Cover
Titel
Zivilcourage. Empörte Helfer und Retter aus Wehrmacht, Polizei und SS


Herausgeber
Wette, Wolfram
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Fischer Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
361 S., 14 Abb.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernward Dörner, Technische Universität Berlin, Zentrum für Antisemitismusforschung

Der ‚Rettungswiderstand’, ein von Arno Lustiger geprägter Begriff, wurde lange ‚übersehen’, suchte die Mehrheit der Deutschen doch peinliche Fragen nach dem eigenen Verhalten zu vermeiden.1 Der vorliegende, von Wolfram Wette, einem der profiliertesten deutschen Militärhistoriker, herausgegebene Sammelband versteht sich als Fortsetzung des Buches „Retter in Uniform. Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht“.2 Er präsentiert in kurzen Fallgeschichten ein breites Spektrum widerständigen Verhaltens (also auch Exekutionsverweigerung, „Wehrkraftzersetzung“ etc.) von Angehörigen der Wehrmacht, der Polizei, der SS sowie der Organisation Todt.

Die Helfer und Retter waren eine winzige Minderheit nicht nur unter den über 18 Millionen Angehörigen der Wehrmacht. Sie stehen für die Ausnahme von der Regel, dass den Juden von nichtjüdischen Deutschen während des Genozids nicht geholfen wurde. Aus Antisemitismus, Opportunismus und Angst blieben die meisten auf Distanz. Anders dagegen die wenigen, die halfen: „Sie sind gleichsam die Goldkörnchen unter einem riesigen Haufen von historischem Schutt, der als Erinnerungslast auch auf den Schultern jener Nachgeborenen liegt, die gegen das Vergessen streiten.“ (S. 17)

Die Autoren des Sammelbandes, zumeist Historiker und Journalisten, nähern sich sehr unterschiedlich dem Thema. Sie sind aufgrund der schwierigen Quellenlage in ihren biografischen Portraits meist auf Zufallsfunde und die Mithilfe der Nachfahren der Retter und Geretteten angewiesen. Es gehört zu den Stärken der Beiträge, dass sie diese Unsicherheiten nicht verschweigen. Bei Auffindung neuer Quellen, kann sich das Bild der einzelnen Retter durchaus noch verändern. Dies wird an der fundierten Grundaussage des Buches – die Handlungsräume zu widerständigem Verhalten wurden zu wenig genutzt – nichts ändern.

Das insgesamt spannend geschriebene Buch gliedert sich in drei Teile: In einem ersten Abschnitt wird an biografischen Beispielen widerständiges Verhalten aus „Empörung, Protest und Verweigerung“ exemplifiziert. Der Hauptteil des Buches widmet sich „Rettern und Helfern in Uniform“. Ein abschließender dritter Teil, „Perspektiven“, versucht die Problematik noch einmal grundsätzlich zu überdenken. Der Anhang enthält ein Personen- und Ortsregister.

Der Füsilier Stefan Hampel, sein Schicksal beleuchtet im ersten Teil Wolfgang Oleschinski, wurde Augenzeuge von Judenerschießungen.3 Danach vermochte er nicht mehr für NS-Deutschland zu kämpfen. Der 1918 in Wilna geborene Sohn eines deutschen Polizeioffiziers und einer Polin entschloss sich zu desertieren. Monatelang hielt er sich versteckt; in die Schweiz zu fliehen, misslang. In einem „Lebenslauf“, den er im Mai 1943 im Wehrmachtgefängnis schrieb, schildert er, wie er auf seiner Suche nach seiner von sowjetischen Sicherheitsorganen 1941 verschleppten Mutter Zeuge einer Massenerschießung wurde: „Auf diesem Urlaub hatte ich auch das Erlebnis, welches dann den mittelbaren Anlass zu meiner Tat [die Desertion] gab. Voriges Jahr im Mai wurde in Weißrussland eine Aktion durchgeführt, wobei durch ein Mordkommando (wie sich die Angehörigen des Kommandos selbst nannten) bestehend aus Polizei und SS alle dort lebenden Juden abgemordet wurden. […] Dieses Ereignis machte auf mich einen besonders tiefen Eindruck, weil ich immer daran denken musste, was die Russen mit den Angehörigen der deutschen Soldaten machen werden, wenn sie erfahren, was sie mit ihren Staatsangehörigen gemacht haben.“4 Das Gericht der Wehrmachtkommandantur Berlin verurteilte Stefan Hampel wegen ‚Fahnenflucht’ zum Tode. Das Urteil wurde später in eine 15-jährige Zuchthausstrafe umgewandelt.

