J. Heinßen: Historismus und Kulturkritik

Titel
Historismus und Kulturkritik. Studien zur deutschen Geschichtskultur im späten 19. Jahrhundert


Autor(en)
Heinßen, Johannes
Reihe
Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 195
Erschienen
Göttingen 2003: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
615 S.
Preis
€ 84,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Fulda, Institut für deutsche Sprache und Literatur, Universität zu Köln

Höher kann eine Dissertation kaum zielen. In seiner bei Otto Gerhard Oexle entstandenen, im Wintersemester 2001/02 in Göttingen angenommenen Dissertation hat sich Johannes Heinßen sowohl thematisch als auch methodisch höchste Ziele gesteckt: Thematisch geht es um nicht weniger als um die Folgen des Bewusstseins von Geschichtlichkeit als Kennzeichen der 'Moderne' seit dem späten 18. Jahrhundert. Methodisch ist die Studie am Konzept der 'Problemgeschichte' orientiert. Problemgeschichte beschäftigt sich mit, so Heinßen im Anschluss an Oexle, "identitätskonstitutiven Deutungsmustern" (S. 50). Die historische Rekonstruktion soll dabei zugleich als methodologische Reflexion des rekonstruierenden Historikers betrieben werden; die Probleme der Problemgeschichte sollen "anschlußfähig" sein für die "Selbstreflexion der Gegenwart" (S. 54). 'Probleme' in diesem grundlegenden Sinne sind nicht die Probleme einzelner Denker oder Disziplinen, sondern solche, die "intellektuelle Breitenwirkung" erzielt haben (S. 51).

Das Problemfeld, das die Konzepte 'Historismus' (als bewusste Geschichtlichkeit) und 'Moderne' umreißen, expliziert die Einleitung auf hohem Niveau. Konsequent steuert Heinßen dabei auf sein engeres Thema zu: die 'Krise des Historismus', d.h. die Diskrepanz zwischen einem fortdauernden "Bedürfnis nach sinnstiftender Ordnung" (S. 35) und dessen immer fühlbarerer Enttäuschung. Indem Heinßen die Sinnorientierung des Historismus betont, rückt er einen verhältnismäßig wenig beachteten Bereich der 'Geschichtskultur' des 19. Jahrhunderts in den Vordergrund: die nach Hegel keineswegs abgestorbene Geschichtsphilosophie idealistischer Prägung. Diese Akzentverlagerung ist völlig berechtigt und höchst sinnvoll, da sie der Historismusforschung ein vernachlässigtes Gebiet erschließt. In den bekannten Bahnen des Doktorvaters bewegt sich dagegen die Explikation des notorisch vieldeutigen Historismusbegriffs mit ihrer wenig überzeugenden Polemik gegen Friedrich Meinecke (S. 38-47)1; die gründliche Revision des Begriffsgebrauchs durch Michael Schlott von 1999 hat Heinßen leider nicht zur Kenntnis genommen.2

An die Einleitung schließen sich sieben umfangreiche, zu drei Blöcken zusammengefasste Kapitel über verschiedene Diskurse an, in denen das Sinnbedürfnis des Historismus sich artikulierte bzw. enttäuscht wurde. Die ersten beiden Kapitel (S. 65-202) sind der 'Metaphysik' der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewidmet, soweit sie für das Geschichtsdenken relevant war. Als Metaphysik begreift Heinßen sowohl den Materialismus als auch den Idealismus, ersterer vor allem von David Friedrich Strauß vertreten, letzterer von Eduard von Hartmann, Moriz Carrière und Karl Christian Planck. Die drei Kapitel des zweiten Teils (S. 203-432) gehen zunächst noch einmal auf eine philosophische Strömung, den Pessimismus, ein, um dann ein breiteres Panorama kultureller Konzepte und Diskussionen mit zahlreicheren Autoren zu rekonstruieren: zunächst den Zerfall der humanistischen Bildungskonzeption, sodann den Renaissancekult. Heinßen deutet beides als Reaktionen auf einen Geltungsverlust der Geschichtsphilosophie, denn das Individualitätsprinzips des Bildungsgedankens nehme idealistische Totalitätsansprüche zurück (S. 341), auch wenn die Orientierung am Individuum später durch einen kollektivistischen Nationalismus bedrängt wurde (S. 318). Zudem wendeten Bildungsprogramme sich der Gesellschaft zu, tauschten also die diachronische durch eine synchronische Perspektive ein (S. 340) – wenn sie sich nicht ästhetizistisch verengten, wie sich das teilweise auch für den Renaissancekult beobachten lasse (S. 432).

