U. Bielefeld: Nation und Gesellschaft

Cover
Titel
Nation und Gesellschaft. Selbstthematisierungen in Deutschland und Frankreich


Autor(en)
Bielefeld, Ulrich
Erschienen
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Charlotte Tacke, Castelfiorentino

„Nation kommuniziert Einheit und Begrenzung.“ - Einheit und Differenz, diese der Systemtheorie entliehene Unterscheidung steht im Zentrum einer beeindruckenden soziologischen Auseinandersetzung von Ulrich Bielefeld mit nationalen Selbstthematisierungen der Nation in Frankreich und Deutschland.

Zunächst ist die Nation ein Einheitsbegriff – bzw. die Fiktion der Einheit -, der auf die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaft reagiert. Bielefeld definiert Nation über eine notwendige doppelte Strukturdimension: sie ist einerseits Ort des Politischen, d.h. sie bezieht sich immer auf einen (gegenwärtigen oder zukünftigen) Raum als Staat, für den sie Selbstbestimmung beansprucht, und sie ist andererseits eine spezifisch moderne Begründungsstruktur, d.h. sie muss sich nicht nur vorstellen und darstellen (institutionalisieren und organisieren), sondern sie muss sich auch aus sich selbst heraus begründen. „Unter Gesichtspunkten der Organisation und der Institutionalisierung bezog sich die Nation auf den Staat, in dem sie sich realisierte oder realisieren sollte. In der Perspektive der Einheit, die mehr als den geographischen Raum und die Organisation des Staates umfassen sollte, trat ihr fiktionaler Charakter hervor. Die Nation institutionalisierte sich nach innen und außen als der Ort des Politischen und zugleich als Medium des Fiktionalen, eine Großgruppe schaffend, die sich der Vorstellung entzog und daher Darstellung verlangte.“ (S. 47) Die Nation als Medium des Fiktionalen steht im Zentrum von Bielefelds Definition nationaler Selbstthematisierungen. In Selbstthematisierungen erkennt er einen wesentlichen und funktionalen Bestandteil der Selbstgründung und -begründung moderner Gesellschaften, die Einheits- und Integrationsvorstellungen als Wirklichkeit formulieren. Modern sind Selbstthematisierungen – im Gegensatz zu anderen Formen der Selbstbeschreibungen von Gruppen – in ihrem doppelten, selbstreflexiven und politischen Bezug. Da Gesellschaft sich in der Moderne nicht anders als aus sich selbst begründen kann, müssen sich nationale Selbstthematisierungen immer auf sich selbst beziehen und sich aus sich selbst ableiten. Um politische Selbstbestimmung als Nation zu erlangen, muss die Gruppe ihre Stellung und ihren Anspruch aus ihrer Kultur oder Geschichte ableiten.

Damit ist Nation auch ein Differenzbegriff – bzw. die Fiktion der Differenz: „Es macht nie Sinn, von Nation im Singular zu reden.“ (S. 92) Nationen müssen sich von anderen nach innen und außen unterscheiden und diese Unterscheidung in ihrer Selbstthematisierung reflektieren, um definieren zu können, was dazu und was nicht dazu gehört. „Die Inklusion in diese Gruppe als Träger von Rechten und als besondere Gruppe mit gemeinsamen Bestimmungsmerkmalen [...] hatte damit besondere Formen des Ausschlusses zur Folge, da die Frage, wer dazugehörte, immer auch negativ beantwortet wird.“ (S. 55) Dass Nation immer mit Inklusion und Exklusion verbunden ist, ist für die Nationalismusforschung zunächst keine Überraschung mehr. Jedoch führen Bielefelds systematische Überlegungen der Nation als Differenzbegriff zu einer Folgerung, die soweit ich sehen kann, bisher nicht ausreichend reflektiert worden ist. Die Nation ist an die Differenz gebunden. Das heißt nicht nur, dass die Definition dessen, was nicht dazu gehört, aus dem Selbst heraus definiert werden muss, also die Form der Exklusion aus der Form der Inklusion unmittelbar folgt. Die Differenz setzt der Nation darüber hinaus definitorische Grenzen. In dem Moment, wo die Nation essentialisiert und existenzialisiert, auf die Vernichtung des Feindes ausgerichtet und das Gebiet, auf dem ihre Regeln gelten und durchgesetzt werden, in einen prinzipiell unendlichen Raum hinein erweitert wird, in dem Moment also, wo das Partikulare der Nation universalisiert wird, hört die Nation auf Nation zu sein. Nation umfasst, so Bielefeld, keineswegs jede beliebige Form einer politisch oder kulturell-politisch vorgestellten, behaupteten oder realisierten Gruppe, sondern ist auf Einheit und Begrenzung angewiesen. „Eine Gleichsetzung einer auf ethnische Zugehörigkeit halbierten Nation mit dem Konzept der Nation scheint mir ein grundsätzlicher Fehler zu sein, der durch den Verzicht auf einen Begriff der Nation bedingt ist.“ (S. 266) Die Ambivalenz der Nation allerdings, Selbstbestimmung und Ausgangspunkt ihrer eigenen Hybris zu sein, ist bereits in der Selbsthematisierung angelegt.