Weitere Fälle widerständigen Verhaltens werden vorgestellt: Jakob Knab schildert, wie aus dem katholischen Leutnant Kitzelmann ein Verächter des Vernichtungskrieges gegen die sowjetische Zivilbevölkerung wurde, der wegen „wehrkraftzersetzender“ Äußerungen zum Tode verurteilt wurde. Detlef Bald zeigt, dass die Kriegserfahrungen der Sanitätsfeldwebel im Sommer 1942 – hierzu zählten Einblicke in die Massenmorde ‚im Osten’ - Impulse für den Widerstand der „Weißen Rose“ lieferten.5 Gerd R. Überschär widmet sich dem Schicksal eines Soldaten, der sich weigerte, an den befohlenen Morden teilzunehmen. Der Polizeioffizier Klaus Hornung - der zu den etwa 20 Prozent der Polizisten gehört, die sich den Tötungsbefehlen entzogen - wurde vom Dienst suspendiert und später auch in das KZ Buchenwald verbracht. Ganz im Gegensatz zu den ständigen Schutzbehauptungen von Mitwirkenden an den Massenerschießungen nach 1945, wurde er nicht erschossen - wie andere Soldaten auch, die nicht auf (jüdische) Frauen, Kinder und Greise schießen wollten.6

Im zweiten Teil des Sammelbandes werden zwölf „Helfer und Retter in Uniform“ vorgestellt: Beate Kosmala schildert, wie der OT-Angehörige Willi Ahrem in der Ukraine die Familie Menczer rettete; Wolfram Wette beschäftigt sich mit Retterinnen im Umfeld der Wehrmacht; Winfried Meyer beleuchtet Hans von Dohnanyis Fluchthilfeaktivitäten für Juden, getarnt als fiktive Geheimdienstoperationen („Unternehmen Sieben“); Detlef Vogel schildert die Hilfs- und Rettungsaktionen des Oberst Rudolf Graf Marogana-Redwitz „im Milieu des Geheimdienstes der Wehrmacht“; Peter Steinkamp untersucht die Hilfe für Verfolgte durch den Kommandanten des Invalidenhauses in Berlin Oberst Wilhelm Staehle und seine Frau; Alexander Neumann stellt die Rettungsaktivitäten des Militärarztes Dr. Christian Spiering in Norwegen vor; Johannes Winter schildert den Kampf Hauptmann Gerhard Wanders gegen die Deportation niederländischer Juden und Norbert Haase beleuchtet die Verfolgtenhilfe des Werner Keller aus dem Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion. Kuno Krause wendet sich schließlich den Aktivitäten Major Kurt Werners zu, der den jüdischen Flamencotänzer Sylvin Rubinstein rettete. Dramatische und bewegende Rettungsgeschichten allesamt. Die Retter taten als Retter das richtige, doch waren sie deshalb nicht unbedingt ‚Helden’ oder ‚Heilige’.

