Chr. Rödel: Krieger, Denker, Amateure

Cover
Titel
Krieger, Denker, Amateure. Alfred von Tirpitz und das Seekriegsbild vor dem Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Rödel, Christian
Reihe
Beitäge zur Kolonial- und Überseegeschichte 88
Erschienen
Anzahl Seiten
234 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Erika Stubenhöfer, Stadtarchiv Erkrath

In seinem Buch, einer Magisterarbeit an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, beschäftigt sich Christian Rödel mit der „amorphen Problemstellung“ (S. IX), welche Rolle die Marine für die Militärs verschiedener Epochen bei der Setzung von Rüstungsprioritäten gespielt hat. Einleitend betont er, dass den deutschen Marinen zeit ihres Bestehens keine Strategie zugrunde gelegen habe, die zum Erreichen der gesteckten Ziele geeignet war. Vielmehr hätten außermilitärische Faktoren die Entwicklung der Strategien beeinflusst. Die Planungen der deutschen Marinen seien stets für Flotten vorgenommen wurden, die weder vorhanden noch in absehbarer Zeit zu beschaffen waren (S. 1).

An Beispielen demonstriert Rödel, dass die Dominanz außermilitärischer Faktoren sowie die Diskrepanz zwischen der Erfüllung anstehender Aufgaben und der Vorbereitung auf einen in Zukunft zu erwartenden Aufgabenkatalog mehrfach dazu führten, dass die Anstrengungen der Marine in bewaffneten Auseinandersetzungen wirkungslos blieben. Einen Sonderfall bildet die Kaiserliche Marine zwischen 1898 und 1914, die insofern einzigartig ist, als unter Wilhelm II. Marinepolitik zu einem Kernbereich der Reichspolitik wurde. Die Schlachtflotte sollte das Reich einem nicht näher definierten „großen Ziel“ (S. 7) näher bringen, das in der Zukunft zu verorten war. Rödel unterstellt, dass Tirpitz mit Vorsatz den Bedürfnissen seiner Gegenwart auswich, sofern sie das in die Zukunft gerichtete Projekt beeinträchtigten.

Die Literatur, die sich mit den Zielsetzungen und Vorstellungen Tirpitz’ beschäftigt, ist zahlreich. Trotzdem blieb bisher die seestrategische Funktionstüchtigkeit seines Rüstungsprogramms nur unzulänglich untersucht. Auch Volker Berghahn, der das Rüstungsprogramm in seiner grundlegenden Arbeit 1 als Versuch der Sozialintegration interpretiert, musste aufgrund des anders gelagerten thematischen Schwerpunkts seiner Arbeit Strategiedetails unberücksichtigt lassen.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es einen Aufschwung an Marineliteratur, die sich jedoch auf Seekriegsgeschichte beschränkte und aus der Vergangenheit Lehren für die Gegenwart ziehen wollte. Den westlichen Marinen wurde in steigendem Maße die Bedeutung der theoretischen Dimension von Strategie und Taktik bewusst, was schließlich zur Formulierung von Theorien führte. Ziel von Rödels Arbeit ist die Untersuchung, wo der Standort der Tirpitzschen Gedanken innerhalb dieser theoretischen Systeme lag.

Die Arbeit beginnt mit der Untersuchung der strategischen Vorstellungen, die dem Tirpitz-Plan zugrunde lagen und auf Tirpitz’ allgemeinen politischen Vorstellungen beruhten. Danach werden die wichtigsten Komponenten des Tirpitz-Plans untersucht, wobei nicht die tatsächliche Durchführung des Flottenprogramms und sein Verfall nach 1906, sondern die Grundlagen von 1897/98 und ihre zeitgenössische Beurteilung im Mittelpunkt stehen. Darauf folgt der Versuch der Einordnung der Tirpitz-Strategie in den seestrategischen Rahmen vor 1914.

Die deutsche Seestrategie vor dem Ersten Weltkrieg und der Aufbau einer deutschen Flotte waren zwei Jahrzehnte lang maßgeblich bestimmt durch Admiral (seit 1911 Großadmiral) Alfred von Tirpitz, von 1897 bis 1916 Staatssekretär im Reichsmarineamt. Jede Betrachtung des deutschen Flottenbaus vor dem Ersten Weltkrieg wird daher zwangsläufig Ansichten, Leistungen, aber auch Irrtümer dieses Mannes berücksichtigen, der seine Zeit zur „Ära Tirpitz“ machte.

Tirpitz’ Denken und Weltsicht sind aus Denkschriften, die er für andere Marineoffiziere verfasste, abzulesen. In ihnen werden frei von jeglicher Flottenpropaganda seemilitärisch-technische Fragen erörtert. Das strategische Denken des Großadmirals wurde von seinen Zeitgenossen vielfach als Nebenprodukt seiner Zielsetzungen im politischen Bereich betrachtet und galt als ungeeignet für die deutsche Flotte.

Rödel dagegen wendet sich in seiner Arbeit den operativ-strategischen Maßnahmen zu und fragt, ob und wie sie sich als maritime Strategien in das Verständnis der Zeit einordnen lassen. Dies werde den Schluss zulassen, ob es sich beim Tirpitz-Plan um eine maritime militärische Strategie handelte oder ob die zu erreichenden Ziele außerhalb des militärischen Horizonts lagen.

Basis für Tirpitz war seine Ansicht, Seemacht sei „eine der wesentlichen gestalterischen Kräfte der Weltgeschichte“ und Deutschland müsse ohne sie in der Konkurrenz der Weltmächte verkümmern (S. 30). Dabei hatte sich der Horizont des Denkens von Europa auf die gesamte Welt erweitert, in der Deutschland sein Interesse an Kolonien anmeldete, als die hierfür in Frage kommenden Gebiete schon zum größten Teil vergeben waren. Um sie in gegen den Willen anderer Mächte, vor allem Englands, erwerben zu können, war eine starke Flotte nötig.

