.cgi?path=18077955997673).
4 „Visuelle und historische Kulturen Ostmitteleuropas im Prozeß staatlicher und gesellschaftlicher Modernisierung seit 1918“, Projekt unter Leitung von Stefan Troebst am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig (http://www.uni-leipzig.de/gwzo/Projekte/Hist_kul.htm).

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