J. Feichtinger: Wissenschaft zwischen den Kulturen

Titel
Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933-1945


Autor(en)
Feichtinger, Johannes
Reihe
Campus Forschung 816
Erschienen
Frankfurt am Main 2001: Campus Verlag
Anzahl Seiten
502 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Stachel, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Kommission f. Kulturwissenschaften und Theatergeschichte

Der junge Grazer Historiker Johannes Feichtinger hat eine umfangreiche vergleichende Studie über die Emigrationsverläufe österreichischer Wissenschaftler in den Jahren 1933 bis 1945 vorgelegt: Die Arbeit konzentriert sich im wesentlichen auf die Vertreter von drei Fachdisziplinen - Jurisprudenz und Politikwissenschaft, Nationalökonomie, Kunstgeschichte - beschränkt sich dabei jedoch nicht auf die Darstellung individueller Schicksale, sondern analysiert die Emigrationsverläufe als Akkulturaltionsprozesse, "als soziale Prozesse im disziplinären und wissenschaftskulturellen Umfeld" (S. 11). Dabei werden die Karriereverläufe und Karrierebrüche in der Emigration als Produkt des Zusammenspiels verschiedener Einflüsse - kultureller, sozialer, wissenschaftlicher, persönlicher und institutioneller Art - dargestellt, wobei auch aus der Perspektive einer rein biographischen Sichtweise nicht oder nur schwer erfaßbare Kriterien wie spezifische Qualifikationen oder Lebensalter Berücksichtigung finden.

Im wesentlichen seien - so Feichtinger - die Chancen auf wissenschaftliche Karrieren im Zufluchtsland von einem Zusammenwirken von drei Faktoren geprägt gewesen: 1.) Individuelle Voraussetzungen, wie Disziplinzugehörigkeit, sozialer Status, Akkulturationsbereitschaft, weltanschauliche Positionen, internationale Kontakte und vor allem auch Alter. 2.) Soziale und wissenschaftliche Netzwerke, Hilfsorganisationen. 3.) Soziokulturelle Bedingungen des Aufnahmelandes, disziplinspezifische Bedürfnisse, auch weltanschauliche und ökonomische Nachfrage. In diesem Zusammenhang macht der Verfasser darauf aufmerksam, daß eine bloße Konzentration auf den Zeitraum von 1938 bis 1945 nicht ausreiche, da die je individuelle Vorgeschichte vor 1938 die Emigrationsverläufe ganz entscheidend mitbestimmt habe (woraus sich auch die Festlegung des zeitlichen Rahmens im Titel der Arbeit erklärt).

Obwohl insbesondere jüngere Wissenschaftler jüdischer Abstammung bereits vor 1938 im akademischen Milieu Österreichs zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt gewesen waren, hatten nur wenige ernsthafte Versuche unternommen, im Ausland akademische Karrieren zu starten, wobei sich auch der Umstand auswirkte, daß Österreicher bis 1938, da sie als nicht unmittelbar bedroht galten, im allgemeinen nicht mit der Unterstützung internationaler Hilfsorganisationen rechnen konnten. Als in Folge des "Anschlusses" nach dem März 1938 auch zahlreiche österreichische Wissenschaftler aus "rassischen" und/oder politischen Gründen zur Flucht gezwungen waren, fanden sie daher besonders ungünstige Bedingungen vor. Nicht nur gab es in den potentiellen Aufnahmeländern allgemein - als Spätfolge der Weltwirtschaftskrise - eine hohe Akademikerarbeitslosigkeit und eine dementsprechend geringe Aufnahmebereitschaft, darüber hinaus waren die Ressourcen der entsprechenden Hilfsorganisationen durch die in den fünf vorangegangenen Jahren aus NS-Deutschland geflüchteten Wissenschaftler bereits weitgehend ausgeschöpft. Dazu kamen noch in den politischen und akademischen Milieus der potentiellen Aufnahmeländer mehr oder weniger stark ausgeprägte antisemitische Ressentiments - ein Umstand, der bislang in der historischen Forschung über die Wissenschaftsemigration noch wenig Beachtung gefunden hat. Andererseits waren die "Wissenschaftsemigranten" - deren Anteil an der Gesamtzahl von politischen und/oder "rassischen" Flüchtlingen aus Österreich (130.000 bis 150.000 in den Jahren 1938 bis 1941) sich aufgrund unklarer Spezifizierung in den Quellen, so Feichtinger, nicht exakt quantifizieren läßt - gegenüber der Masse der Flüchtlinge insofern privilegiert, als es immerhin eigene Institutionen (die diversen Akademiker-Hilfskomitees) gab, die sich ihrer Annahmen. Unter diesen in Summe jedenfalls äußerst schwierigen Voraussetzungen suchten also österreichische Wissenschaftler nach Möglichkeiten, sich durch Flucht zu retten und sich in einem neuen Umfeld eine Existenz aufzubauen, wobei sich im Konkreten sowohl tragische - zum Teil letal endende - Beispiele des Scheiterns als auch bemerkenswerte und außergewöhnliche "Erfolgsgeschichten" aufweisen lassen.