Für Tirpitz bedeutete das Flottenkonzept die direkte Umsetzung einer Grand Strategy, in der Strategie und Politik eine Einheit bildeten. Dabei standen als Alternativen eine Risikoflotte aus Schlachtschiffen mit einer reinen Offensivstrategie, ein Ausbau der Küstenverteidigung und damit eine Defensivstrategie sowie der Aufbau einer Kreuzerflotte, die sich auf den Schutz der Handelswege beschränkte, zur Wahl. Tirpitz entschied zugunsten des Schlachtschiffs. Haupteinsatzgebiet seiner Flotte sollte die Nordsee „zwischen Helgoland und der Themse“ (S. 88) sein.

Nach diesen Überlegungen stellt Rödel Marinetheoretiker vor, allesamt Zeitgenossen von Tirpitz, die in ihren Ländern als führende Vertreter ihres Faches galten. Er beginnt mit Julian Stafford Corbett (1854 – 1922), dem wichtigsten britischen Seekriegstheoretiker des frühen 20. Jahrhunderts. Er verfasste Werke zur Marinegeschichte und erlangte seine Sonderstellung auf dem Gebiet der Seestrategie durch Etablierung eines Systems nach den Grundsätzen der philosophischen Theoriebildung, d. h. seine Seekriegsstrategie ist in eine generelle Theorie der Kriegführung eingebettet. 1911 erschien sein Hauptwerk Some Principles of Maritime Strategy. Aufgrund seiner Lehrtätigkeit an den Kriegsakademien der Royal Navy und am War College wurden seine Theorien bekannt.

Auch wenn Corbetts Thesen zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Einordnung des Tirpitz-Konzepts bieten, stößt man auf Konflikte zwischen beiden, die nicht zuletzt darauf beruhen, dass Corbett nur die Verwendung der Marine im Kriegsfall untersuchte, also einen rein militärischen Ansatz verfolgte.

Darauf folgt Alfred Stenzel (1832 – 1906), der Vorträge in der Marineakademie in Kiel hielt, wo er schließlich mit dem Unterricht in Seekriegsgeschichte beauftragt wurde, die dann zu seinem Hauptarbeitsfeld wurde. Er erzielte als Multiplikator eine breite Wirkung, und Rödel bezeichnet ihn als „Propagandist des militärischen Mainstream des 19. Jahrhunderts“ (S. 159). Tirpitz hörte Stenzels Vorträge an der Marineakademie zwischen 1874 und 1876. Sie bereiteten den Boden für sein strategisches Denken, vor allem für seine Theorie vom „Offensivgeist“ der Marine (S. 168).

Danach bespricht Rödel den zu seiner Zeit prominentesten Marineschriftsteller der Welt, Alfred Thayer Mahan (1840 - 1914). Auch Kaiser Wilhelm II. gehörte zu den begeisterten Lesern seines Hauptwerkes The Influence of Sea Power upon History. Mahan wird zugebilligt, den Anstoß zu einer Betrachtung der Seemacht sowie der Theorie des Seewesens und des Seekrieges in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung gegeben zu haben.

Abschließend wird die Opposition gegen Tirpitz innerhalb des deutschen Offizierskorps betrachtet. Einer ihrer Protagonisten war Kapitän zur See (später Vizeadmiral) Curt Freiherr von Maltzahn (1849 – 1930), ein langjähriger Freund von Tirpitz. Maltzahn galt als Taktikexperte und lehrte an der Marineakademie Seetaktik und Seekriegsgeschichte. Schließlich entzweiten sie sich wegen der Veröffentlichung von Maltzahns gesammelten Vorlesungen, was zu Maltzahns Verabschiedung führte. Im Ruhestand ließ er sich das Schreiben nicht mehr verbieten und publizierte Aufsätze, den historischen Abriss Der Seekrieg sowie im Auftrag des Admiralstabs die Geschichte unserer taktischen Entwickelung. Maltzahn hielt die von Tirpitz propagierte Rüstung mit einer starken Schlachtflotte für verkehrt und forderte Ausbau des Küstenschutzes und Aufstellung einer Kreuzerflotte.

Rödel präsentiert ein anspruchsvolles Werk, dem Leserinnen und Leser nur mit dem erforderlichen Fachwissen folgen können. Es zeichnet sich durch ein hohes Niveau von Analyse und Reflexion aus und richtet sich in erster Linie an Experten. Eine bessere Fächerung des komplexen Themas wäre im Sinne einer eingängigeren Verständlichkeit dennoch wünschenswert gewesen.

Abschließend urteilt Rödel, dass Tirpitz’ Grundirrtum in der Verkennung der politischen Realität lag, die es unmöglich machte, die unbegrenzten Mittel zu erhalten, die eine Verwirklichung seines Planes erfordert hätte. Rödel selbst drückt dies im Schlusssatz so aus: „Tirpitz schuf einen basalen Anachronismus – eine Zukunftsflotte, die die Gegenwart in einer Weise beeinflußte, die jede Hoffnung auf jene die Flotte berechtigende Zukunft zunichte machte.“ (S. 213).

Anmerkung:
1 Berghahn, Volker R., Der Tirpitz-Plan. Genese und Verfall einer innenpolitischen Krisenstrategie unter Wilhelm II (= Geschichtliche Studien zu Politik und Gesellschaft 1), Düsseldorf 1971.

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