S. Lorenz (Hg.): Himmlers Hexenkartothek

Titel
Himmlers Hexenkartothek. Das Interesse des Nationalsozialismus an der Hexenverfolgung


Herausgeber
Lorenz, Sönke
Reihe
Hexenforschung 4
Erschienen
Anzahl Seiten
197 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriele Beisswanger, Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften mit Schwerpunkt Pharmaziegeschichte, Technische Universität Braunschweig

Die Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit ist nicht nur in der modernen Geschlechtergeschichte ein beliebtes Forschungsthema. Unter anderem wurde auch während des Nationalsozialismus versucht, die Hexenverfolgung wissenschaftlich aufzuarbeiten. Zwischen 1935 und 1944 wurde auf Anweisung Heinrich Himmlers im Rahmen eines "Hexen-Sonderauftrages" eine Kartei über die Opfer der Hexenverfolgung angelegt, die jetzt als "Himmlers Hexenkartothek" selbst Gegenstand historischen Interesses geworden ist. Himmler betrachtete die Hexenprozesse als 'Verbrechen am deutschen Volk'. So sah er in der Hexenverfolgung den Versuch der (katholischen) Kirche, altgermanisches Erbe zu vernichten. Eine jüdische Konspiration sollte zudem hinter der Hexenverfolgung stehen. Durch dieses Konstrukt war das Kartothek-Projekt von Anfang an Teil der antijüdischen und antikirchlichen Propaganda der Nationalsozialisten.

Im März 1988 veranstaltete der Arbeitskreis Interdisziplinäre Hexenforschung auf Einladung der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart eine Fachtagung über Himmlers Hexenkartothek. Sie sollte eine erste Bestandsaufnahme der Arbeiten über die Kartothek sein, die erst seit Anfang der 80er Jahre einem breiteren Publikum bekannt wurde. Das Erscheinen des Tagungsbandes wurde durch die Aufarbeitung neuer Quellen und die Aufnahme weiterer Beiträge verzögert. Die Erforschung des "H-Sonderauftrags" versteht sich sowohl als Beitrag zur Geschichte des Nationalsozialismus als auch zur modernen Hexenforschung.

Mehrere Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit der historischen Einordnung der Hexenforschung im Nationalsozialismus. Dabei wird deutlich, daß die Interpretationen des Hexenwahns im Dritten Reich z.T. kontrovers waren . Barbara Schier arbeitet zwei Hauptrichtungen in der Deutung des Hexenwahns heraus. Im Anschluss an Rosenbergs "Mythus des 20. Jahrhunderts" (1930) wurde die Ansicht vertreten, daß Hexenglaube und Hexenwahn dem 'germanischen Wesen' fremd gewesen seien. Dagegen behaupteten Forscher aus dem Umkreis des SS-Ahnenerbes, germanische "Männerbünde" hätten Magier und Magierinnen gelegentlich verfolgt, wenn sie dem Interesse der Allgemeinheit geschadet hätten. Erst durch den Einfluss der Kirche sei dann eine "Entartung" zum Massenwahn erfolgt. Gemeinsam war beiden Richtungen die antiklerikale und völkische Grundhaltung. Eine besonders krude Version völkischer Geschichte der Hexenverfolgungen aus dem Jahre 1936 wurde wahrscheinlich von Himmler direkt angeregt: vgl. den Beitrag von Klaus Graf über Arnold Ruge.

Solche Forschungen, nicht nur zur Hexenverfolgung, halfen im Dritten Reich, die gängige Ideologie historisch zu untermauern, eine rassische Kontinuität zu konstruieren und auf dieser Basis "Gegner" zu konturieren, deren Verfolgung durch eine imaginäre "Blutschuld" dann legitimiert werden konnte. Damit steht die nationalsozialistische Beschäftigung mit dem Thema der Hexenverfolgung im Kontext der sogenannten "Gegnerforschung". Zu diesem Themenkomplex entwickelte sich nach 1933 ein Netz von Forschungsaufträgen, die direkt vom SS-Reichsführer Himmler an Personen innerhalb des Sicherheitsdienstes vergeben wurden. Im 1939 gegründeten Reichssicherheitshauptamt (RSHA) befasste sich eine eigene Abteilung mit der "Überwachung der Erkenntnisse des Gegners und seines politischen Verhaltens". Aufgabe dieser von Alfred Six 1 geleiteten Abteilung war die Sammlung und Bereitstellung wissenschaftlichen Materials für das RSHA und die Dokumentation dieser Ergebnisse in eigenen Schriftreihen.

