E. Langthaler u.a. (Hgg.): Über die Dörfer

Titel
Über die Dörfer. Ländliche Lebenswelten in der Moderne


Herausgeber
Langthaler, Ernst; Reinhard Sieder
Reihe
Kultur als Praxis Bd. 4
Erschienen
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Hüttner, Archiv der sozialen Bewegungen Bremen (ehrenamtlich)

Im deutschsprachigen Raum werden Dörfer von vielerlei Disziplinen untersucht. Der Zugang ist dann in Interessen und Methoden auf die jeweilige Disziplin, sei es (Agrar-)Geschichte, Landschaftsplanung oder europäische Ethnologie, beschränkt. Die Meta-Theorien der "Dorfforschung" schwankten zwischen einer Modernisierungstheorie, die dem ländlichen Raum eine nachholende Entwicklung verordnen wollte, und einem Gegensatz zwischen "Gesellschaft" und der konstruierten "Gemeinschaft" des Dorfes, die die vielfältigen dörflichen Realitäten verklärte. Abseits des Mainstreams hat die Hereinnahme interdisziplinärer Theorieansätze, die Rezeption der Cultural Studies und postmoderner Denkschulen und deren Anwendung auf Landwirtschaft und ländlichen Raum zumindest bei einigen ForscherInnen stattgefunden. Ein Knoten in dieser kleinen Strömung ist das "Netzwerk für Regionalstudien" (http://members.telering.at/nrs), in dessen Umfeld auch der hier anzuzeigende Sammelband entstanden ist.

Im einführenden Artikel der beiden Herausgeber, der den Band im sozial- und kulturwissenschaftlichen Feld positioniert, werden vier Referenzen aufgemacht. Als erstes Beispiel für Herangehensweisen in der Forschung zu Dorf, Landwirtschaft und ländlicher Gesellschaft wird die Vorstellung der "rechten Romantiker" vom Dorf als Sittengemeinschaft, das es so leider nicht mehr gebe, genannt. Die Leitwissenschaft dieser Position ist die Volkskunde vor ihrer ethnologisch/anthropolgischen Wende. Die zweite Position sind die der "rechten Modernisierer", deren Leitwissenschaft die Agrarsoziologie der 1950er bis 1970er Jahre ist. Danach folgt der (neomarxistische) Ansatz der Proletarisierung der Dörfer, wie er von den "linken Modernisierern" vorgetragen wurde. Der neuste Approach, ab etwa 1980, ist der der "linken Romantiker", die vermehrt vom Eigen-Sinn des Dorfes ausgehen und deren Leitdisziplin die neuere Kulturgeschichte ist. Allein dieser systematisierende Aufsatz lohnt schon die Anschaffung des Buches, weil er die Orientierung im Dickicht der Forschung über Dörfer ermöglicht; er wirft jedoch auch die Frage auf, ob sich alle Spielarten der sozial- und kulturwissenschaftlichen Dorfforschung in dieses System fügen.

Der Ansatz von "Über die Dörfer" begreift Dorf und DorfbewohnerInnen - in Fortführung der linker Romantiker? - vor allem als netzwerkartigen "Raum von Beziehungen" (S. 24) ohne feste zeitliche und räumliche Grenzen. Die AutorInnen verstehen gesellschaftliche Verhältnisse als Voraussetzungen wie Resultate von Diskursen. Auf diese Weise setzen sie neuere Sozial- und Kulturtheorien, etwa jene Pierre Bourdieus und Michel Foucaults, zueinander in Beziehung. Im Mittelpunkt des Interesses der einzelnen Beiträge steht einerseits, wie die anderswo hergestellten Diskurse über Medien und Mediatoren im Dorf Geltung erlangen, von den DorfbewohnerInnen in der alltäglichen Kommunikation angeeignet werden: Welche Deutungen finden stillschweigend oder offen Zustimmung, welche stoßen auf Widerspruch, welche werden abgeändert? Andererseits fragen die AutorInnen auch danach, wie ländliche Akteure im alltäglichen Mit-, Neben- und Gegeneinander von Einzelnen und Gruppen auf diese Diskurse Bezug nehmen: In welchen Situationen positioniert sich ein Akteur als Vertreter eines Geschlechts, einer Klasse, einer Generation, eines Lagers, einer Ethnie, eines Milieus, einer Konfession? Kurz, es geht um die Wechselwirkungen zwischen dem diskursiven und dem sozialen Raum. Der Beitrag von Martin Neubauer untersucht, wie die männliche Jugend eines Dorfes in den Voralpen um 1960 die einschlägige Massenkultur, vor allem den deutschen Schlager, rezipiert und dabei die jugendliche Freizeitkultur eines "Seemannsclubs" ausbildet. Neubauer verfolgt den Weg der Mitglieder des Clubs weiter in die Jugendorganisation der beiden großen Parteien, der Sozialistischen Partei Österreichs und der Österreichischen Volkspartei. Ernst Langthaler diskutiert anhand überlieferter Briefe eines Bauern in den Voralpen zur Zeit des Nationalsozialismus, wie jener sich gegenüber den von außen und oben entworfenen Fremdbildern des "rationellen Landwirts" und des "sippenverbundenen Bauern" vor dem Hintergrund seines Selbstbildes als "meckernder, aber pflichtbewußter Gebirgsbauer" positioniert.

