M. Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917-1991

Titel
Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates


Autor(en)
Hildermeier, Manfred
Erschienen
München 1998: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
1206 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietmar Neutatz, Institut fuer Kultur und Geschichte der Deutschen im oestlichen Europa, Heinrich-Heine-Universitaet Duesseldorf

Es gibt Bücher, die sich einer herkömmlichen Rezension entziehen. Zu diesen Werken gehört das Opus magnum des Göttinger Osteuropahistorikers Manfred Hildermeier, - die modernste und zugleich umfassendste der am Markt befindlichen Gesamtdarstellungen der sowjetischen Geschichte. Ist es angebracht, an einer großen Synthese, die mehr als 1200 eng bedruckte Seiten umfaßt, zu kritisieren, daß dieses oder jenes noch hätte berücksichtigt werden sollen, ohne in die Rolle eines Besserwissers zu verfallen, der vor einem imposanten Bauwerk steht und bemängelt, daß hier ein Türmchen fehlt und man dort noch einen Erker hätte anbringen können? Im folgenden soll dennoch versucht werden, das Werk hinsichtlich einer solchen Synthese angemessen scheinender Kriterien zu beurteilen, nämlich hinsichtlich Konzeption, Gliederung und Benutzerfreundlichkeit.

Gesamtdarstellungen zur russischen Geschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart hatten in den letzten Jahren Konjunktur 1. Dazu trug nicht nur das Ende der Sowjetunion bei, das zum Rückblick auf eine abgeschlossene Epoche veranlaßte, sondern auch die Tatsache, daß die inzwischen von Generationen von Studenten benutzten Kompendien Günter Stökls und Georg von Rauchs 2 schon seit längerem nicht mehr befriedigen können, da ihre Grundkonzeption trotz zwischenzeitlicher Aktualisierungen auf den Erstauflagen von 1961 bzw. 1955 beruhte. Was daher schon seit längerem fehlte, war ein verläßliches Standardwerk zur Geschichte der Sowjetunion in deutscher Sprache, das sich auf dem aktuellen Stand der Forschung bewegt und auch neuere Ansätze berücksichtigt. Manfred Hildermeier hat nun diese Lücke auf beeindruckende Weise geschlossen.

Hildermeier versteht die Sowjetunion als "Modernisierungsregime neuer monokratischer und temporär totalitärer Art", dessen Hauptzweck in der zentral gelenkten Mobilisierung der Gesellschaft zu größtmöglicher ökonomischer Leistung bestand (S. 15-16). In Abgrenzung von den radikalen Kritikern der Totalitarismustheorie legt Hildermeier Wert darauf, daß trotz der Unterschiede zwischen stalinistischer und poststalinistischer Herrschaft die Sowjetunion im gesamten Zeitraum ihres Bestehens einen Kernbestand unveränderter Merkmale aufwies. Vor dem Hintergrund dieser Kontinuität von Gemeinsamkeiten unterscheidet er - im Einklang mit der üblichen Periodisierung - vier Zeitabschnitte: "Aufbau des Sowjetstaates" 1917-1929/30, "Mobilisierungsdiktatur" 1929-1941, Kriegs- und Nachkriegszeit ("Der Sieg und sein Preis") 1941-1953 sowie die Zeit von Stalins Tod bis zum Ende der Sowjetunion ("Entwickelter Sozialismus?") 1953-1991.

Innerhalb dieser Zeitabschnitte wird die innersowjetische Geschichte systematisch unter mehreren Aspekten beschrieben. Hildermeier stellt sich das Ziel, drei Ebenen miteinander zu verknüpfen: Partei und Politik, soziale und wirtschaftliche Strukturen sowie die Welt der Vorstellungen, Normen und menschlichen Prägungen in ihrer Verbindung mit den materiellen Grundlagen und der sozialen Organisation des Lebens, - also kurzgefaßt das, was von der neuen Kulturgeschichte als "Lebenswelten" definiert wird. Vor allem in dieser dritten Ebene unterscheidet sich Hildermeiers Darstellung konzeptionell von allen anderen bisher vorliegenden Gesamtdarstellungen, und zwar nicht nur jenen in deutscher Sprache.

Die Außenpolitik tritt demgegenüber in den Hintergrund. Sie findet nur insoweit Berücksichtigung, wie sie zum Verständnis der inneren Vorgänge nötig ist. Hildermeier begründet diese Reduktion mit seiner Überzeugung, daß alle darüber hinausgehenden Aspekte im internationalen Kontext anzusiedeln seien, der allein schon aus Platzgründen ausgespart bleiben müsse. - Diese Hintanstellung der Außenpolitik ist für die Zeit bis 1941 überzeugend. Für den Zweiten Weltkrieg und die Epoche des Kalten Krieges, als die Sowjetunion in die für sie neue Rolle einer Weltmacht schlüpfte und letztlich - unter anderem - an den daraus erwachsenen Belastungen zugrunde ging, sind die Wechselwirkungen zwischen innerer Entwicklung und Außenpolitik allerdings so systemimmanent, daß die weitgehende Ausblendung der letzteren problematisch erscheint.

Eine gewisse Einschränkung des Geltungsbereiches der Darstellung ist auch hinsichtlich des Charakters der Sowjetunion als Vielvölkerreich gegeben. Die "Geschichte der Sowjetunion" ist überwiegend eine Geschichte Rußlands unter sowjetischer Herrschaft, und zwar aus Moskauer Perspektive. Die Nationalitäten und die ihnen gegenüber verfolgte Politik werden folgerichtig nur am Rande behandelt. Hildermeier rechtfertigt diese bewußt in Kauf genommene Verengung mit der noch dürftigen Forschungslage zur Problematik der Peripherie und mit der extremen Zentralisierung der Entscheidungsprozesse im Sowjetsystem. Das zweite Argument ist allerdings nur begrenzt gültig. Entscheidungen in Moskau zu treffen und sie in der russischen Provinz oder gar in nichtrussischen Randgebieten in konkrete Maßnahmen umzusetzen, konnten oft recht unterschiedliche Dinge sein. Vielleicht hätte man solche Fragestellungen auf Kosten der breit dargelegten innerparteilichen Diskussionen, die nur einen relativ kleinen Kreis von Funktionären in der Zentrale betrafen, doch eingehender thematisieren können.

