D. Hoffmann u.a. (Hgg.): Vertriebene in Deutschland

Titel
Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven


Herausgeber
Hoffmann, Dirk; Marita Krauss, Michael Schwartz
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. Sondernummer
Erschienen
München 2000: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
473 Seiten
Preis
DM 128,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Angelika Fox, Bayerisches Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Haus der Bayerischen Geschichte

Der 2000 erschienene Sammelband "Vertriebene in Deutschland" basiert auf einem Kolloquium, das bereits 1997 im Institut für Zeitgeschichte in München stattfand. Trotzdem kann der Leser davon ausgehen, dass sich der Inhalt des Werkes nicht nur auf dem neuesten Stand der Forschung befindet, sondern auch die bisherigen Forschungsergebnisse zusammenfasst und den aktuellen Forschungsstand bilanziert. Die Herausgeber haben sich darüber hinaus das Verdienst erworben, ein zentrales Thema der deutschen Nachkriegsgeschichte vergleichend und interdisziplinär anzugehen und das Untersuchungsgebiet auf (Gesamt-)Deutschland auszudehnen. Erst dadurch werden gemeinsame wie getrennte Wege der Integration von rund acht Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen in Westdeutschland und mehr als vier Millionen in der ehemaligen SBZ/DDR, die dort in der Regel als "Umsiedler" bezeichnet wurden, deutlich.

Während in den alten Bundesländern bereits seit den 50iger Jahren die Vertriebenenforschung als politisches Instrument Fuß fassen konnte und in den 80iger Jahren im Zuge einer sozial- und alltagsgeschichtlichen Neuorientierung wieder entdeckt wurde, konnte diese Problematik in den neuen Bundesländern erst nach dem Mauerfall in das Blickfeld historischer Forschung rücken. Die Freigabe datengeschützter Akten Ende der 80iger Jahre und das Heranwachsen einer Forschergeneration ohne Berührungsängste verhalfen der Bearbeitung der Flüchtlingsproblematik zu einem neuen Höhepunkt. Hinzu kam eine neue Sensibilität für Minderheitenprobleme auch in der aktuellen Politik sowie neutralere Untersuchungsmöglichkeiten durch die Anerkennung der polnischen Westgrenze und damit auch die Entschärfung ehemals vorhandener Konfliktpotentiale (dazu der Beitrag von T. Grosser über die neueste Literatur zum Thema). Obwohl sich deshalb gerade im letzten Jahrzehnt die Bedingungen für die Erforschung der Nachkriegsgeschichte fruchtbar verbessert haben, scheuen sich die Herausgeber wie auch die Autoren nicht, auf die noch immer zahlreichen Desiderata hinzuweisen. Dazu zählen u.a. grundlegende soziologische Arbeiten (Die Bilanz von U. Gerhardt zur Literatur über die Integration aus soziologischer Sicht ist dafür ein beredtes Beispiel), politikgeschichtliche Studien, empirisch-wirtschaftshistorische Untersuchungen, Wirkungsanalysen des Lastenausgleichs und nicht zuletzt die Fortführung der Diskussion über die tatsächliche Wirkung des von den Neubürgern mitgetragenen "Modernisierungsschubs" in der deutschen Nachkriegszeit.

Die einzelnen Unterkapitel des Sammelbandes gliedern sich in die Bereiche "Vorbedingungen - Methoden - Bilanzen" (M. Krauss, U. Gerhardt, T. Grosser, A. v. Plato), "Politik" (U. Haerendel, M. Schwartz, R. Messerschmidt, E. Holtmann, M. Wille), "Volkswirtschaft und Arbeitsmarkt" (D. Hoffmann, H. Heidemeyer, E. Glensk, M. Uliczka, P. Hübner), "Kultur und Gesellschaft" (Ch. Herrmann, M. v. Engelhardt, A. Eckstaedt, M. Mößlang, U. Jeggle) und schließlich "Quellen und Perspektiven" (M. Fruth, G. Hetzer, U. Ringsdorf, A. Feiber). Für eigene Forschungsvorhaben ist ein Blick in diesen letzten Teil, in denen Bestände einschlägiger Archive vorgestellt werden, unbedingt anzuraten. Einige der über 20 interessanten Beiträge sollen im Folgenden unter besonderer Berücksichtigung des Ost-West-Vergleichs kurz vorgestellt werden.

