T. Kupfer: Organisation der deutschen Sozialdemokratie

Titel
Geheime Zirkel und Parteivereine. Die Organisation der deutschen Sozialdemokratie zwischen Sozialistengesetz und Jahrhundertwende


Autor(en)
Kupfer, Torsten
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe B: Quellen und Dokumente, 5
Erschienen
Anzahl Seiten
278 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Angster, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Mit dem Ende des Sozialistengesetzes, so die verbreitete Annahme, begann unmittelbar der rasche Aufstieg der deutschen Sozialdemokratie zur Partei mit den meisten Wählern und Mitgliedern im Deutschen Kaiserreich. Torsten Kupfer weist nun in seiner knappen, dafür um so detailreicheren Studie nach, dass die Zäsur von 1890 kaum zu halten ist, wenn man die Organisationsentwicklung der Sozialdemokratie in den Jahren zwischen 1890 und 1899 aus der Nähe betrachtet. Nicht nur begann die Reorganisationsphase der Partei bereits in der ersten Hälfte der 1880er-Jahre, sie zog sich auch bis zum Ende der 1890er hin und war von organisatorischen Krisen und Rückschlägen begleitet. Die Kontinuität der illegalen Organisationsformen über das Ende des Sozialistengesetzes hinaus, ebenso wie der politische Handlungsspielraum, den sich die sozialdemokratischen Vereine in den 1880ern zu verschaffen vermochten, widerlegen seiner Ansicht nach das gängige Bild vom „urplötzliche[n] Auftauchen der Sozialdemokratie aus der Illegalität“ (S. 15). Kupfer will diesem „Dogma“ (S. 15) der Fachliteratur entgegentreten und zugleich mit einer „umfassende[n] Darstellung der Organisationsentwicklung der deutschen Sozialdemokratie in ihrer Reorganisationsphase“ (S. 9) eine Forschungslücke schließen. Als Quelle dient ihm dabei die polizeiliche Berichterstattung: Er wertet die Halbjahresberichte der preußischen Regierungspräsidenten an den preußischen Innenminister aus. Ergänzt werden sie jeweils durch Quellen aus anderen Ländern. Die überaus gründliche Beobachtung der Sozialdemokratie durch ihre Gegner ermöglicht ihm dabei eine teilweise minutiöse Rekonstruktion der organisationsstrukturellen Entwicklung in verschiedenen preußischen Regionen und Städten. Der Band gliedert sich in zwei Teile, einen Darstellungsteil von etwa 110 Seiten und einen Dokumententeil von etwas größerem Umfang. Der Darstellungsteil behandelt in vier Kapiteln die Organisationsform und organisatorische Verbreitung der Sozialdemokratie, ihre Mitgliederstruktur und die staatliche Repressionspolitik von den mittleren 1880er-Jahren bis zur Jahrhundertwende.

Der Neuaufbau der sozialdemokratischen Parteiorganisation begann schon in der ersten Hälfte der 1880er-Jahre. Er lief, unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes, auf zwei Ebenen ab: Neben den legalen politischen Vereinen entstand die ‚Innere Organisation’, eine Geheimorganisation, die die verbotenen Kernaufgaben der Partei übernahm: Geldbeschaffung, Wahlagitation und Publikationen. Demgegenüber stellten die Vereine die legale, öffentliche Seite der Sozialdemokratie dar. Die wesentlichen Kompetenzen lagen – allerdings bei deutlichen regionalen Unterschieden – bei der Geheimorganisation. Diese bestand, so Kupfers Befund, über das Ende des Sozialistengesetzes, ja selbst über die Jahrhundertwende hinaus weiter und blieb auf lokaler Ebene auch in den 1890er-Jahren gegenüber den nun legalen sozialdemokratischen Vereinen richtungsweisend. Das Motiv für das Fortbestehen der Inneren Organisation sieht Kupfer in dem Bestreben der Parteibasis, ihre Unabhängigkeit gegenüber der Parteileitung zu wahren. Damit war ein Konflikt zwischen Zentrale und Basis vorgezeichnet, der nicht nur organisationsstruktureller Natur war, sondern zugleich eine Auseinandersetzung zwischen zwei Generationen um innerparteiliche Demokratie beinhaltete. Mit der Aufhebung des Vereinsverbots 1898/99 setzten sich allmählich die Vertreter einer zentralisierten Parteiorganisation durch. Nun entstand ein neues Organisationsgefüge, das man im modernen Sinn als ‚Partei’ bezeichnen kann. An die Stelle einer sektiererischen Bewegung trat nun eine rasch wachsende Organisation mit einheitlichem Gefüge und fester Mitgliedschaft. Erst dadurch – also nach der Jahrhundertwende – waren die Voraussetzungen für innerparteiliche Demokratie gegeben. Kupfer widerspricht damit deutlich dem Michelsschen Diktum von der Pervertierung basisdemokratischer Strukturen durch das Wachstum der Organisation. 1

