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Titel
Der letzte Gerechte. Andrzej Szczypiorski. Eine Biographie


Autor(en)
Kijowska, Marta
Erschienen
Berlin 2003: Aufbau Verlag
Anzahl Seiten
397 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefani Sonntag, Frankfurter Institut für Transformationsstudien, Europa-Universität Frankfurt an der Oder

Der Kampf des Einzelnen – ob Pole, Jude oder Deutscher – im und nach dem Zweiten Weltkrieg um eine moralisch gute Haltung und gutes Handeln, dies ist das Thema in Andrzej Szczypiorskis Roman „Die schöne Frau Seidenman“. Der Roman sperrt sich programmatisch gegen eine Zuordnung von Moral und ethnischer Zugehörigkeit. So gibt es unter den Romanfiguren auch gute Deutsche und antisemitische Polen. Als „Die schöne Frau Seidenman“ 1988 auf Deutsch erschien, wurde der polnische Schriftsteller und Journalist Szczypiorski schlagartig in Deutschland bekannt. Fast alle seine Werke wurden seitdem ins Deutsche übertragen. Szczypiorski wurde auf deutschen öffentlichen Podien regelmäßig zum deutsch-polnischen Verhältnis sowie zur polnischen Kultur, Geschichte und Politik befragt. Er, der am Warschauer Aufstand von 1944 teilgenommen hatte, Häftling im KZ Sachsenhausen gewesen war und sich 1980 der Solidarność angeschlossen hatte, galt als charmanter, freundlich-ironischer „Botschafter“ des unbekannten Nachbarlandes, für das sich nicht zuletzt aufgrund der Sympathie für den Kampf der Solidarność eine breite deutsche Öffentlichkeit interessierte.

Der deutschen Wahrnehmung Szczypiorskis als „Versöhner“ stand eine sehr kritische Aufnahme seiner Arbeiten in Polen gegenüber. Viele sahen in ihm einen „Nestbeschmutzer“ und warfen ihm antipolnische Anbiederei gegenüber den Deutschen vor. So ist es kein Zufall, dass die erste Biografie des Autors auf Deutsch erscheint – vorgelegt von der in Berlin lebenden polnischen Publizistin Marta Kijowska. Sie stützt sich auf Szczypiorskis Werk sowie auf journalistische und literarische Texte von anderen polnischen und deutschen Kulturschaffenden; die wissenschaftliche Literatur zur polnischen Mentalität, Kultur und Geschichte bleibt unberücksichtigt.

Im Vorwort begründet Kijowska ihren Entschluss, diese Biografie zu schreiben: Als Szczypiorski im Mai 2000 starb, erinnerte sie sich an die zurückliegenden 12 Jahre seit der ersten Begegnung mit ihm, an „all die Jahre, in denen er, ganz allein und scheinbar mühelos, ein ganzes Kapitel der deutsch-polnischen Geschichte geschrieben“ hat (S. 10). Sie will die Dinge festhalten, „die [Szczypiorski] geprägt hatten, die daran ‚schuld’ waren, daß seine Denkweise, seine Gefühlswelt, seine Art zu agieren so und nicht anders waren. Es war mir sofort klar, daß ich, um es für den deutschen Leser nachvollziehbar zu machen, auch einiges über Polen, über die polnische Mentalität, Kultur und Geschichte, über die politischen Hintergründe und literarischen Zusammenhänge, würde erzählen müssen“ (S. 10). Kijowska will, so lässt sich schlussfolgern, in die Lücke schreiben, die Szczypiorski hinterlassen hat.

Nur einer an Polen besonders interessierten deutschen Teilöffentlichkeit war nicht entgangen, dass es vor und neben Szczypiorski in diesem deutsch-polnischen Dialog noch andere Schriftsteller und Intellektuelle gab, die „deutsch“ und „polnisch“ nicht moralisch konnotierten – man denke an Tadeusz Różewicz, Czesław Miłosz oder Jan Józef Lipski. Szczypiorski stand also durchaus nicht allein. Davon abgesehen: Eine Betrachtung von Szczypiorskis Leben eignet sich in der Tat ausgezeichnet für ein solches Kulturvermittlungsprojekt. Anhand seiner Vita lassen sich die herausragenden Ereignisse, Wendepunkte und kollektiven Traumata der polnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts mit erzählen.

