C. Ulbrich: Shulamit und Margarete

Titel
Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts


Autor(en)
Ulbrich, Claudia
Reihe
Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden Beiheft 4
Erschienen
Anzahl Seiten
347 S.
Preis
€ 39,80
Birgit Klein

"Shulamit und Margarete" - mit diesem Zitat aus Paul Celans Todesfuge verweist der Titel von Claudia Ulbrichs Buch auf die Kulturen, für die die beiden Namen stehen. Ihnen ist das Werk gewidmet, in dem sie Grenzen überschreitet, welche durch Sprache, Staaten, Kultur, Religion und schließlich durch das Geschlecht gesetzt sind. Geschlechterbeziehungen zu erforschen oder eine Mikrostudie zu schreiben ist inzwischen zwar keine Seltenheit mehr. Beides unternimmt Claudia Ulbrich. Dass sie sich aber auch dem jüdischen Bevölkerungsteil eines Dorfes eingehend zuwendet und hierdurch wiederum wichtige Erkenntnisse für die "allgemeine" Geschichte gewinnt, das macht eine Besonderheit ihres Werkes aus.

Das heutige Pontpierre hieß einst Steinbiedersdorf und lag bis 1793 in einer zum Reich gehörenden Enklave, der Reichsgrafschaft Kriechingen in Deutsch-Lothringen. Die Verfasserin kann sich auf eine ungewöhnlich gute Quellenlage stützen: 40 Bände Gerichtsakten aus den Jahren 1719 bis 1792 sind überliefert, die neben Schuld-, Erb- und Vormundschaftssachen auch Fälle der Strafgerichtsbarkeit dokumentieren. Daneben existieren noch 38 Jahrgedingsprotokolle aus den Jahren 1722 bis 1790, welche teilweise Rapporte der unteren Behörden (Polizeischütz, Feldschütz) enthalten. Pfarregister halten Taufen, Ehen, Todesfälle und Patenschaften fest; Visitationsprotokolle geben Auskünfte über die Klagen der Pfarrer.

Den ersten Teil des Buches (Kapitel 2-4) widmet die Verfasserin dem christlichen Teil der Gemeinde. Nach einem Überblick über die Dorfgeschichte rekonstruiert Ulbrich einfühlsam und zugleich lebendig Frauenschicksale aller Schichten. Sie zieht ein dynamisch-konfliktorientiertes Deutungsmodell der Geschlechterbeziehungen einem statisch-harmonistischen vor, was zu den beschriebenen Frauenleben paßt, die vor allem in Konfliktsituationen aktenkundig wurden.

Ausgangspunkt der Recherche ist fast immer die Kirche; hier hatte die Pfarrköchin als Schwester des Pfarrers eine hervorgehobene Position, die als beliebte Patin vor allem die besseren Kreise des Dorfes kannte. In der Kirche wurde auch die Hebamme vereidigt, die Unregelmäßigkeiten bei der Eheanbahnung oder uneheliche Schwangerschaften zu kontrollieren hatte. In der Kirche konnte das himmelblaue Kleid der Öffentlichkeit präsentiert werden, um das später eine "demütige" oder "übellästige" Witwe einen Erbstreit vom Zaun brach.

Die Verfasserin kennt nicht nur zwei starre Kategorien, die der Herrschenden und die der Beherrschten. Daher kann sie subtile Formen von Machtausübung erkennen, wenn sie danach fragt, über welches Wissen und damit über welche Macht Frauen verfügten und folglich welche Position sie im Herrschaftsgefüge einnahmen. Auf diese Weise kann sie Zwischenzonen ausmachen, in denen sich weibliche und männliche Handlungsräume überschnitten und somit die Grenzen zwischen den Geschlechtern verschwammen. Anhand der Beispiele kann die Verfasserin zeigen, dass sich die Handlungsspielräume von Frauen bei weitem nicht auf die häusliche Sphäre beschränkten, sondern auch Kirche, Straße oder Gericht wichtige Orte ihrer Aktivitäten waren.