Die fein strukturierte Gliederung macht die Konzeption des Buches transparent. Sie ist auf der ersten Ebene chronologisch: Zwei Kapitel behandeln auf immerhin 100 Seiten die Entwicklung, die vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Oktober 1917 führte. Neun Kapitel sind dem Sowjetstaat von 1917 bis 1991 gewidmet, ein Ausblick skizziert den Weg Rußlands zur Demokratie 1991-1996. Die Darstellung beschließt eine Betrachtung über die Ursachen für das Scheitern des Sowjetsozialismus. Auf der zweiten Ebene sind die meisten Epochenkapitel in Abschnitte über Herrschaft, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Außenpolitik unterteilt. Einige Kapitel weichen von diesem Schema ab: Kapitel I und II über die Vorgeschichte, Kapitel III (Oktoberumsturz und Bürgerkrieg), Kapitel V (Revolution von oben 1929-1933), Kapitel IX (Ära Chrušcev 1953-1964) sowie die Kapitel XI und XII (1983-1996). In der Regel läßt sich diese modifizierte Schwerpunktbildung inhaltlich begründen, lediglich beim Kapitel IX über die Ära Chruschtschow ist das Fehlen der Abschnitte "Gesellschaft" und "Außenpolitik" nicht ganz einsichtig. Die Außenpolitik dieser Jahre findet sich im Kapitel über Breschnews Regime, die Gesellschaft wird lediglich bei der Wirtschaft mitberücksichtigt.

Mit der fast durchgehenden systematischen Behandlung der verschiedenen Sektoren der Entwicklung unterscheidet sich Hildermeiers Werk wohltuend von anderen Synthesen zur russischen und sowjetischen Geschichte. Die Geschichte der Sowjetunion wird dadurch nicht, wie in früheren Darstellungen, zu einer mehr oder weniger willkürlichen Aneinanderreihung jeweils gerade als wichtig herausgegriffener Ereignisse, sondern zu einem Netz miteinander korrespondierender Entwicklungsstränge. Daß auf diese Weise der durchgehende Erzählfaden mitunter verloren geht, nimmt man gern in Kauf. Schon angesichts des Umfanges wird kaum einer das Buch wie einen Roman in einem Zug von der ersten bis zur letzten Seite durchlesen, sondern man nimmt es zur Hand, um nachzuschlagen oder um einzelne Kapitel zu studieren. Hildermeier hat in realistischer Einschätzung der Leser die chronologischen Abschnitte des Buches so konzipiert, daß sie relativ autark eine Orientierung über die wichtigen Entwicklungen, Probleme und Strukturen des jeweiligen Zeitraums geben.

Dem nachschlagenden und suchenden Leser erleichtern ein Personen- und Orts- sowie ein Sachregister die Orientierung. Hinzu kommen eine (nicht besonders deutliche) Karte der Sowjetunion, ein Abkürzungsverzeichnis, ein Glossar und ein kleiner Anhang mit statistischen Übersichten, die in komprimierter Form über Bevölkerungsstruktur, Industrieproduktion, Wirtschaftswachstum, Monatslöhne und Mitgliederzahlen der Partei informieren. Das Sachregister ist ausführlich, könnte aber noch benutzerfreundlicher sein. Will man sich schnell über Themen wie Architektur, Sport, Stimmungen in der Bevölkerung, Widersetzlichkeiten, Löhne und Preise oder über den Palast der Sowjets informieren - was alles im Text zur Sprache kommt - wird man über das Register nicht fündig, sondern muß langwierig blättern. Zu bemängeln ist auch das Fehlen eines Literaturverzeichnisses. Vielleicht kann sich der Verlag bei einer Neuauflage doch noch dazu durchringen, ein solches anzufügen. Bei einem Gesamtumfang des Buches von 1206 Seiten dürften 50 Seiten mehr oder weniger die Herstellungskosten nicht explodieren lassen. So ist die weiterführende Literatur in den Anmerkungen versteckt und zum Teil nur mühsam aufzufinden, weil die Titel lediglich bei der ersten Nennung im vollen Wortlaut zitiert werden.

Die obenstehenden kritischen Bemerkungen sollen allerdings nicht verschleiern, daß es sich bei Hildermeiers "Geschichte der Sowjetunion" um eine gewaltige Leistung handelt: breit und umfassend in der Komposition, verläßlich und detailliert, was die Fakten betrifft, ausgewogen in den Interpretationen, - ein Standardwerk, an dem auf längere Sicht niemand vorbeikommen wird, der sich ernsthaft mit der russischen Geschichte befassen will.

Anmerkungen:
1 Vgl. Haumann, Heiko: Geschichte Rußlands. München 1996. Kappeler, Andreas: Russische Geschichte. München 1997. Hösch, Edgar: Geschichte Rußlands. Vom Kiever Reich bis zum Zerfall des Sowjetimperiums. Stuttgart, Berlin, Köln 1996.
2 Stökl, Günther: Russische Geschichte. 4. Aufl. Stuttgart 1983 (1. Aufl. 1961). Rauch, Georg von: Geschichte der Sowjetunion. 8. Aufl. Stuttgart 1990 (1. Aufl. 1955).

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension