W. Scheffknecht: 100 Jahre Marktgemeinde Lustenau

Titel
100 Jahre Marktgemeinde Lustenau 1902 bis 2002. Eine Chronik


Autor(en)
Scheffknecht, Wolfgang
Anzahl Seiten
428 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Plitzner, Bregenz

Am 13. Juni 1902 ernannte Kaiser Franz Josef I. Lustenau zur Marktgemeinde. Diese Standeserhöhung war mit dem Recht auf vier zusätzliche Vieh- und Krämermärkte verbunden und die Marktgemeinde wurde heute mit über 20.000 Einwohnern die größte (Markt-)Gemeinde Österreichs. Im Westen bildet der Alpen-Rhein seit über 650 Jahren nicht nur die Gemeindegrenze. Er ist gleichzeitig auch Landes- und Staatsgrenze zwischen dem österreichischen Bundesland Vorarlberg und dem Schweizerischen Kanton St. Gallen.

Lustenaus Bürgermeister Hans-Dieter Grabher und der Gemeinderat und Kulturreferent Ernst Hagen wollten dieses Jubiläum nicht nur feiern, sie wollten es auch zum Anlass nehmen, um die „rasante Entwicklung“ der Marktgemeinde in den letzten 100 Jahren dokumentieren zu lassen und zwar in einem leicht lesbaren „wissenschaftlich-historischen Nachschlagewerk“ (S. 7). Dafür konnten sie den Lustenauer Historiker und Gemeindearchivar Wolfgang Scheffknecht gewinnen.

„Diese Chronik“ verstehe sich als knapper, unvollständiger Überblick über die letzten 100 Jahre der Marktgemeinde. Aufbau und Struktur folgen, so Scheffknecht im Vorwort „einem doppelten Prinzip: Jedem der sieben Kapitel ist ein chronikalischer Teil vorangestellt, der rasche Information zu den Ergebnissen eines Zeitabschnitts bieten soll. Im Interesse leichterer Lesbarkeit wurde hier auf einen Anmerkungsapparat verzichtet […]. Jedes der sieben Kapitel wird durch eine Reihe von Artikeln über historische Phänomene, Persönlichkeiten und Ereignisse ergänzt, die für die Ortsgeschichte von Bedeutung sind. Ihre Auswahl ist bis zu einem gewissen Grad subjektiv. […] Der vorgegebene Rahmen zwang zur Beschränkung, sodass etliche Persönlichkeiten, Phänomene und Ereignisse, die eine eingehendere Darstellung verdient hätten, unberücksichtigt bleiben mussten […]“ (S. 10f.).

Vorgelegt hat Scheffknecht ein passend illustriertes Opus, das diesen Anforderungen, Publikumsorientierung und fachwissenschaftliche Standards jederzeit erfüllt! Die Arbeit ist quellenimmanent und trotzdem sehr lese(r)freundlich, teils essayartig geschrieben, weder sperrig und langatmig. Ausgewogenheit zwischen straffer historischer Darstellung und Einbeziehen von subjektiven Erfahrungen der Zeitgenossen ist ebenfalls positiv zu er wähnen. Das ständige Prüfen der Literatur an den Lustenauer Quellen bewirkt ein eigenständiges Reflektieren der Interpretationsstränge. (z.B. S. 54: Hanisch, Ernst, Die langen Schatten des Staates, Wien 1994 oder S.35: Tanner, Albert, Spulen–Weben–Sticken. Die Industrialisierung in Appenzell Außerhoden, Zürich 1982) Auch auf die immer wieder eingestreuten gelungenen methodischen Reflexionen ist hinzuweisen.

Wiederholungen und Überschneidungen dienen dem Verständnis und sind wohl nur für den Rezensenten wahrnehmbar. Die Problemstellungen, die an aktuelle Forschungskontexte, nicht nur der Vorarlberger und der Österreichischen Geschichtsforschung sondern auch jener der Deutschen und Schweizerischen anschließen, sind überaus detailreich geschildert und decken Bereiche aus Politik und Wirtschaft, aus Kultur und Sport, aus dem kirchlichen Leben oder aus der Kunst ab. Das einzige Ordnungskriterium ist die Chronologie; stark und schwach zugleich, um die „überwältigende Komplexität der Geschichte“ (Jaques LeGoff) ein bisschen wiedergeben zu können. Um dieser Schwäche zu begegnen, so Scheffknecht, werden durch eine Reihe von Artikeln historische Phänomene, Persönlichkeiten und Ereignisse, die für die Gemeindegeschichte von Bedeutung sind, eingestreut. Darin geht Scheffknecht auf die Kausalzusammenhänge der Ereignisse, auf das Prozesshafte der historischen Entwicklung ein.

Bei den Kurzbiografien verknüpft er am Beispiel Casimir Hämmerle das allgemeine Phänomen des liberalen Bürgertums. Hämmerle begann Ende des 19. Jahrhunderts fern von der Heimat, in Wien, als Erster die Tradition der Lustenauer Mundartdichtung (S. 154), ihm folgten Beno Vetter und Hannes Grabher.