Schließlich bettet Ulbrich die Lebensgeschichten in die ausführlich und detailliert recherchierten sozio-ökonomischen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen ein, deren Darstellung fast die Hälfte des ersten Teil des Buches ausmacht. Durch diese Kontextualisierung werden die Hintergründe des vorher Dargestellen verständlich: So profitierte eine Witwe von den Kontakten, die durch die Prozesse der Gemeinde zum Reichskammergericht hergestellt worden waren; wenn sich das in Steinbiedersdorf praktizierte Erbrecht, je nach Interessenlage, an der Landesordnung oder an den Coutumes orientierte, konnte dies für Frauen lebensgefährliche Folgen haben, da das Landesrecht das Vermögen der Mutter über die Kinder der väterlichen Familie zusprach; daher war die Familie des Mannes bei einer schwierigen Entbindung eher am Leben des Neugeborenen denn an dem der Mutter interessiert.

Allein mit diesem ersten Teil des Buches hat Ulbrich Neuland betreten, fehlten doch bislang systematische Untersuchungen zum Charakter von Geschlechterbeziehungen in der Ständegesellschaft (9). Diese Aussage gilt um so mehr für den zweiten Teil ihres Buches (Kap. 5-7), in dem sich Ulbrich dem jüdischen Teil des Dorfes zuwendet. Der starke zahlenmäßige Anteil der JüdInnen (immerhin ein Sechstel) an den EinwohnerInnen des Dorfes hat die Verf. nicht zu diesem Schritt bewogen, sondern vielmehr die Erkenntnis, dass die Geschichte von Kleinbiedersdorf unvollständig geschrieben wäre, fehlte seine jüdische Geschichte.

Nicht nur die Geschichte der Landjüdinnen und -juden ist bislang wenig erforscht; auch bei vielen für die Untersuchung wichtigen Bereichen, z.B. dem jüdischen Eherecht, kann die Verfasserin nicht auf fundierte Vorarbeiten zurückgreifen, da zahlreiche Darstellungen, wie sie zurecht kritisch anmerkt, ahistorisch sind, indem sie auf jüdischer Rechtstheorie basieren und unreflektiert übernommene, teilweise romatisierende Vorstellungen wiedergeben. Ulbrich dagegen betont die Rechtspraxis, da sie sich unter anderem auf eine Vielzahl jüdischer Eheverträge stützen kann, die für Lothringen zahlreich überliefert sind und bislang ihrer systematischen Auswertung harren. Aus vielen weiteren Quellen der obrigkeitlichen Überlieferung kann sie Aspekte jüdischen Lebens darstellen, die von judaistischer Seite lange vernachlässigt worden sind, so die Einflußnahme der Obrigkeit auf die jüdische Jurisdiktion in Eheangelegenheiten.

Zwei Häuser, nicht die Synagoge, sind nun der Ausgangspunkt der Recherche, da das Haus der Ort ist, an dem Frauen erst durch ihr Tun ermöglichen, dass die für das traditionelle Judentum essentiellen rituellen Speisegebote eingehalten oder Schabbat und Feste gefeiert werden können. Es ist reizvoll zu verfolgen, wie die Verf. nun Themen des ersten Teils aufgreift und auf den jüdischen Teil des Dorfes überträgt. Wie in der christlichen Gemeinde Landesrecht und Coutumes gegeneinander ausgespielt wurden, so rufen nun die Mitglieder der jüdischen Gemeinde, je nach Interessenlage der jeweiligen Partei, obrigkeitliche oder rabbinische Gerichte an. Wie das im Haus gewährte Gastrecht den Gast in die hierarchische Ordnung des Hauses einband (58), so wird nun die ungleiche Ordnung zwischen Juden und Christen auf den Kopf gestellt, wenn christliche Gäste dem jüdischen Gastgeber Ehre erweisen und sich dessen Ordnung unterwerfen (269 f.), was womöglich der eigentliche Grund war, weshalb jüdisch-christliche Tischgemeinschaften so großen Unwillen bei Obrigkeit und Kirche hervorriefen.

