Märchenlexikon CD-ROM

Cover
Titel
Das Märchenlexikon.


Autor(en)
Scherf, Walter
Reihe
Digitale Bibliothek 90
Erschienen
Anzahl Seiten
1 CD-ROM
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Schmitt, Institut für Volkskunde (Wossidlo-Archiv), Universität Rostock

Wie sehr die historische und vergleichende Erzählforschung von der Virtualisierung ihrer Folkloretexte profitiert, zeigte erst 2003 die als Band 80 der „Digitalen Bibliothek“ erschienene Ausgabe „Deutsche Märchen und Sagen“. Der wesentliche Ertrag, den Generationen von Sammlern in der Zeit von 1780 bis 1920 edierten, wird hierdurch mit einem handtellergroßen Datenträger bequem und vergleichsweise billig verfügbar gemacht. Dabei ist die Digitale Bibliothek mehr als nur ein Ersatzmedium. Durch ihre Suchfunktionen kann der Benutzer jedes Mal neue Stichwörter auswerfen, die in gedruckten Registern – sofern überhaupt vorhanden – nicht zu finden sind. Für die Verlässlichkeit der in Band 80 gebotenen 24.000 (!) Texte bürgt mit Hans-Jörg Uther der derzeitige Herausgeber der „Märchen der Weltliteratur“ und langjährige Mitarbeiter der „Enzyklopädie des Märchens“.

Das nun im selben Jahr als Band 90 vorlegte „Märchenlexikon“ kann und will mit dem internationalen Handwörterbuch der Göttinger Akademie der Wissenschaften, also der „Enzyklopädie“, nicht konkurrieren. Der „Märchen“- Titel der inzwischen bei Band 11 angelangten „Enzyklopädie“ wurde seinerzeit vom Verlag de Gruyter in werbewirksamer Absicht kreiert. In Wahrheit handelt es sich um das Handwörterbuch der internationalen Erzählforschung, einen gattungsübergreifenden Wissensspeicher, der alle nur erdenkbaren Erzählstoffe und -kontexte anzuführen sucht. Bis 2002 erschienen in der „Enzyklopädie“ auf über 7.000 Seiten 2.600 Artikel der Buchstaben A bis P, die von 760 Forschern verfasst wurden; etwa die Hälfte davon stammt aus Deutschland, die andere Hälfte aus 54 Ländern aller fünf Kontinente. Im Jahre 2014 soll das dann 14-bändige Werk mit über 3.800 Artikeln fertig gestellt sein. Spätestens in zehn Jahren darf man also auf eine Digitalisierung dieses Mammutwerks gespannt sein.

Das hier zu behandelnde Nachschlagewerk von Walter Scherf ist dagegen gattungsspezifischer Natur. Denn der Autor beschränkte sich im Wesentlichen auf „eigentliche Märchen“ (ordinary folktales) – eine Kategorie, die neben Zaubermärchen auch legenden- und novellenartige Märchen umfasst. Sein Vorhaben wurde zu einer Erfolgsgeschichte. Sie begann 1982 mit dem bei Kröner verlegten „Lexikon der Zaubermärchen“, das 120 Märchen behandelt und bald vergriffen war. Scherf hatte die Märchen alphabetisch nach dem Titel ihrer „Leitfassung“ geordnet; zur Freude der Märchenliebhaber und zum Nachsehen der Fachwelt, die ihre Stoffe nach einem internationalen System von Erzähltypen aufreiht. Erzähltypen sind narrative Grundgerüste oder Erzählkerne, mit denen die Forschung ähnliche Erzählungen, also „Varianten“, zusammenzufassen sucht, um dem stofflichen Wust Herr zu werden. Die von Scherf als „leitend“ etikettierten Fassungen sind seinem eigenen, daher mitunter auch anfechtbaren Urteil geschuldet.

Das 1995 bei Beck in München erschienene „Märchenlexikon“, das die CD-Fassung unverändert abbildet, stellt eine stark erweitere Überarbeitung dar, in der Scherf auf 1.621 Seiten (!) fast 500 Märchen abhandelt. Als „Leitfassung“ der dazugehörigen 150 Erzähltypen führt er wiederum populäre Varianten an; nicht nur Texte der „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm, sondern auch die Quellen eines Basile, Straparola, Perrault, Musäus, Bechstein, Andersen oder Afanas’ev. In der Zwischenzeit hatte sich Scherf mit einer volkskundlich-tiefenpsychologischen Arbeit („Die Herausforderung des Dämons. Form und Funktion grausiger Kindermärchen“) promoviert, deren Ergebnisse in das Märchenlexikon eingeflossen sind.

Jeder Märchentext wird mit einer Minimonografie bedacht, die sich jeweils in vier Abschnitte gliedert. Im ersten Teil werden die Sammler und Gewährsleute sowie die Editions- und Überlieferungsgeschichte behandelt. Im zweiten Teil referiert Scherf die Inhalte der Märchen, was sicherlich zur Erfolgsgeschichte des Lexikonsprojekts beigetragen hat. So schmückt sich der Text zum CD-Cover wie folgt: „Der Inhalt der Märchen wird ausführlich und mit allen Details nacherzählt. Diese Nacherzählungen nehmen großen Raum ein und rücken das Lexikon in die Nähe einer reichen Märchensammlung“.

Im dritten Teil wird die Erzählung im Kontext der europäischen Überlieferung kommentiert und psychologisch gedeutet. Hier zeigt sich der besondere Ansatz des Autors, der sich zunächst volkskundlich-kulturgeschichtlich instruiert, um dann in die Entwicklungs- und Tiefenpsychologie abzugleiten – obwohl Scherf in der Einleitung (S. 28) betont, er sei der Auffassung, „dass Märchen nicht gedeutet, sondern erlebt und, unbewußt, verarbeitet werden wollen“. Gegen seine anthropologische Sicht sind historische und geografische Relativierungen letztlich belanglos. Denn Scherf sieht in den Märchen „charakteristische Aufbaustrukturen“, die als „psychodramatische Spielmaterialien“ dienen (ebd., S. 29). Er steht damit der Auffassung des russischen Formalisten Propp nicht allzu fern, der alle Märchen durch einen Supertyp, die Geschichte vom Drachentöter, erklärte und dessen Strukturplan mit Initiationsriten verglich. Mediale Transformationen und damit das Weiterleben des Märchens in der Gegenwart hat Scherf praktisch nicht berücksichtigt, handelt es sich doch nur um „beispiellose Vermarktungen der Märchen“ (Einleitung, S. 27). Derart kulturpessimistisch lässt sich die mediale Tradierung von Volksprosa allerdings nicht fassen, aus der Weltsicht eines einstigen Wandervogels ist sie dagegen konsequent. Der vierte Teil der Kleinstmonografien ist neutraler gefasst, da hier die sujetbezogene Sekundärliteratur über die Fachdisziplinen hinweg gründlich aufgelistet wird.

Das „Märchenlexikon“ wird beschlossen mit einem „Verzeichnis der Abkürzungen und Kurztitel“, die in dem sich anschließenden „Verzeichnis der Sammelwerke“ bibliografisch aufgelöst werden. Es folgt das so wichtige Verzeichnis der Erzähltypen in Anlehnung an das internationale Typenverzeichnis für Märchen und Schwänke, die „Types of the Folktale“ von Antti Aarne und Stith Thompson. Scherf schlug für einige seiner Texte Typenerweiterungen vor, was einmal mehr zeigt, wie dringend die Überarbeitung der dritten Auflage des „Aarne-Thompson“ aus dem Jahre 1961 ist, die derzeit Hans-Jörg Uther vornimmt. Abgeschlossen wird der Anhang mit einem Personen- und Motivregister.

Musste der Benutzer in der Druckfassung häufig von einer Registerabteilung in die andere wechseln, bleibt ihm dieser Umweg durch das ohnehin gründlichere Suchmenü vielfach erspart. Darüber hinaus gelangt er ausnahmslos zu jedem speziellen Verweis, etwa zu einem bestimmten Erzähltyp, der z.B. eher beiläufig als Parallelbeleg im Rahmen motivischer Erläuterungen angeführt wird. Weder die Typenauflistung noch das Motivregister des gedruckten Anhangs vermögen solches zu leisten. Vor allem können nicht nur Erzählmotive, sondern alle erdenkbaren Stichwörter, wie einzelne Pflanzen, Tiere, Requisiten, Dämonen (z.B. Hexen), Bestrafungsarten etc. abgefragt werden. Für kulturgeschichtliche Arbeiten blieb die Dimension dieser Suchhilfen bislang unterbelichtet. Dass solche Suche lohnenswert ist, haben die Arbeiten Heinz Röllekes gezeigt, der die soeben noch überschaubaren „Kinder- und Hausmärchen“ auf konventionellem Wege durchforstete. Wie viel Zeitaufwand hätte sich der Grimmforscher dagegen mit einer CD-Ausgabe erspart!

Bei aller Kritik an der einseitigen Psychologisierung des Märchens, die auch nur für den jeweils dritten Teil der knapp 500 Minimonografien gilt, bleibt das Märchenlexikon selbst für Spezialisten eine vielseitig anregende und im ganzen verlässliche Quelle. Sie ist zudem erstaunlich repräsentativ, wie dies nur einem der großen Kenner der Kinder- und Jugendliteratur und ihren folkloristischen Wurzeln gelingen konnte. Denn Walter Scherf war langjähriger Direktor der Internationalen Jugendbibliothek in Schloss Blutenburg bei München. Dass er sein Wissen mit einem solch voluminösen Kompendium im schon vorgerückten Alter preisgab, kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Die Erfolgsgeschichte seines Lexikonprojekts lässt sich nicht nur mit dessen vereinfachter Lesbarkeit, sondern auch fachlich begründen. Erst recht ist die komfortable CD zu empfehlen, auch jenen, die das Druckwerk seit Jahren besitzen.

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