In Abgrenzung zum Großteil der bisherigen Wissenschaftsemigrationsforschung wendet sich Feichtinger deklariert gegen die Auflistung von simplen Gewinn-Verlust-Rechnungen, die - vom ehrenwerten politischen Wunsch getragen, das Exil als Form des politischen Widerstandes darzustellen - bislang die Forschungsansätze im deutschsprachigen Raum dominiert haben. Wissenstransfer kann aber, wie Feichtinger plausibel macht, nicht einfach linear als Übertragung von einem Milieu in ein anderes verstanden werden, sondern muß als wechselseitige Beeinflussung und "Akkulturation" interpretiert werden. Die erzwungene Übersiedlung in eine andere wissenschaftliche Kultur schuf oftmals völlig neue Rahmenbedingungen und Möglichkeiten, veränderte daher wissenschaftliche Zugänge und Ansätze. Nicht nur wurden die Wissenschaftskulturen der Aufnahmeländer durch den kreativen Input der Emigranten verändert, genau so muß von einer Veränderung der kognitiven Schwerpunkte und wissenschaftlichen Ausrichtungen der Emigranten durch das neue Umfeld ausgegangen werden. Innovationen von Wissenschaftsemigranten können demnach in der Regel weder als "Produkt" des Ausgangs- noch als jenes des Aufnahmelandes allein verstanden werden, vielmehr als eine Folge der Zusammenführung unterschiedlicher Denkformen, Traditionen und "Wissenschaftskulturen". Dieser Aspekt sei, so Feichtinger, in den bisher dominanten, vor allem auch individual-biographisch ausgerichteten Forschungsansätzen nicht angemessen berücksichtigt worden; es gelte daher, aus der Sicht eines kollektiv-biographischen (letztlich idealtypischen) Zugangs die Entwicklung ganzer Disziplinen zu analysieren.

Die Arbeit wird von einer allgemeinen methodischen Einführung eingeleitet an die sich eine Darstellung der soziokulturellen, ökonomischen und politischen Voraussetzungen im Aufnahmeland Großbritannien anschließt. Im dritten, überaus umfangreichen Teil (S. 55-137), wird eine gründliche und meines Wissens in dieser Form und Ausführlichkeit bislang nicht existente Darstellung der Strukturen der miteinander international vernetzten Akademiker-Hilfsorganisationen geliefert: Dafür wurde vom Verfasser eine Vielzahl neuer, bislang weitgehend unberücksichtigter Quellen, vor allem aus britischen und amerikanischen Archiven herangezogen. In erster Linie handelt es sich dabei um die umfangreichen Sammlungen der Korrespondenz der verschiedenen internationalen und nationalen Hilfsorganisationen. Da aber keineswegs alle wissenschaftlichen Emigranten durch diese Komitees vermittelt wurden, ja oftmals gerade solche Wissenschaftler, die im Zielmilieu besonders erfolgreich waren, auf anderen Wegen vermittelt worden waren, berücksichtigt Feichtinger darüber hinaus auch die Quellen von großen Forschungsförderungsinstitutionen (z.B. "Rockefeller Foundation") und bemüht sich besonders darum, anhand des umfangreichen Quellenmaterials private Netzwerke aufzuzeigen, die in der Regel erfolgversprechendere Anknüpfungspunkte darstellten, als die offiziellen Hilfsorganisationen. Nicht selten waren es österreichischen Fachkollegen, die bereits vor 1938 den Weg an ausländische wissenschaftliche Institutionen gefunden hatten, die als vermittelnde Instanzen agierten.