Konflikte zwischen jüdischer und christlicher Dorfbevölkerung waren mehr als nur zufällige Begegnungen (270), wobei Ulbrich dazu auffordert, auch den von der Forschung bislang vernachlässigten Fällen gegenseitiger Nachbarschaftshilfe Beachtung zu schenken, für die sie in Steinbiedersdorf zahlreiche Beispiele findet. Folglich deutet sie manche Begebenheiten etwas optimistischer als vielleicht gemeinhin üblich, so den Diebstahl einer Hostie, der zwar sofort den Verdacht auf die jüdische Gemeinde lenkte, aber dennoch keine gewaltsamen Verfolgungen auslöste; dies sei ein Indiz dafür, dass es in Steinbiedersdorf "keine ernsthaften Ressentiments der ChristInnen gegenüber den jüdischen MitbewohnerInnen gegeben" habe (262 f.).

Trotz der Momente gelungenen Miteinanders weist Ulbrich ebenso deutlich auf die ungleichen Lebensbedingungen von ChristInnen und JüdInnen hin: Jüdische Existenz verdankte sich nicht dem Recht, sondern allein der Gnade des Landesherrn. Zwangsläufig kam es zu einem Nebeneinander der christlicher Gemeinde, die über den Meier in die Herrschaft integriert war, und der jüdischen Gemeinde, die über ihren Vorsteher der Landesherrschaft direkt unterstellt war. Über die Aufnahme der jüdischen Gemeindemitglieder entschied allein der Landesherr, nicht aber die christliche Gemeinde, was permanente Klagen der christlichen Gemeinde zur Folge hatte; so gingen die Steuern der jüdischen Hausbesitzer der christlichen Gemeinde verloren, da sie direkt an den Landesherrn zahlten (289). Diese "Sonderstellung" machte Juden zu Fremden im Dorf, nicht jedoch ihre andere Kultur (294).

Fast setzt die Verfasserin (obgleich selbst keine Judaistin) bei ihren LeserInnen zu viele Kenntnisse über das traditionelle Judentum voraus. So hätte vielleicht die Vielzahl der Küchen-Gerätschaften einer ausführlicheren Erklärung bedurft, oder was es mit dem "küch zeug für die oster" auf sich hatte (220). Der Hinweis auf die schlachtende Jüdin (213) hätte dahingehend ausgeführt werden können, welch hohe Voraussetzungen erforderlich waren, um rituell schlachten zu dürfen. Sicher war der Platz der Frauen in der Synagoge kein sonderlich prominenter; dennoch wollten sie, als Stifterinnen auf Toravorhängen namentlich genannt, auch hier stets allen Augen präsent sein. Ein anderer wichtiger Ort jüdischer Öffentlichkeit, der jüdische Friedhof, wird nur am Rande erwähnt; es fragt sich, ob noch Grabsteine existieren, deren Inschriften einiges über das (religiöse) Leben von Frauen aussagen könnten.

Dieser kleinen Anfragen ungeachtet ist Claudia Ulbrichs (immer kurzweilig zu lesendes) Werk eine große Bereicherung nicht nur für die historische, sondern auch die judaistische Forschung, die bislang einen mikrogeschichtlichen und anthropologischen Ansatz im deutschen Sprachraum kaum kennt. Ulbrichs konsequent betriebene mehrperspektivische Analyse der Quellen läßt die vielfältigen Beziehungen von JüdInnen und ChristInnen des Dorfes deutlich werden; allgemeine Geschichte ohne Partikulargeschichte, sei es Geschlechter- oder jüdische Geschichte, bliebe Stückwerk.

Claudia Ulbrich hat einige wichtige Impulse für weitere Untersuchungen gegeben und einen Maßstab gesetzt, an dem diese sich werden messen lassen müssen.

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