Wie kompliziert die Rekonstruktion und Bewertung der Rettungsaktivitäten ist, wird am Beispiel des SS-Manns Alfons Zündler deutlich, dessen Hilfsmaßnahmen Sabine Selle-Gutzeit in den Blick nimmt. Der SS-Unterscharführer war an der Deportation der niederländischen Juden beteiligt. Er hatte in der „Hollandse Schouburg“ - einem ehemaligen Amsterdamer Theater, das nun als Sammelstelle diente, von der 60.000 Menschen in den Tod geschickt wurden - die Festgenommenen zu bewachen. Dabei hat er nachweislich Menschen entkommen lassen. In den letzten Jahren forderten viele die Anerkennung Zündlers als ‚Gerechter unter den Völkern’. Die Gegner einer Ehrung suchten zu belegen, dass Zündler nur um persönlicher Vorteile Willen einige der Juden gerettet habe, ansonsten jedoch zum Gelingen der Deportationen beigetragen habe. Eine Ehrung in Yad Vashem blieb schließlich aus. Aufgrund der unsicheren Quellenlage fällt eine Einschätzung des Gesamtverhaltens Zündlers tatsächlich schwer.

Berücksichtigt werden müssen stets die Rahmenbedingen der Retter, um Ihr Handeln historisch oder ethisch einschätzen zu können, wie Kim C. Priemel in seinem Beitrag im dritten Abschnitt des Buches mit Recht feststellt; die Retter waren mehr oder weniger in das Unrecht des NS-Regimes involviert, doch ihre Rettungstat verwies, wie Dirk Heinrich betont, auf die „durch nichts und keinen Terror zu vernichtende Wahrheit des Guten“ (S. 338).

Der Fall Zündler ist sicher der schwierigste der in dem Sammelband vorgestellten Fälle. Jedoch, selbst wenn die Gegner der Ehrung recht gehabt haben sollten, so steht dennoch fest: Wenn auch nur ein erheblicher Teil der an dem Genozid Beteiligten sich ähnlich wie der SS-Unterscharführer Zündler verhalten hätte, wenn sie einigen geholfen hätten, wären Hunderttausende dem Tod entronnen. „Die Erinnerung an die ‚unbesungenen Helden’“, so Johannes Rau in seinem Geleitwort treffend, „[…] zeigt uns, dass Frauen und Männer selbst in der nationalsozialistischen Diktatur Handlungsspielräume und Entscheidungsmöglichkeiten hatten. Ihr Beispiel zeigt, dass die Entschuldigung, man habe damals nichts tun können, keine Entschuldigung ist, sondern oft nur eine Ausrede“. Ein Verdienst des wichtigen Sammelbandes ist, dass er die Leser anregen kann, auch unsere heutigen Verhaltensmuster und Legitimationsstrategien zu reflektieren.

Anmerkungen:
1 Zum Rettungswiderstand sind im Zusammenhang mit einem Forschungsprojekt des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin in den letzten Jahren wichtige Veröffentlichungen erschienen. Den besten Überblick zum Forschungsstand bieten: Kosmala, Beate; Schoppmann, Claudia (Hgg.), Überleben im Untergrund. Hilfe für Juden in Deutschland 1941-1945. Solidarität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit, Bd. 5, Berlin 2002; Benz, Wolfgang (Hg.), Überleben im Dritten Reich. Juden im Untergrund und ihre Helfer, München 2003.
2 Wette, Wolfram (Hg.), Retter in Uniform. Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht, Frankfurt am Main 2003.
3 Das Schicksal Hampels findet zum ersten Mal Beachtung in: Haase, Norbert, Deutsche Deserteure, Berlin 1987.
4 Den Zusammenhang zwischen der moralischen Erschütterung über den Judenmord und widerständigem Verhalten – hier der Rettung von Juden – dokumentieren die vor kurzem veröffentlichten autobiografischen Aufzeichnungen des Retters des jüdischen Pianisten Wladyslaw Szpilmann: Hosenfeld, Wilm, „Ich versuche jeden zu retten“. Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern; im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Thomas Vogel, München 2004.
5 In diesem Zusammenhang ist auf folgende Monografie zu verweisen: Bald, Detlef, Die Weiße Rose. Von der Front in den Widerstand, Berlin 2003.
6 Dr. Klaus Hornung wurde in den 1960er und 1970er-Jahren wiederholt als sachverständiger Zeuge in NSG-Verfahren zur Frage des ‚Befehlsnotstands’ einvernommen.

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