In einem empirischen Teil wendet sich Ulrich Bielefeld drei von ihm konstruierten deutsch-französischen Paaren von Selbstthematisierern, Theoretiker, Literaten und Schriftsteller, Soziologen und auch Aktivisten des 19. Jahrhunderts zu: Johann Gottlieb Fichte und Maurice Barrès – Émile Durkheim und Max Weber – Ernst von Salomon und Louis Ferdinand Céline. An ihren Texten führt er die doppelte Konstruktion des Nationalen in der Selbstthematisierung des Eigenen und des Fremden als mögliche Variationen eines Themas (und ihrer Auflösung) vor. „Die Paare wurden von mir ausgewählt, um Bezüge herstellen zu können, um zu vergleichen, um herauszufinden, wie bei ihnen Nation zum Thema gemacht wurden.“ (S. 35) Der „Königsweg des Vergleichs“ (S. 38) wird jedoch bewusst nicht gewählt, um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich herauszuarbeiten, weil damit die Gefahr verbunden sein könne, nationale Selbstthematisierungen als exemplarische Typen der Konstruktion von Nation zu nationalen Realtypen zu verwischen.

Ohne hier versuchen zu wollen, der Argumentation von Ulrich Bielefeld entlang der deutsch-französischen Paare im Einzelnen zu folgen, können drei große Themen herausgestellt werden, die für die Paarbildung, ohne dass der Autor das im Einzelnen so darstellt, Pate gestanden haben könnten bzw. helfen die Lektüre zu strukturieren: Erstens eine Kritik der Konzepte von Kulturnation und Staatsnation, zweitens eine Kritik an einer modernen Soziologie, die die Nation unreflektiert in die Beschreibung der Gesellschaft einbezogen hat und damit selbst Selbstthematisierungsinstanz geworden ist und drittens schließlich das Problem der Auflösung der Nation im modernen Antisemitismus.

Dem ersten deutsch-französischen Paar, Fichte und Barrès, wird Ernest Renan bei- bzw. gegengestellt. Sowohl Fichte als auch Barrès verschmelzen das „Ich“ mit dem „Wir“, indem sie Wege suchen, wie das moderne Individuum an die Gesellschaft als Gemeinschaft gebunden werden kann. Fichte erfindet ein Kollektiv – das auserwählte deutsche Volk mit einer gemeinsamen Ursprache – das jedoch erst in der Bewusstwerdung und den Handlungen des Einzelnen zur politischen Nation werden konnte. Barrès liest Fichte, übernimmt die Einheit vom Ich im Wir und postuliert die Existenz einer vor- oder außerpolitischen Nation. Die Gegenüberstellung von Fichte, Barrès und Renan machen Ulrich Bielefeld deutlich, was für HistorikerInnen allerdings keine Überraschung mehr ist: Die Kulturnation und die Staatsnation sind Formen nationaler Selbstthematisierung. Nation ist immer auf beide Seiten dieser Differenz angewiesen. Die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen der „ethnischen“ und „volontaristischen“ Nation sind keine realen Differenzen, sondern sind Mittel der Differenzierung, die immer wieder eine Differenz des Nationalen herstellen und repräsentieren.

Am Beispiel des zweiten Paares – Max Weber und Émile Durkheim, dem wiederum Barrès bei- und gegengestellt wird – macht Bielefeld das Dilemma der klassischen Soziologie deutlich, die die Gesellschaft beschreiben und erklären wollte, durch die weitgehende Ausblendung der Nation als Reflexionsbegriff jedoch selbst in der Funktion einer modernen Selbstthematisierungswissenschaft gefangen geblieben ist. Es geht ihm nicht darum, aufzuzeigen, dass Weber und Durkheim, bei allen Unterschieden ihres soziologischen Zugriffs, in ihren unmittelbaren politischen Texten nationalistisch argumentierten, sondern zu zeigen, dass die Nation implizit auch in den theoretischen Entwürfen der Soziologie enthalten war. „Die klassische Soziologie konnte Nation und Gesellschaft nicht auseinander halten.“ (S. 189) Die Nation als moralische Einheit der Individuen und die Nation als Wert war ihr Bezugspunkt, sie suchten Nationalstaaten Sinn zu verleihen; sie sahen die Gefahr von Auflösung und Radikalisierung der Nation, konnten aber Prozesse der Fragmentierung und Vereinheitlichung, der Individualisierung und Kollektivierung noch nicht zusammendenken und aufeinander beziehen, kurz: die Nation als segmentäre Differenzierung von der funktionalen Differenzierung unterscheiden.