Die beiden Kapitel des dritten und letzten Teils (S. 433-560) stellen drei Autoren nebeneinander, die um 1900 in viel engerem Zusammenhang wahrgenommen wurden als heute: den 'Rembrandtdeutschen' Julius Langbehn, Paul de Lagarde sowie Friedrich Nietzsche. Heinßen sieht die drei Autoren zuvördert durch einen neuen, nicht mehr systematischen, sondern aphoristischen Denk- und Schreibstil verbunden (S. 435). An die Stelle holistischer Ansprüche trete damit die 'Kulturkritik'. Indem er Nietzsche nach Langbehn und Lagarde behandelt, stellt Heinßen die historische Reihenfolge bewusst um. Der erste Grund dafür ist ein rezeptionsgeschichtlicher: Langbehn bereitete – selbst Adept Nietzsches – dessen verzögerter Breitenwirkung nach 1890 den Boden (S. 489). Der zweite Grund liegt in Heinßens eigener Einschätzung des Historismusproblems, denn Nietzsches Werk, vor allem dessen mittleren, erkenntniskritischen oder 'genealogischen' Teil, begreift er als Ausweg aus der Sackgasse der Kulturkritik, in die der Geltungsverlust der idealistischen Geschichtsphilosophie hineingeführt habe.

Insgesamt ergibt sich der Befund einer "gespaltenen Historizität der Moderne der Jahrhundertwende": Während die 'Kulturkritik' an den normativen Ansprüchen der idealistischen Geschichtsphilosophie festhielt, obschon sie sie formal ganz neu artikulierte, habe sich mit dem mittleren Nietzsche "eine auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit reflektierende Historische Kulturwissenschaft" angekündigt (S. 435). Der Titel "Historismus und Kulturkritik" weist demnach auf ein zeitliches und genetisches Folgeverhältnis: Die Kulturkritik entstand aus dem Geltungsverlust der idealistischen Geschichtsphilosophie und beerbte den (idealistischen) Historismus in seiner weltbildlichen Funktion (S. 561). Nach Heinßens Urteil war das freilich die falsche Lösung. Einen methodologisch vertretbaren Umgang mit den empirisch nicht einlösbaren Wert-Ansprüchen der Kulturkritiker habe hingegen Max Weber formuliert, der "den Erkenntnisprozeß selbst als sinnkonstituierenden Faktor [...] ins Bewußtsein rief", wie Heinßen in einem Ausblickskapitel knapp erläutert (S. 561-576, Zitat S. 568).

Da Heinßen eine ganze Reihe 'vergessener' Autoren berücksichtigt und Kulturzeitschriften wie die "Grenzboten", die "Preußischen Jahrbücher" oder die "Deutsche Rundschau" systematisch auswertet, kann er auf ein breites Quellenfundament bauen, vor allem für das Bildungsdebatten- und das Renaissancekult-Kapitel. Doch schreibt er keine Geschichte anonymer Diskurse, sondern stellt Texte und deren Autoren individuell vor. Da er sich nicht damit begnügt, das für seine Argumentation Wesentliche herauszustellen, fallen die vielen einzelnen Referate recht extensiv aus, sowohl je für sich wie auch und vor allem zusammengenommen. Wer über Plancks "Testament eines Deutschen" – nach Heinßen einen "skurrilen Höhepunkt" idealistischer Epigonalität (S. 166) – gründlich informiert sein möchte, geht also nicht leer aus. Eiligeren Lesern kommen die Zusammenfassungen am Ausgang jedes Kapitels sehr entgegen. Stets prägnant kennzeichnen sie den Beitrag der vorgestellten Autoren zur Entwicklung des Historismusproblems.

Zudem läuft – schon am Beginn angekündigt, in der Durchführung allerdings nicht immer merklich – alles auf Nietzsche hinaus: "Die Stichworte und Themenkreise der vorangegangenen Kapitel tauchen bei Nietzsche allesamt wieder auf: Auch sein Werk stellt eine 'Schwundstufe' der Geschichtsphilosophie dar; [...] er tritt in eine Auseinandersetzung mit den populärwissenschaftlichen Erfolgsschriftstellern der Gründerjahre ein; als Leser und zunächst Anhänger Schopenhauers thematisiert er das Problem des Pessimismus; als deutscher Professor macht er sich Gedanken über die Zukunft der Bildung; er bedient sich des Imaginariums der Renaissance, und schließlich etabliert er eine Willensmetaphysik, welche der kulturkritische Zeitgeschmack nachhaltig goutieren wird." (S. 491f.) Die zunächst etwas willkürlich erscheinende und auch nicht weiter begründete Quellentext-Auswahl bemisst sich offensichtlich nach dem Zweck, die meist isoliert betrachteten Texte Nietzsches in ihrem historischen Stellenwert zu kennzeichnen und dazu in ihr ursprüngliches Umfeld rückzubetten (vgl. S. 58). Für die Nietzsche-Exegese im Lichte des Historismus-Problems gewinnt Heinßen damit einiges. Weniger günstig ist die nicht ganz offene Zentrierung der Studie auf einen Autor für die Repräsentativität des Gebotenen im Hinblick auf den Historismus und seine 'Krise'.