Weitere Aufsätze untersuchen die dörflichen Allianzen und Rivalitäten jugendlicher SchmugglerInnen in den 1920er und 1930er Jahren (Beate Wondra), die Rezeption massenhaft gedruckter Kolportageliteratur in einem kastilischen Gebirgsdorf (Wolfram Aichinger) oder wie Blasmusikkapellen in der Zwischenkriegszeit politische Gegensätze unter ihren Mitgliedern ausblenden müssen, um ihrer Aufgabe - der sinnlichen Repräsentation von "Dorfgemeinschaft" - gerecht zu werden (Bernhard Ecker). In einem Schlußbeitrag reflektieren die AutorInnen gemeinsam mit weiteren DiskussionspartnerInnen ihre Positionen als ForscherInnen in den Feldern der Dorfgesellschaft, der Wissenschaft und der gesellschaftlichen Machtkämpfe: "Wer spricht? Wie sprechen wir? Über wen sprechen wir? Zu wem sprechen wir?" Die ambivalenten Positionen der ForscherInnen in den dörflichen Forschungsfeldern, deren Ranglage gegenüber dem wissenschaftlichen Mainstream in beruflicher Position und theoretisch-methodischer Ausrichtung sowie die Zugehörigkeit zur Klasse der Kulturproduzenten als den "beherrschten Herrschenden" scheinen neue, ertragreiche Sichtweisen der ländlichen Welt zu eröffnen.

Der Gewinn dieses Sammelbandes besteht zweifellos darin, daß er das Dorf seiner essentialistischen Zuschreibungen durch Romantiker und Modernisierer linker wie rechter Provenienz - zeitlicher Konstanz und räumlicher Begrenzung - entkleidet. Demgegenüber versuchen die AutorInnen einen konstruktivistischen Zugang, den sie wie folgt umschreiben: "das Wahrnehmen, Deuten und Handeln der dörflichen Akteure als Resultat und Bedingung der Strukturen des Ökonomischen, Sozialen und Kulturellen in synchroner wie diachroner Perspektive zu rekonstruieren" (S. 24). Dorfgrenzen, zeitliche wie räumliche, sind unter diesem Blickwinkel nicht mehr undurchlässige Linien, sondern "Zonen des Übergangs" zwischen Innen- und Außenwelt sowie zwischen Konstanz und Wandel: zwischen den normativen Implikationen der Kolportageliteratur und der Moral des dörflichen Publikums in Kastilien, zwischen den Entwürfen nationalsozialistischer Agrareliten und bäuerlichen Identitäten in den Bergen, zwischen nationalstaatlichen Grenzen und den mentalen Raumvorstellungen burgenländischer Jugendlicher nach dem Ersten Weltkrieg, zwischen milieuspezifischen Orientierungen und dem Ethos der Blasmusikanten, zwischen der Traumwelt des deutschen Schlagers und der Lebenswelt ländlicher Jugendlicher in der Nachkriegszeit. Kurz, "die Dorfgrenzen", so die Herausgeber im einleitenden Essay, "sind nicht die Grenzen des Dorfes" (S. 7).

Die einzelnen Beiträge führen die Rekonstruktion von diskursiven und sozialen Praktiken in einer Weise vor Augen, die offen ist für theoretisch-methodische Probleme und nahe an der Empirie operiert. Daß es sich jeweils um Konstrukte von Beobachtern handelt, die in den zeit- und raumspezifischen Kontext der wissenschaftlichen Forschung eingebettet sind, wird in der abschließenden Diskussion deutlich - etwa an der Frage, ob wissenschaftliches Wissen über das Dorf an dessen BewohnerInnen vermittelbar sei, ob ein Forscher über sein Herkunftsdorf arbeiten könne, ob die verwendeten Begriffe die Forschungsergebnisse determinierten. Genau an diesem Punkt, an der Schnittstelle von wissenschaftlicher Rekonstruktion und deren Reflexion, scheint eine kritische Anmerkung angebracht: Was in der Schlußdiskussion erwogen wird, kommt im Hauptteil des Sammelbandes nur selten zur Umsetzung. Die Frage: "Wer spricht - wie, über wen, zu wem?", die Produktions- und Konsumtionsbedingungen von sozial- und kulturwissenschaftlicher Dorfforschung also, scheint aus den einzelnen Beiträgen weitgehend ausgeklammert. Es mag sinnvoll sein, Rekonstruktion und deren Reflexion auf der Ebene der Darstellung zu trennen; auf den Ebenen der Datenerhebung und -analyse scheint es hingegen - ganz im Sinn der AutorInnen - konsequent, diese beiden Denkoperationen zu verbinden. Wie eine solche "reflexive Dorfforschung" zu schreiben wäre, ist eines der vielen ungelösten Probleme der sozial- und kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der ländlichen Welt. Auf jeden Fall ist dieser Band, wie etwa auch neuere Beiträge der angloamerikanischen "rural studies" und der französischen "études rurales", ein Anlaß, die Innovation der deutschsprachigen Forschung zu Dorf, Landwirtschaft und ländlicher Gesellschaft ernsthaft anzugehen.

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