Im Kapitel zur Ausbreitung der sozialdemokratischen Organisation beschäftigt sich Kupfer mit der Mitgliederentwicklung. Die 1890er-Jahre bezeichnet Kupfer als „Periode einer ausgeprägten Entwicklungskrise“ (S. 58). Die Mitgliederzahl stagnierte oder ging zurück, die Organisationsqualität war schlecht: hohe Fluktuation, geringe Versammlungsbeteiligung, Unterschlagungen und Flügelkämpfe prägten das Bild. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts ändert sich das Bild. Nun führte das Wachstum der Partei aber zu einem Wandel in der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Mitgliederschaft. Die jetzt stärker vertretene Fabrikarbeiterschaft verlangte nach mehr Mitsprache und Repräsentation in der Parteiführung, eine Konstellation, die als Hintergrund des Konflikts zwischen Basis und Zentrale und zwischen Reformisten und Radikalen zu sehen ist. Kupfer greift hier eine Reihe der Themen aus dem vorigen Kapitel wieder auf. So etwa den Konflikt zwischen ‚Alten’ und ‚Jungen’, dessen inhaltliche Hintergründe nun erst näher betrachtet werden, nachdem man im Kapitel zuvor ausschließlich über die organisationsstrukturellen Aspekte informiert worden war. Dies ist einerseits erhellend, führt andererseits aber zu Wiederholungen und zwingt zum Zurückblättern. Insgesamt wäre es von Vorteil gewesen, die Kapitel stärker nach inhaltlichen Zusammenhängen zu strukturieren. Im Anschluss behandelt Kupfer sehr – teilweise fast zu – detailliert den sozialstrukturellen Wandel der sozialdemokratischen Mitgliederschaft, die langsame Integration der Industriearbeiterschaft und die Verschiebung der Anteile verschiedener Berufsgruppen in den unterschiedlichen Regionen. Hier hätte ich mir eine klarere Strukturierung der manchmal widersprüchlichen Aussagen gewünscht. Schließlich betrachtet er die Formen staatlicher Repression und gesellschaftlicher Ausgrenzung, denen die Sozialdemokratie auch nach dem Ende des Sozialistengesetzes unterworfen blieb. Einerseits wurde mit Zwang und Unterdrückung gearbeitet: Hierzu gehörten Saalverbot in Gaststätten, Druck auf Redakteure und drohender Arbeitsplatzverlust für Funktionäre und Mitglieder, außerdem auch weiterhin Polizeiterror und Spitzelwesen. Andererseits wurden Konkurrenzorganisationen geschaffen: Gegenvereine, die der Sozialdemokratie die Mitglieder abspenstig machen sollten.

Im Quellenteil des Buches finden sich 44 Dokumente, Tabellen und Diagramme, die die Untersuchungsergebnisse anschaulich stützen und illustrieren. Hierin liegt jedoch ein strukturelles Problem des Buches: Der Autor hat sich nicht entschieden, ob er eine Quellenedition mit Einleitungsteil, oder eine Monografie mit Quellenanhang abliefern will. Die Balance kippt eher in letztere Richtung; es handelt sich im Grunde nicht um eine Einführung in Quellen, sondern um eine Monografie, die sehr spezielle Interessen verfolgt. Es ist dann aber schade, dass der Autor sich nicht mehr Raum zugestanden hat, um seinen organisationsgeschichtlichen Detailfragen einen weiteren gesellschaftsgeschichtlichen Rahmen zu geben. Eine solche Anbindung wäre mit einer weiter gefassten Fragestellung leicht möglich gewesen. Denn seine Erkenntnisse zur deutschen Sozialdemokratie am Beginn ihrer Entwicklung zur modernen Massenpartei könnten durchaus neues Licht auf die gesellschaftliche Umbruchszeit um 1900 werfen. Torsten Kupfer zeichnet innerparteiliche Konfliktlinien nach und den Anteil, den der Wandel in der sozialen Zusammensetzung der Anhängerschaft – insbesondere die wachsende Rolle der Industriearbeiterschaft – an diesen Konflikten hatte. Er behält daneben die Perspektive der Gegner im Blick, ihre Sicht auf die Arbeiterbewegung und ihre repressive Politik, im Alltag und vor Ort. Sein Interesse ist dabei aber jeweils ganz auf die organisatorischen Strukturen gerichtet, so dass er die gesellschaftsgeschichtlichen Möglichkeiten des Themas nicht nutzt. Er verzichtet beispielsweise darauf, näher auf die Hintergründe der Konflikte zwischen Alten und Jungen, zwischen Innerer Organisation und zentraler Parteileitung einzugehen, und blendet so die grundlegenden Richtungsentscheidungen aus, um die in jenen Jahren gestritten wurde. Stattdessen begnügt er sich damit, nachzuweisen, dass die Phase der Reorganisation ein längerer und komplexer Prozess war als bislang angenommen, und konzentriert sich auf die innerorganisatorischen Probleme der 1890er-Jahre. Der tief greifende gesellschaftliche und kulturelle Wandel dieser Jahrzehnte bleibt bei diesem Ansatz außen vor. Die Studie bleibt daher – trotz ihres Anspruches, eine Überblicksdarstellung zu sein und bisherige Lehrmeinungen erschüttern zu wollen – dem Kleinteiligen und der Organisationsgeschichte verhaftet. Diese Selbstbeschränkung koppelt jedoch die Geschichte der Arbeiterbewegung von jener der weiteren Gesellschaft ab.

Anmerkungen:
1 Michels, Robert, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, Leipzig 1925, Neudruck Stuttgart 1970, S. 12, 25f.; vgl. Kupfer S. 45.

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