Das dritte Paar – Ernst von Salomon und Louis Ferdinand Céline, denen wiederum Hitler in einem Exkurs bei- und gegengestellt wird – beschreitet schließlich den Weg der Auflösung der Nation, den Bielefeld als Charakteristikum eines neuen Typus des Nationalismus nach dem 1. Weltkrieg – hüben wie drüben - beschreibt. „Auf beiden Seiten ging es darum, den hier bestätigten, dort enttäuschten, jeweils durchaus vergleichbaren triumphalen Nationalismus der Vorkriegszeit und der ersten Kriegsmonate zu ersetzen. Neudefinitionen wurden gebraucht.“ (S. 261) Gemeinsam war diesen Selbstthematisierungen, dass sie an die Stelle der Nation mit ihrem Bezug auf den Staat das Volk setzten. Dieser „halbierte Volksbegriff“ (S. 263) verlegte die Realisierung der Nation in die Zukunft, in die Tat. In der Herstellung des reinen Volkes wird die Nation als kognitive Klarheit sozial-kultureller Eindeutigkeit überschritten in der Forderung nach sozial-rassischer Reinheit, die die Möglichkeit und schließlich Notwendigkeit ihrer Herstellbarkeit an die Tat bindet. Während Salomon das Wir mit dem Ich des Kämpfers gleichsetzte, löste er die Grenzen der Nation auf: durch Entgrenzung der Moral und durch Umformulierung des Gebietes in Raum. „Deutschland war dort, wo um es gerungen wurde.“ (Salomon) Bei Céline kommt zum großen Ich=Wir des Kämpfers die Rasse hinzu. War der moderne Antisemitismus von Barrès und der Action française zugleich auch antigermanisch, rückt der Antisemitismus bei Céline nicht nur an die erste Stelle. Céline dynamisiert den Rassismus, indem er ihn auf die Notwendigkeit des Handelns bezieht. „Die Rassentheorie erweist sich dabei als ‚biologische Handlungstheorie‘. Die Rasse muss gemacht werden.“ (S. 337)

Dieser deutsch-französische Vergleich nationaler Selbstthematisierungen ist kein Vergleich im klassischen Sinne, der Ähnlichkeiten und Unterschiede in „nationalen Gesellschaften“ herausarbeitet, weil er, wie der Autor überzeugend argumentiert, sonst selbst der Gefahr der Selbstthematisierung bzw. der Reproduktion von Selbstthematisierungen unterliegen würde. Der Vergleich soll aber auch nicht, wie Bielefeld ausdrücklich betont, den französischen Nationalismus vorführen und damit den fundamentalen Unterschied zu Deutschland verwischen, „der darin besteht, dass die französische Rechte nicht aus eigener Kraft die Stelle der Macht besetzten konnte.“ Damit wendet sich der Vergleich jedoch auch gegen eine ideengeschichtliche Konstruktion einer Kontinuität von Fichte zu Hitler, ebenso wie gegen eine Ineinssetzung von Begriffen und Handlungen. Vielmehr macht er auf ein Paradox und eine Ambivalenz des Nationalen aufmerksam. Das Paradox liegt in der Tatsache begründet, dass sich die Konzepte des Nationalen gleichzeitig für ein partikulares und unversalistisches Selbstverständnis als brauchbar erwiesen: Nationale Selbstthematisierungen waren nicht an die Nation gebunden, für deren Konstitution sie erfunden wurden, sondern konnten ebenso zu Selbstthematisierungen anderer Nationen benutzt und aufgegriffen werden. Die Ambivalenz des Nationalen liegt in der Tatsache begründet, dass die Auflösung des Begriffs der Nation an die Form der Selbstthematisierung selbst gebunden ist – „die Radikalisierung ist dann nicht mehr nur an Gelegenheitsstrukturen zu binden“ (S. 309).

Es handelt sich bei diesem Vergleich, der doch kein Vergleich sein will, um eine ausgesprochen anregende, theoretisch konsistent und überzeugend argumentierende Analyse des Nationalen, die zur Klärung zahlreicher begrifflicher Unbestimmtheiten und theoretischer Unklarheiten innerhalb der Nationalismusforschung einen wichtigen Beitrag leistet. Die Nation kann zwar nicht, als ausdifferenziertes System beschrieben werden, sie lässt sich aber mithilfe der Systemtheorie überzeugend analysieren.

Die Lektüre kann HistorikerInnen, die sich mit dem Nationalen beschäftigen, nur empfohlen werden, zumal die hier wiedergegebenen Analysen und Ergebnisse bei weitem nicht der Fülle an theoretischen Reflexionen des Buches gerecht werden können. Bielefeld zieht darüber hinaus den Bogen des Nationalen bis in die heutige Zeit hinein, in der die Idee des kollektiven Selbstbestimmungsrechts nicht nur erhalten, sondern zu einem institutionellen und rechtlichen Bestandteil des Völkerrechts geworden ist – mit allen ihren Ambivalenzen. Die beeindruckende Breite des Angebots wird jedoch manchmal auch zum Problem für die Lektüre – die Rezensentin hätte sich gewünscht, wenn der Autor manchmal innegehalten hätte, und ihr einige das Lesen und Verstehen strukturierende Hilfestellungen gegeben hätte – nicht im Sinne des Vergleichs, aber doch im Sinne von Beziehungen zwischen den Teilen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension