C. Frierson: “All Russia is Burning”

Titel
All Russia is Burning!. A Cultural History of Fire and Arson in Late Imperial Russia


Autor(en)
Frierson, Cathy A.
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
€ 41,09
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Feest, Institut für Geschichtswissenaschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Brände waren im ausgehenden Zarenreich kein peripheres Problem. Durch Unachtsamkeit oder willentliche Brandstiftung konnten binnen weniger Stunden Leben und Existenzen vernichtet, Familien allen Eigentums beraubt oder ganze Gemeinden zu Bittstellern des Zaren werden. Die Auswirkungen sind bis auf die makroökonomische Ebene feststellbar: Die regelmäßigen Feuersbrünste, so legt Cathy Frierson in einer überaus lesenswerten Studie über Feuer und Brandstiftung im europäischen Teil Russlands dar, waren ein wichtiger Grund dafür, dass die russische Landwirtschaft zu keiner nachhaltigen ökonomischen Entwicklung fähig war und vom „europäischen Wunder“ ausgeschlossen blieb.

Friersons Blickwinkel reicht indessen weit über die materielle Dimension hinaus. In Verknüpfung mit der Ereignis- und Wirtschaftsgeschichte gilt ihr besonderes Interesse den Bedeutungen, die Feuer und Brandstiftung von den unterschiedlichen Akteuren und Beobachtern beigemessen wurden. Ganz im Sinne eines kulturgeschichtlichen Ansatzes behandelt sie Interpretationen und Bilder, mit denen den Erfahrungen Sinn verliehen wurde. Dabei erweist sich das Thema als ausgezeichnete Sonde für die allgemeinen Grundmuster unterschiedlicher Vorstellungswelten: der traditionalen dörflichen Gesellschaft auf der einen und der in zunehmendem Maße an linearen Modernisierungsmodellen orientierten städtischen Bildungsschicht auf der anderen Seite.

Friersons Abhandlung ist provokativ und engagiert. Anhand einer Fülle publizistischer, statistischer, ethnografischer und juristischer Quellen aus St. Petersburg, Smolensk, Nowgorod und Wologda bemüht sie sich nicht zuletzt um eine Gegendarstellung zu Charakterisierungen des russischen Bauern, die im ausgehenden Zarenreich geprägt worden und bis heute meinungsbildend geblieben sind. Dies wird besonders im ersten Teil des Buches deutlich, in dem die konkurrierenden Repräsentationen von Feuer als „wohltätiger Macht“ oder als „nationalem Unglück“ behandelt werden. Die Darstellung wendet sich insbesondere gegen das Vorurteil, das Verhältnis der Bauern zu dem gefährlichen Element sei von Unkenntnis, Aberglaube und Fatalismus geprägt gewesen. Tatsächlich, so das Ergebnis einer breit angelegten Rekonstruktion, war Feuer ein elementarer Bestandteil der ländlichen Alltagswelt, eine positive Kraft, deren rituelle Verehrung nicht selten in einem Zusammenhang mit ihrer elementaren praktischen Bedeutung stand.

Der Zusammenhang von Feuer und Fruchtbarkeitsriten etwa erschließt sich aus der weit ins 17. Jahrhundert hinein praktizierten Feuerrodung. Die Bauern und insbesondere die für die häusliche Feuerstelle verantwortlichen Bauersfrauen waren nach Frierson keinesfalls nur Opfer des Feuers, sondern auch seine Beherrscher und Beherrscherinnen – „they were talented fire practitioners“ (S. 37). Warum wurde diese Ansicht von den zeitgenössischen modernen Stadtbewohnern nicht geteilt? Eine zentrale Antwort des Buches lautet, dass sich für diese das Feuerproblem mit Ängsten verband, die durch die sozialen und ökonomischen Transformationen der Bauernbefreiung geweckt worden waren. Insbesondere nach den katastrophalen Bränden in St. Petersburg von 1862 eignete sich Feuer für die Stadtbewohner in besonderem Maße, um Sorgen über die nun eigenverantwortlich agierenden Bauern zu bündeln. Dabei wich eine apokalyptische Lesart bald einer „epidemischen“ Konzeptionalisierung: Im Sinne eines modernen Szientismus wurde das Feuerproblem als Krankheit aufgefasst, für deren Ausbreitung man die Rückständigkeit, Irrationalität und Achtlosigkeit der Bauern – und insbesondere der Bauersfrauen – verantwortlich machte. Diese Vorstellungen wurden von der Presse bis hin zur Hochliteratur beständig reproduziert.

Frierson geht es keinesfalls darum, die Brandgefahr als Kunstprodukt der Sorgen einer gebildeten Oberschicht zu entlarven – ein ganzes Kapitel (Kap. 3) ist den riesigen materiellen und ökonomischen Brandschäden gewidmet. Doch stellt sie die Behauptung in Frage, die Landbevölkerung habe im Umgang mit Feuer nicht gewusst, was sie tat. Auf der einen Seite verweist sie auf die Faktoren, die vom unmittelbaren Verhalten der Menschen unabhängig waren: Eng aneinander gereihte, reetgedeckte Holzhäuser, heiße Sommer und die häufige Abwesenheit der erwachsenen Dorfbewohner während der Feldarbeit schufen eine geradezu ideale Disposition für Brände.