Der 1928 geborene Szczypiorski wuchs in einem links-liberalen Milieu der Warschauer Vorkriegsintelligenz auf, in einer multikulturellen Stadt mit einer sichtbaren jüdischen Minderheit von 20 Prozent der Bevölkerung. Das brennende Ghetto und die Ermordung der Warschauer Juden im Zweiten Weltkrieg blieben für Szczypiorski zeit seines Lebens ein tiefer Einschnitt, ein Verlust eines Teils seiner Lebenswirklichkeit, in die er hineingeboren wurde und die ihn geprägt hatte. Nach dem Krieg begann Szczypiorski als Journalist und Rundfunkredakteur, später auch als Schriftsteller zu arbeiten. Bis in die späten 1960er-Jahre hinein bediente er die Erwartungen des Regimes und führte zum Lohn dafür ein durchaus privilegiertes Leben. Wenn Kijowska seine ersten literarischen Versuche in den 1950er-Jahren als „Spagat zwischen dem eigenen Anspruch und den Anforderungen des Regimes“ bezeichnet (S. 98), so wird nicht klar, worin dieser eigene Anspruch bestand. Bei der nachfolgenden Beschreibung der liberalen „Tauwetter“-Periode Mitte der 1950er-Jahre, in der viele Intellektuelle und Literaten sich an einer offenen, kritischen und auch ästhetischen Auseinandersetzung mit der stalinistischen Periode beteiligten, fragt man sich, welche Bedeutung diese Auseinandersetzung für Szczypiorski hatte. Hier erzählt Kijowska „einiges“ über die polnische Geschichte, wobei Szczypiorski nicht vorkommt. Zu ihm kehrt sie mit der überraschenden Überleitung zurück (S. 109): „Auch Andrzej Szczypiorski wagte in jenem ‚Tauwetter’-Jahr 1956 einen kühnen Schritt: Er trat in den diplomatischen Dienst der neuen Regierung und wurde für anderthalb Jahre Presse- und Kulturattaché an der polnischen Botschaft in Dänemark.“ Vor dem von Kijowska zitierten Vorwurf der „Kollaboration“ nimmt die Biografin Szczypiorski in Schutz, indem sie auf die Aussage eines Freundes von Szczypiorski verweist (S. 110): „Die politischen Realien seien dieser Art gewesen, daß das offene Manifestieren einer feindlichen Einstellung von Heroismus oder Idiotismus gezeugt hätte.“ Die biografische Erzählung suggeriert so, dass die „feindliche Einstellung“ vorhanden gewesen sei, auch wenn sie nicht offen gezeigt wurde.

Die nationalistisch-antisemitische Kampagne und der erzwungene jüdische Massenexodus aus Polen 1968/69 leiteten den Anfang vom Ende von Szczypiorskis Tätigkeit für die offiziellen Medien der Volksrepublik ein. Im Frühjahr 1968 führte seine Beschwerde gegen die antisemitischen Äußerungen eines Kollegen im Schriftstellerverband dazu, dass nicht dieser Kollege, sondern Szczypiorski mit öffentlichem Auftrittsverbot bestraft wurde. Im Rückblick nach 30 Jahren schrieb Szczypiorski einen wichtigen Beitrag in der polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ zur antisemitischen Hetze des Jahres 1968, in dem er betont, dass der von oben verordnete Antisemitismus in breiten Kreisen der Bevölkerung auf fruchtbaren Boden fiel. Befremdlich ist in Kijowskas Darstellung allerdings die Formulierung, Szczypiorski sei „mit der ganzen Nation hart ins Gericht“ gegangen (S. 153). Wer war Szczypiorski, dass er dies hätte tun können? Immerhin hatte er noch 1967 eine Lobeshymne auf den sowjetischen General Karol Świerczewski geschrieben – eine Auftragsarbeit des „Verbandes der Kämpfer um Freiheit und Demokratie“ (ZBOWiD), einer der Hauptakteure der antisemitischen Hetze, die unter dem Einfluss des damaligen Innenministers Mieczysław Moczar stand, der Schlüsselfigur der antisemitischen Säuberungen (S. 142). Ohne Szczypiorski eine geistige Nähe zu diesem Verband zu unterstellen, zeigt sich hier, wie schwierig es für ihn war, sich zwischen Anpassung und Protest zu entscheiden.

In den späten 1970er-Jahren publizierte Szczypiorski dann in verschiedenen Zeitschriften des politischen Untergrundes. Er unterstützte die politisch-oppositionelle Arbeit des 1976 gegründeten „Komitees zur Verteidigung der Arbeiter“ (KOR) und engagierte sich innerhalb der Solidarność, was mit dem Beginn des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 zu einer dreimonatigen Internierung führte. Nach seiner Entlassung konzentrierte sich Szczypiorski auf die schriftstellerische Arbeit. In dieser Zeit entstanden seine wichtigsten Werke, darunter „Die schöne Frau Seidenman“. Im Juni 1989 zog Szczypiorski bei den ersten halbfreien Wahlen für die Solidarność in den Senat ein. Nach 1991 kehrte er der aktiven Politik den Rücken und lebte als freier Schriftsteller und Publizist. Die politisch-publizistischen Kommentare der 1990er-Jahre zeigen Szczypiorski als einen distanzierten, vor allem moralisch argumentierenden Beobachter der Politik der III. Republik.

In Kijowskas Darstellung entsteht oft der Eindruck, als sei Szczypiorski gegen den Einfluss eines moralisch zu verurteilenden kommunistischen Regimes auf merkwürdige Weise imprägniert gewesen, obwohl er sich darin lange Zeit recht privilegiert eingerichtet hatte. Dieser Eindruck wird durch zwei erzählerische Mittel der Biografin erzeugt: Zum einen ergänzt sie ihre chronologische Erzählung an einigen Stellen mit Szczypiorskis viel später verfassten Kommentaren, in denen er klare Moralpositionen zu den historischen Ereignisse entwickelte. Zum anderen wird an einigen Stellen dem historischen Hintergrund kritisch-oppositioneller Diskurse breiter Raum geschenkt, selbst wenn Szczypiorski daran keinen aktiven Anteil hatte. Demgegenüber treten Kijowskas Bemerkungen zum häufig affirmativen Charakter von Szczypiorskis frühen Texten in den Hintergrund. So bleibt der Eindruck, dass Szczypiorski moralisch immer auf der richtigen Seite gestanden habe, was auch schon der peinlich-überzogene Titel „Der letzte Gerechte“ vorgibt.

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