In den beiden daran anschließenden, deutlich kürzeren Kapiteln geht der Autor dem Einfluß des Antisemitismus auf die Postenvergabe an den österreichischen Universitäten vor 1938 nach und beschäftigt sich mit dem teilweise als Folge dieses Umstandes entstandenen außeruniversitären, gleichsam "zweiten" wissenschaftlichen Milieu in Wien. Jüngere Wissenschaftler jüdischer Herkunft hätten im Österreich der Zwischenkriegszeit so gut wie keine Chancen auf Karrieren im universitären Bereich gehabt und sich daher oft in außeruniversitären (sich teilweise überlappenden) wissenschaftlichen Gruppen und Kreisen organisiert. Gerade dadurch hätten sie aber - so Feichtinger in methodischem Anschluß an Georg Simmel und die "Marginal Man"-Theorie des amerikanischen Soziologen Robert Ezra Park - häufiger intensivere internationale Kontakte gepflegt und seien offener für neue (auch interdisziplinäre) Ansätze gewesen, als die universitär verankerten Wissenschaftler. Als eine "List der Unvernunft" (S. 12), seien daher die Chancen dieser in Österreich nicht institutionell verankert gewesenen Emigranten auf eine akademische Systemisierung in den Aufnahmeländern deutlich besser, die Zahl erfolgreicher Karrieren bei Personen aus diesem Umfeld signifikant höher gewesen, als bei jenen Wissenschaftlern, die in Österreich an Universitäten tätig gewesen waren. In einigen Fällen sei die erzwungene Emigration sogar als der primäre Auslöser einer erfolgreichen wissenschaftlichen Laufbahn anzusehen.

Einige der von Feichtinger in diesem Abschnitt zur Untermauerung seiner Hypothese vorgebrachten Beispiel sind in der Tat bemerkenswert, dennoch ist hier eine gewisse Neigung des Verfassers zu gelegentlich allzu apodiktisch formulierten Verallgemeinerungen zu verspüren: Daß junge Akademiker jüdischer Herkunft im Österreich der Jahre 1918-1938 aus rassistischen Gründen bei der universitären Postenvergabe zum Teil massivsten Benachteiligungen ausgesetzt waren, ist unbestritten, ob dies aber für den gesamten Zeitraum und für alle wissenschaftlichen Disziplinen im selben Ausmaß galt, wäre im Detail zu belegen. Ebenso wäre die Frage zu stellen, ob der Ausschluß aus dem universitären Bereich und die zum Teil daraus resultierende Zugehörigkeit zu außeruniversitären Zirkeln tatsächlich so allgemein einen Startvorteil in den Aufnahmemilieus bot, wie dies die Formulierungen Feichtingers zumindest nahelegen. Gerade in diesen beiden Punkten ist die - wohl arbeitstechnisch verständliche - Exkludierung des Faches Medizin aus der Studie als echter Mangel zu bewerten.

In den drei darauffolgenden, wiederum sehr umfangreichen Kapiteln, werden disziplinspezifisch die Emigrations- und Karriereverläufe von österreichischen Juristen, Wirtschaftswissenschaftlern und Kunsthistorikern im Exil dargestellt und analysiert. Der Autor liefert hier eine enorme und imponierende Fülle an vielfach bislang unbekannten Details; eine Fülle, die freilich auch ein wenig einschüchtert: Sie gibt beredtes Zeugnis von den aufwendigen und sorgfältigen Recherchen des Verfassers, macht aber in der allzu detaillierten Darlegung das Verständnis streckenweise einigermaßen schwierig - ohne permanentes Zurückblättern und fleißige Konsultierung des Personenindex sind die Ausführungen in diesen Kapiteln teilweise kaum nachvollziehbar. So manches Detail, so manches Originalzitat, hätte ohne jeden Verlust für die fraglos hohe Qualität der Studie ohne weiteres weggelassen oder in einen Anhang verbannt werden können. Davon abgesehen finden sich in diesen Abschnitten des Buches aber bemerkenswerte Einsichten, sowohl biographischer, als auch institutionell-struktureller Art. Wie Feichtinger an zahlreichen Beispielen schlagend belegt, stellte die innerwissenschaftliche oder auch politische Nachfrage im Aufnahmeland ein ganz wesentliches Kriterium für die wissenschaftlichen Karrierechancen von Emigranten dar. Von einigem Interesse sind auch Feichtingers Ausführungen zur zentralen Rolle einzelner Personen, die als "Gatekeeper" fungierten (z.B. Friedrich von Hayek in Großbritannien).

In Summe bleibt abschließend festzuhalten, daß Johannes Feichtingers exemplarische Analyse sowohl aufgrund ihres innovativen methodischen Zugangs als auch aufgrund der Fülle an teilweise erstmalig gründlich erschlossenen Quellenbeständen jedenfalls einen Markstein in der Erforschung der Wissenschaftsemigration (nicht nur) aus Österreich darstellt, an dem künftige Arbeiten - seien sie biographisch, seien sie disziplingeschichtlich, seien sie wissenschaftssoziologisch orientiert - nicht vorbeigehen werden können.

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