Auf der anderen Seite hatte die Landbevölkerung laut Frierson in vieler Hinsicht ein für Außenstehende zwar schwer verständliches, aber keinesfalls passives Verhältnis zum Feuer. Die Praxis der Brandstiftung, die im zweiten Teil des Bandes behandelt wird, ist dafür das hervorstechendste Beispiel. Frierson begreift Brandstiftung nicht als Waffe der sozial Schwachen gegen die herrschende Klasse, wie es sowohl in der sowjetischen als auch in der westlichen Geschichtsschreibung häufig geschehen ist. 1 Stattdessen versucht sie, die Bedeutung von Brandstiftung aus dem lokalen Kontext heraus zu erschließen, in dem sie schon lange einen festen Platz hatte, bevor die revolutionären Ereignisse sie zu einem Instrument der „großen“ politischen Auseinandersetzungen werden ließ. Hier waren Brandstiftungen meist eine Angelegenheit unter Dorfbewohnern. Sie konnten kollektiv gebilligte Warnungen gegenüber denjenigen sein, deren Verhalten als unfair empfunden oder deren Wohlstand im Sinne einer Thomsonschen „moralischen Ökonomie“ 2 als Angriff auf das soziale Gleichgewicht angesehen wurde. In anderen Fällen resultierten sie aus persönlicher Rachsucht, der Ablehnung von Außenseitern, oder – im Falle von Versicherungsbetrügen – auch aus ökonomischem Eigeninteresse.

Die Deutung der Brandstiftung als primär innerdörfliche Angelegenheit ändert auch die Perspektive auf die Rolle des Staates. Ähnlich wie schon Joan Neuberger in ihrem Buch über Hooliganismus 3 nimmt Frierson alternative Deutungssysteme ernst, ohne der Versuchung zu erliegen, den Zentralstaat nur als illegitimen Eindringling in eine nach eigenen Regeln geordnete Gesellschaft zu begreifen. Im Gegenteil: Gerade die institutionelle Schwäche machte Brandstiftung ihrer Meinung nach zu einem attraktiven Instrument schneller und unkomplizierter Konfliktlösung. Die von „arson bullies“ tyrannisierten Dorfbewohner litten weniger unter den Anmaßungen der Staatsmacht als unter ihrer Abwesenheit.

Projekte, das dörfliche Leben nach rationalen Maßstäben neu zu organisieren, gingen dagegen insbesondere von den örtlichen Selbstverwaltungen aus. Mit der standardisierten Rekonstruktionen der Gebäude, der Einführung von Versicherungsprogrammen und der Gründung militärisch organisierter freiwilliger Feuerwehrbrigaden strebten sie, wie im dritten Teil dargestellt wird, nicht zuletzt ein Wandel von Mentalitäten und Verhaltensformen an. An die Stelle des wahrgenommenen Durcheinanders sollte das geplante Dorf treten.

Bei allen materiellen und kulturellen Schwierigkeiten, die solchen Projekten entgegenstanden, weist Frierson doch auf das positive Potential hin. Ebenso, wie sie den Bauern grundsätzliche Kompetenz im Umgang mit Feuer zugesteht, sieht sie auch eine Reihe von Indizien für ihre Bereitschaft, den Kampf gegen die Brandgefahr aktiv aufzunehmen. Einige Bauern versicherten sich über das obligatorische Mindestmaß hinaus, investierten in feuerfeste Dächer und engagierten sich in der freiwilligen Feuerwehr. Dass die Erfolge letztlich dennoch gering blieben, erklärt die in weiten Teilen kulturgeschichtlich angelegte Untersuchung dann auch mit erstaunlich handfesten Gründen: Es lag an der Schwäche der Rechtsinstitutionen auf dem Lande, insbesondere aber an der materiellen Armut und der mangelnden finanziellen Zuwendung durch den Staat. Das Feuerproblem war nicht durch die Rückständigkeit der Bauernschaft, sondern in hohem Maße durch die Budgetprioritäten des Imperiums verschuldet.

Friersons Arbeit ist nicht nur eine Pionierstudie zu einem wichtigen Thema, sondern bietet auch reichhaltige und neuartige Einblicke in die Befindlichkeiten der russischen Gesellschaft und die Beziehungen zwischen Stadt und Land in der Zeit von den großen Reformen bis zur Revolution von 1905. Sie ist darüber hinaus auch ein exzellentes Beispiel dafür, wie kulturgeschichtliche Ansätze zum Verständnis von historischen Phänomen beitragen können: weder als illustratives Beiwerk zu modellgeleiteten Ansätzen, noch als abgehobene Beschäftigung mit scheinbar autonomen Deutungsmustern und Diskursen. Sondern als differenzierte Darstellung, wie Wirklichkeit in verschiedenen, teilweise konkurrierenden Repräsentationen realisiert wurde.

Anmerkungen:
1 Etwa Zajontschkovski, P. A. (Hg.), Krest’janskoe dvischenie v Rossi v 1870–1880gg. Sbornik dokumentov, M. 1968. Am englischen Beispiel: Hobsbawm, W. J.; Rudé, G., Captain Swing, Harmondsworth 1973.
2 Vgl. Thomson, E. P., The Making of the English Working Class, New York 1966, S. 63–65
3 Neuberger, J., Hooliganism, Crime, Culture, and Power in St. Petersburg, 1900–1914, Berkeley 1993.

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