Eine der Disziplinen, die während des Nationalsozialismus einen Institutionalisierungsschub erfuhren, war die Volkskunde. Initiativen von direkt mit dem Nationalsozialismus verbundenen Institutionen trafen sich hier mit den Interessen von Akademikern, die schon seit den 20er Jahren versuchten, Volkskunde als universitäres Fach zu etablieren. Wolfgang Brückner versucht einerseits darzulegen, daß die Volkskunde kein "spezifisch nationalsozialistisch prädisponiertes Fach" sei, andererseits stellt er selbst die Vernetzung der verschiedenen inner- und außeruniversitären Strömungen in der Volkskunde während des Nationalsozialismus dar. Auch wenn die NS-Volkskunde in sich widersprüchlich gewesen sei, habe es doch bestimmte gemeinsame Charakteristika gegeben, so z.B. den Kampf gegen kirchlich oder liberal orientierte Interpretationen oder die Betonung der "Gesamtschau" gegenüber mechanistischem oder positivistischem Denken. In seiner Aufzählung derjenigen Richtungen der Volkskunde, die für die Nationalsozialisten "unakzeptabel" oder ihnen "suspekt" gewesen seien, finden sich jedoch so viele der damaligen Richtungen wieder, daß sich hier die Frage stellt, auf welcher Basis völkisches und rassistisches Gedankengut unter Akademikern überhaupt rezipierbar war. Die Vorgänge um die Hexenkartothek ermöglichen einen genaueren Blick auf den "nationalsozialistischen Wissenschaftsbetrieb", so z.B. in dem Beitrag von Jürgen Matthäus über den Bauernkriegsforscher Günther Franz. Franz war Universitätsprofessor und ranghoher Mitarbeiter im SD, der nach dem Krieg seine Universitätslaufbahn problemlos fortsetzen konnte. 2

Eine Reihe von Beiträgen des Tagungsbandes beschäftigen sich mit der Erarbeitung der Hexenkartothek und ihren konkreten Inhalten. In dem Aufsatz von Gerhard Schormann erfährt der Leser etwas mehr über diese Datensammlung: wie sie entstand, wem sie bekannt war und wie sie genutzt werden sollte. Zunächst hält der Autor fest, wie mühsam es für die nur 14 hauptamtlichen Mitarbeiter der SS-Sonderabteilung gewesen sein muss, die mehr als 30 000 Angaben zu Hexenprozessen aus den Archiven herauszufiltern. Zugleich erkennt Schormann darin aber eine Schwäche der Kartothek. Die wenigen "Sammler", die Hexenprozesse im gesamten Reichsgebiet erfassen sollten, waren auf die Hilfe, den Spürsinn und die Kenntnisse der lokalen Archivare angewiesen. Ein wesentlicher Kritikpunkt ist, daß die Mitarbeiter des RSHA bei der Anlage der Kartothek mangels einer entsprechenden Regelung keine einheitlichen Bearbeitungskriterien angewandt haben. Auch zwischen den Angaben in der Kartothek und den vorhandenen Quellen besteht teilweise ein Missverhältnis.

Indem Schormann die Kartothek unter verschiedenen Blickwinkeln vorstellt, zeigt er sehr detailliert die Grenzen der Verwertbarkeit der gesammelten Daten für die heutige Geschichtsforschung auf. Im Anschluss schildert er die verschlungenen Wege, auf denen die Kartothek nach Kriegsende in das Archiv von Poznan in Polen gelangte. Hierzulande wurde das Material erst um 1980 bekannt.

In einem weiteren Themenkomplex des Bandes wird versucht, aktuelle regionale Studien zur Hexenverfolgung mit der Kartothek zu vergleichen und auf diese Weise deren Möglichkeiten und Grenzen abzuschätzen.

Walter Rummel vergleicht in seinem Beitrag Anspruch und Wirklichkeit des H- Sonderauftrags anhand der Aktenlage in Sponheim und Kurtrier. Er stellt fest, daß hier keine systematische Auswertung stattfand. Den Bearbeitern unterliefen zudem erhebliche Lese- und Verständnisfehler, die u.a. auf einer Unkenntnis der historischen Verhältnisse basierten. Damit stellt er den Wert der Kartothek als Grundlage der modernen Forschung erheblich in Frage und möchte sie eher als ein Mittel sehen, um die eigene Archivarbeit zu kontrollieren und eventuell Zugang zu apokryphen oder zerstörten Akten zu bekommen.