Dass dem Verfasser dieses methodische Problem offensichtlich nicht ganz so deutlich vor Augen stand, wie es dem 'problemgeschichtlichen' Reflexionsanspruch entspräche, schmälert seine enorme Leistung kaum. Gewichtiger ist die zweite Verengung seines Themas, die Heinßen mit dem abschließenden Verweis auf die 'Lösung' des Historismusproblems durch Weber et alii vornimmt. Nietzsche als maßgeblichen Formulierer des Historismusproblems darzustellen und dessen Lösung der 'Historischen Kulturwissenschaft' zuzuschreiben – dieses Interpretationsmuster ist aus den Studien des Doktorvaters (und weiterer seiner SchülerInnen)3 weidlich bekannt. Gegen dieses Muster sind indessen gewichtige Einwände möglich. Um hier nur zwei zu nennen: Nietzsche zweite "Unzeitgemäße Betrachtung" kritisierte das historische Denken vom seinerseits hochproblematischen und eher partikularen Standpunkt einer Lebensmetaphysik aus. Weber wiederum konnte das Historismusproblem schon deshalb nicht 'lösen', weil er eine wissenschaftstheoretische Position formulierte, während Totalitäts- und Werteverlust als Probleme der gesamten Kultur galten. Letzteres entfaltet Heinßen auf eindruckvolle Weise – ohne zu bemerken, dass er damit sein eigenes Schlusskapitel unterläuft.

Wenn die auf fünfhundert Seiten ausgeleuchteten Sinnbedürfnisprobleme des Historismus sich mit einer Darlegung von sechs Seiten (S. 565-571) 'lösen' lassen, liegt offensichtlich ein Missverhältnis vor, d.h. das ausgebreitete Material war entweder gutenteils irrelevant oder es wurde, zugunsten eines vorausgesetzten Untersuchungsziels, interpretatorisch nicht voll genutzt. Anders gesagt: Da der Historismus am Ende von Max Weber her beurteilt wird, fällt das Schlussergebnis der Studie schmaler aus, als deren breite Anlage es erlaubt hätte. Unerfüllt bleibt daher auch der mit dem problemgeschichtlichen Ansatz verbundene Anspruch, den verhandelten Gegenstand mit der "Selbstreflexion der Gegenwart" zu vermitteln. (Was haben die spätidealistische Geschichtsphilosophie oder die Kulturkritik um 1900 mit der heutigen Geschichtskultur zu tun?) Die Erträge der insgesamt gewinnbringenden Studie sind jedenfalls weit mehr dem Fleiß und der textanalytischen Sorgfalt Heinßens zuzurechnen als der Methode, die er so hochgemut annonciert. Als nützlich und überzeugend sind vor allem die erhebliche Erschließungsleistung sowie der Nachweis zu verbuchen, dass Geschichtsphilosophie in idealistischer Tradition auch am Ende des 19. Jahrhunderts noch ein zentrales Thema war. Die 'Krise des Historismus' resultierte demzufolge nicht allein aus dem "Unbehagen am Positivismus wissenschaftlicher Wissensproduktion", sondern aus der "Auflösung philosophischer Sinnstiftung in Form geschichtsphilosophischer Deutungsmuster" (S. 58). Mit der Betonung der idealistischen Momente rehabilitiert Johannes Heinßen freilich ein gutes Stück weit – unbewusst?, jedenfalls unter der Hand – das Historismusverständnis des heftig befehdeten Meinecke.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Kritik an dieser Polemik bei Muhlack, Ulrich. Gibt es ein "Zeitalter" des Historismus? Zur Tauglichkeit eines wissenschaftsgeschichtlichen Epochenbegriffs, in: Oexle, Otto Gerhard; Rüsen, Jörn (Hgg.), Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenprobleme (Beiträge zur Geschichtskultur 12), Köln 1996, S. 201-219, hier S. 209-218; Hertfelder, Thomas, Neue Ansichten vom Historismus, in: Historisches Jahrbuch 118 (1998), S. 361-373, hier S. 365f.
2 Vgl. Schlott, Michael, Mythen, Mutationen und Lexeme – 'Historismus' als Kategorie der Geschichts- und Literaturwissenschaft, in: Scientia Poetica 3 (1999), S. 158-204.
3 Die wichtigsten Studien Otto Gerhard Oexles versammelt sein Band: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 116), Göttingen 1996; vgl. außerdem Wittkau, Annette, Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen 1992; Germer, Andrea, Wissenschaft und Leben. Max Webers Antwort auf eine Frage Friedrich Nietzsches, Göttingen 1994.