In den jeweiligen Zeitabschnitten verfolgte Scheffknecht das Ziel, Entwicklungsstränge, die das Leben im Lustenau des 20. Jahrhunderts prägten und für die Identitätsbildung maßgeblich beteiligt waren, aufzuzeigen. Dazu zählen das Liebäugeln mit dem Terminus „Ein sehr großes Dorf“ (S. 24), die Gefahren und die Lage am Rhein sowie die Nähe zur Schweizer Grenze (Schmuggler-, Fergger- und Stickereiwesen), das Hausnamen(un)wesen und die Persönlichkeiten aus Klerus, Politik, Kunst und Sport.

Die Stickerei hat alle Lebensbereiche der Bevölkerung nachhaltig durchdrungen. Ihr verdankt Lustenau den wirtschaftlichen Aufstieg und den Wohlstand, aber auch Selbstausbeutung und Kinder- und Familienarbeit mit langen Arbeitszeiten (S. 34). Die Gründung einer Handelsschule und des ersten Vorarlberger Fußballclubs sowie zahlreiche andere Vereine wären ohne Stickerei nicht denkbar. Lustenau entwickelte sich in der Zwischenkriegszeit zur absoluten Vorarlberger Sportlerhochburg. Fünf der sechs Sommerolympiadenteilnehmer 1936 kamen aus Lustenau (Ernst Künz, Fußball-Silbermedaille). Eine Wurzel der Sporthochburg ist in den politischen Verhältnissen des Ortes zu suchen. In allen Sparten gab es mehrere Vereine mit unterschiedlicher politischer Orientierung und diese Konkurrenzsituation ist nach Scheffknecht leistungsfördernd gewesen.

In den 1880er-Jahren hat mit der Kasiner-Bewegung (S. 68) die Konstituierung der politischen Lager begonnen. Eine neue Priestergeneration engagierte sich gegen die „josephinisch-staatstreue Kirchenhierarchie“(S.54). Ihr Bestreben war die Ideologisierung der Ortspolitik und des Vereinswesens. Von der Kanzel aus trieben sie die Klerikalisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens voran. Liberale mit einem katholischen Antiklerikalismus waren in der Gemeinde zahlreich, da sie über ein traditionell sehr starkes großdeutsches Lager verfügte. Diese träumten seit 1848 den Traum von der Vereinigung aller Deutschen in einem Staat.

Lustenau zählte zu den Vorarlberger NS-Hochburgen. Mit dieser Arbeit wird erstmals eine eklatante NS-Forschungslücke geschlossen. Scheffknecht folgt dabei dem Erklärungsmodell von Hans-Ulrich Wehler, der den Nationalsozialismus als ein „System-sich-überlappender-Kreise“ beschrieben hat.

In zwei weiteren Abschnitten, die den Lustenauer Bürgermeistern und der Gemeindepolitik gewidmet sind, geht Scheffknecht auf die Kontinuitäten und die Diskontinuitäten der politischen Lagerkultur ein. Auch hier wurde von Scheffknecht erstmals Grundlagenarbeit geleistet. Dabei verdeutlicht er, dass auch in Lustenau nach 1945 zwar ein Systemwechsel, aber kein Wechsel des politischen Personals stattgefunden hat. Jene, die bis in die frühen 1960er-Jahre die Ortspolitik bestimmten, hatten in der Regel bereits im Ständestaat (1934-1938) oder in der NS-Zeit wichtige Positionen bekleidet. Trotz der personellen Kontinuität vollzog sich aber auch in Lustenau der Übergang zur Konsensdemokratie.

Die Synergie von Archivar, Pädagoge und Erwachsenenbildner ist omnipräsent. Zahlreiche schnörkellose Grafiken, Tabellen und viele Bilder in ausgezeichneter Qualität zeichnen das Werk aus. Manches Mal hat man aber den Eindruck, der Wissenschaftstext hatte sich den Anweisungen des Grafikers zu fügen (keine Zwischenüberschriften). Anglizismen sind selten: Headhunter (S. 40/2), Hardliners (S. 52/3) und Boomzeit (S. 80/3) und verweisen auf den engagierten Pädagogen Scheffknecht. Ein Register hätte die wissenschaftliche Anwendbarkeit noch weiter erhöht! Gratulation an das Lektorat! Da mit einer zweiten Auflage zu rechnen ist, sei auf die Rechtschreibfehler verwiesen S. 248: Schönen(!)bach, S. 252 Cou(!)leur.

Dieses Werk entspricht ohne Zweifel den Anforderungen des Auftraggebers und es kann jederzeit als Modell und Gradmesser für die allgemeine „Lokal- bzw. Ortsgeschichte“ weit über Vorarlberg hinaus dienen. Allen Beteiligten ist zu gratulieren! Mögen viele Gemeinden und Städte diesem Beispiel folgen!

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