M. Krauss stellt in ihrem Beitrag über "Das ‚Wir' und das ‚Ihr'" die grundsätzliche Frage nach einer "homogenen Einheimischenkultur"; dass ein einheitliches Kulturgut der Flüchtlinge und Vertriebenen nicht existierte, lässt sich mit einem Blick auf die unterschiedlichen Herkunftsgebiete nicht schwer nachvollziehen. Vielmehr nutzten beide Seiten das "Wir" und "Ihr" als Strategie der Abgrenzung zur Wahrung der eigenen Identität in einer Zeit des Umbruchs und der Veränderung.

Aufschlussreich für Fragen zur Flüchtlingspolitik sind die Aufsätze von Ulrike Haerendel und Michael Schwartz, die sowohl für die westlichen als auch für die sowjetische Besatzungszone einen hervorragenden Überblick bieten. Zunächst verlief die Integrationspolitik in allen Besatzungszonen über ähnliche soziale Prozesse ab. Der SBZ/DDR-Führung fehlte es jedoch an einem spezifischen Integrationskonzept; Integration hatte im Rahmen der allgemeinen Sozial- und Beschäftigungspolitik abzulaufen. Schwartz gelingt es, am Beispiel der Begrifflichkeiten "Umsiedler"/"Flüchtling"/"ehemaliger Umsiedler", das Scheitern der bis 1952/53 von der SED als dezidierte "Umsiedler"-Politik betriebene Flüchtlingspolitik schlüssig darzustellen. Dennoch leugnet er nicht, dass die Debatte um die wirkungsvollere Politik zur Eingliederung der Neubürger in Ost und West nach wie vor aktuelle Brisanz hat.

Ergänzend zu diesem Themenkomplex untersuchten Everhard Holtmann bzw. Manfred Wille die Entwicklung der politischen Repräsentation der Flüchtlinge; ersterer in den westlichen Besatzungszonen, letzterer in der SBZ/DDR. Hier wie dort sahen staatliche Stellen und Parteien ihre wichtigste Aufgabe darin, einer politischen Radikalisierung entgegenzuwirken und deshalb dezidierte Flüchtlingsorganisationen zu unterbinden. Die zunehmenden Repressalien der SED gegen die Vertriebenen (die SED-Führung hatte bereits 1948 die Oder-Neiße als polnische Westgrenze anerkannt), die ihren Forderungen nach Würdigung ihres Schicksals und ihrer Verluste immer öfter Ausdruck verliehen, führte zu einer Wanderungsbewegung von Ost nach West: Zwischen 1949 und 1961 verließen 750.000 Vertriebene die DDR. Neben der quantitativen Aufarbeitung dieses Vorgangs stellt Helge Heidemeyer auch noch weitere Abwanderungsgründe vor. Einen Lastenausgleich nach westlichem Muster, also eine gesetzliche Entschädigung, wurde den Flüchtlingen und Vertriebenen in der ehemaligen DDR erst nach 1989 gewährt.

Überblick und Analyse der Entwicklung der Flüchtlingsverwaltungen auf Besatzungszonen- bzw. auf Länderebene gibt Rolf Messerschmidt. Der grundlegende Unterschied bei den Flüchtlingssonderverwaltungen in der späteren Bundesrepublik und der DDR lag darin, dass man sie hier in den allgemeinen Verwaltungsapparat eingliederte, während man sie dort einfach auflöste. Auch dieser Beitrag gewinnt durch die Übersicht über alle Besatzungszonen und damit der Möglichkeit, überregionale Vergleiche zu ziehen.