In dieselbe Richtung geht die Kritik Wolfgang Behringers, der sich am Beispiel der Archive Bayerns den "NS-Historikern und Archivbeamten im Kampf mit den Quellen" widmet. Von den Autoren des Bandes äußert Behringer die meisten Bedenken hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Kartothek als Quelle. Etwas überraschend mutet dann aber doch seine Einschätzung an, daß trotz gravierender methodischer Fehler die quantifizierenden Parameter der Kartothek, wie die regionale Verteilung der Prozesse oder die Anzahl der hingerichteten Personen, mit Behringers eigenen Ergebnissen übereinstimmen. Dieses Phänomen will Behringer allerdings nicht als "Plädoyer für falsche Auswertung" (S.170) verstanden wissen; es fällt für ihn unter die Kategorie "Ironie der Statistik" (S. 173).

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Hans Sebald, der sich mit den Hexenprozessen im Fürstbistum Bamberg auseinandergesetzt hat. Im Gegensatz zu Rummel hat Sebald aber keinen Zweifel an den paläografischen Fähigkeiten der Mitarbeiter der Kartothek. Dies belegt die Notwendigkeit, die Kartothek nicht nur als Ganzes sondern auch die individuellen "Handschriften" der Mitarbeiter zu untersuchen. Anhand eigener Korrekturen der Kartothek gibt Sebald im Anhang einen tabellarischen Überblick über verschiedene soziologische Aspekte der Prozesse im Fürstbistum Bamberg und schildert anschaulich die Probleme beim Versuch einer quantitativen Auswertung der Kartothek: Viele Angaben lassen sich nicht sicher in Zahlen übertragen. Hier kommen bei den Rezensentinnen und Rezensenten dann doch Zweifel auf, ob die Kartothek überhaupt statistisch auswertbar ist.

Was die formale Seite des Bandes angeht, so ist der Zusammenhang der Beiträge untereinander gut deutlich geworden. Über ihre Anordnung läßt sich jedoch streiten. So hat der erst an siebenter Stelle stehende Beitrag von Gerhard Schormann einführenden Charakter. Er wäre weiter am Anfang des Bandes sehr hilfreich gewesen, zumal er inhaltliche Überschneidungen mit dem an vierter Stelle stehenden Beitrag von Jörg Rudolph aufweist. Das Problem von inhaltlichen Überschneidungen stellt sich auch für andere Beiträge. Desweiteren wären ein Abkürzungsverzeichnis und ein Register mit Eckdaten der Schlüsselpersonen sehr nützlich gewesen. Unter den üblichen Produktionsbedingungen wissenschaftlicher Sammelbände kann dieses Manko jedoch nicht den Herausgebern angelastet werden.

Es ist das Verdienst dieses Bandes, Himmlers Hexenkartothek einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Die Frage, welchen 'Wert' die Kartothek für die Erforschung der Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit hat, läßt sich anscheinend nicht pauschal beantworten. Der vorliegende Band zeugt davon, daß sie für die heutige Hexenforschung als eines von mehreren Hilfsmitteln zum Auffinden und teils auch zum Erschlieáen von Akten dienen kann. Dies läßt allerdings die Frage aufkommen, ob es legitim ist, eine 'braune' Hinterlassenschaft wie diese vom Erfassungs- und Rassenwahn durchzogene Kartei in den Alltag heutiger Forschung zu integrieren. Eine gründliche Analyse zur Rolle der Gegnerforschung im Dritten Reich und zu ihren Nachwirkungen in der Nachkriegs-BRD steht noch aus. In diesem Sinne hoffen wir, daß der Band erst den Anfang darstellt, diese Facette der Gegnerforschung im Dritten Reich historisch aufzuarbeiten.

Anmerkungen:
1 Zu Alfred Six vgl. Lutz Hachmeister: Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München: Beck 1998.
2 Eine jüngste Ergänzung für die im Buch mehrfach erwähnten stillen Kontinuitäten bietet die Ausstellung "Kunst in Braunschweig 1933-1945": Der von Brückner erwähnte Wilhelm Jesse (1887-1972) wurde 1932 zum Leiter des Städtischen Museums und blieb in dieser Rolle bis zu seiner Pensionierung 1952. Zu seiner Rolle in dieser Funktion, vgl. den Ausstellungkatalog: Deutsche Kunst 1933-1945 in Braunschweig. Kunst im Nationalsozialismus , hrsg. v. Städtischen Museum Braunschweig u. d. Hochschule f. Bildende Künste, Braunschweig Hildesheim: Olms Verlag 2000.

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