Im Bereich der wirtschaftlichen Integration weist Dierk Hoffmann auf die Probleme hin, die aufgrund der anfänglichen Unterbringung der Flüchtlinge allein nach verfügbarem Wohnraum in allen vier Besatzungszonen entstanden waren. Fallbeispiele wirtschaftlicher Integration in den Arbeitsmarkt bieten E. Glensk (für Hamburg) und M. Uliczeka (für das Volkswagenwerk). Die langfristige Aufnahmefähigkeit der Industrie in der SBZ/DDR bis zum Jahr 1950 beschreibt Peter Hübner. Zwar war in der SBZ nach offiziellen Verlautbarungen bereits Ende 1946 nahezu Vollbeschäftigung erreicht, allerdings stellt Hübner die Diskrepanzen zwischen offiziellen Bekanntmachungen und tatsächlicher beruflicher Integration heraus. Die seit 1950 massiver einsetzende Abwanderung von Fachkräften in den Westen machte der DDR schwer zu schaffen und stellte nur ein Indiz für die schleppende Vertriebeneneingliederung dar. Als allerdings in den 50iger Jahren die Industriepolitik der SED und das zentrale Planwirtschaftssystem, deren Folge auch ein hoher Personalbedarf war, griffen, kam dies auch dem industriellen Bereich zugute.

Christa Herrmann fasst das interdisziplinäre Forschungsvorhaben über den "Wandel der Sozialstruktur und geschlechtsspezifische Integrationschancen" der Vertriebenen in Bayern zusammen. Erstmals wurde systematisch das Zahlenmaterial zwischen 1939 und 1971 die Flüchtlinge und Vertriebenen betreffend erfasst und ausgewertet. Die massiven Deklassierungsprozesse sowohl der männlichen als auch weiblichen, zum Kriegsende bereits im Arbeitsleben stehenden Neubürger konnte Herrmann damit erstmals mit konkretem Zahlenmaterial bestätigen. Erst die Nachkriegsgeneration der Vertriebenen war so in der Lage, sich gleichberechtigt zu den Einheimischen in den Arbeitsprozess Bayerns eingliedern. Die unterschiedlichen Integrationsgrade abhängig von Alter und Sozialstruktur bestätigt auch Michael von Engelhardt in seinem Beitrag über Auseinandersetzung und Bewältigung persönlicher Flucht- und Vertreibungserfahrungen. Der auf der Methode narrativer Interviews von rund 210 Lebensgeschichten der Jahrgänge 1900 bis 1931 beruhende und primär qualitativ ausgerichtete Beitrag geht davon aus, dass erhebliche interne Wahrnehmungsunterschiede bei der Erlebnisgeneration auftreten, die sich selbst allerdings als Einheit sehen. Leider erfährt der Leser bei von Engelhardt nichts über die methodischen Ansätze und auch Grenzen des Forschungsprojekts. Genauso wie A. Eckstaedt, die aus psychoanalytischer Sicht Vertriebenenschicksale beurteilt, ergänzt freilich die Untersuchung von Engelhardts die quantitativen und historischen Methoden der vorangegangenen Beiträge. Als Beispiel einer vergleichsweise unkomplizierten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Integration stellt Markus Mößlang die Berufsgruppe der "Flüchtlingsprofessoren" vor. Hier kam offensichtlich der "akademischen Heimat" mehr Gewicht zu als der "geographischen Heimat", da sich diese Eliten über ihren Beruf definierten. Utz Jeggle gelingt es in seinem volkskundlich angelegten Aufsatz neben einer knappen Literaturzusammenfassung anschaulich die Aggressivität populärer Kultur - Klischees, Witze, Spitznamen - gegenüber dem und den Fremden darzustellen. Folgen waren der Rückzug auf die eigene Kultur, die Jeggle an den Beispielen des Speisezettels und der Heimatstuben näher ausführt. Der Beitrag macht deutlich, dass erst "zu Grabe getragene Hoffnungen" die Voraussetzung für einen Neuanfang bieten.

Den informativen und grundlegenden Band über die "Vertriebenen in [Gesamt- (!)]Deutschland" rundet ein umfangreiches und lückenloses Literaturverzeichnis ab. Die vorliegende Aufsatzsammlung ist ein Werk, das einerseits die bisherigen Forschungsergebnisse nicht außer acht lässt, gleichzeitig aber auch auf viele neue Aspekte aufmerksam macht. Es handelt deshalb sich um eine Veröffentlichung, die jeder in die Hand nehmen muss, der sich mit Fragen der "Flüchtlings- und Vertriebenenforschung" in den alten und neuen Bundesländern der deutschen Nachkriegszeit beschäftigen will.

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