B. Emich: Bürokratie und Nepotismus unter Paul V.

Cover
Titel
Bürokratie und Nepotismus unter Paul V. (1606-1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Rom


Autor(en)
Emich, Birgit
Erschienen
Stuttgart 2001: Anton Hiersemann
Anzahl Seiten
475 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hillard von Thiessen, Historisches Seminar, Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg

Politikgeschichte hat in den letzten Jahren massiv an Boden zurück gewonnen – nicht im Sinne eines roll back gegen kultur- oder sozialgeschichtliche Ansätze, sondern als Teil dieser Richtungen, unter Anwendung ihrer Methoden. In diesen Kontext gehört die Dissertation Birgit Emichs über den römischen Nepotismus im Pontifikat Pauls V.; sie unternimmt eine „Rekonstruktion des römischen Behördenalltags, die die Verteilung von Macht und Arbeit innerhalb der Gremien nachzeichnet, die maßgeblichen Personen identifiziert und die Kriterien benennt, nach denen entschieden wurde“ (S. 11). Es handelt sich also um einen mikroskopischen, alltagsgeschichtlichen Zugang zur Politikgeschichte, erarbeitet auf der Basis einer enormen Aktenmenge aus der Korrespondenz des Papstneffen im Kardinalsrang. Emich hat dabei ein besonderes Augenmerk auf sonst zumeist wenig Beachtung findende Teile offiziellen Schriftguts gerichtet, auf Marginalien, Dorsalvermerke und Verweise, die über den tatsächlichen Gang der Bürokratie und die daran beteiligten Personen Aufschluss geben. Unscharf bleibt allerdings der im Untertitel genannte Begriff „Mikropolitik“: drückt sich in ihm die mikroskopische Perspektive auf den politischen Alltag aus, oder bezeichnet er – wie bei Wolfgang Reinhard– das Handeln in Netzwerken unterhalb der Ebene offizieller Politik?

Im Zentrum der Untersuchung steht der Kardinalnepot, d.h. ein Neffe oder anderer Verwandter des Papstes, der den roten Hut bald nach Pontifikatsbeginn seines Onkels erhielt. Im Pontifikat Pauls V. spielt Scipione Borghese-Caffarelli diese Rolle als „alter ego“ des Pontifex. Emich unterscheidet drei Funktionen des Kardinalnepoten: Er fungierte zum einen als Behördenchef (Leiter des Staatssekretariats und wichtiger Kongregationen), übte also eine Herrschaftsfunktion aus. Weiterhin hatte er mittels der ihm vom Papst zugesprochenen materiellen und ideellen Gunstbeweise den sozioökonomischen Aufstieg seiner Familie zu bewerkstelligen, also eine Versorgungsfunktion zu erfüllen; diese war bedeutender als die eher latente, in vielen Fällen an Staatssekretäre delegierte Herrschaftsfunktion. Und schließlich war er für die Versorgung der Klientel der Papstfamilie zuständig, kann also als Patronagemanager charakterisiert werden.

Emich ordnet den Kardinalnepoten als eine „Variante der Gattung Günstling-Minister“ (S. 12) ein, ist doch nicht nur eine auffällige zeitliche Parallele zwischen der Phase des institutionalisierten Nepotismus an der Kurie (1538-1692) und dem Auftreten der Günstling-Minister zu erkennen: Vielmehr gleichen sich Nepot und Favorit auch in der Kombination von Herrschaftsfunktion und Patronagemanagement. Beide stellen die „Antwort der Staatsgewalt auf den Prozeß der behördlichen Ausdifferenzierung“ (S. 21) dar. Sie entlasteten den Fürsten vom politisch-administrativen Alltagsgeschäft, koordinierten mit ihrer Autorität die Regierungsorgane und waren für die Distribution der Patronageressourcen ihres Herrschers zuständig. Die entscheidenden Unterschiede der beiden Varianten lagen in der Verwandtschaft des Kardinalnepoten zum Papst und im Charakter des Kirchenstaats als Wahlmonarchie. Die familiäre Bindung festigte die Stellung des Neffen – Kardinalnepoten wurden gemeinhin während des Pontifikats ihres Onkels nicht gestürzt. Auch die Versorgungsfunktion für die Herrscherfamilie übte nur der Kardinalnepot aus, anders als der Günstling-Minister, der mit seinem Fürsten nicht verwandt war.

Aus einer weiteren Gemeinsamkeit von Günstling-Minister und Kardinalnepot leitet Emich ihre zentrale Fragestellung ab: Beide wurden im Verlauf des 17. Jahrhunderts vom Vorläufer des modernen Fachministers, dem Staatssekretär, verdrängt. Kann man also den Kardinalnepoten als Verkörperung überkommener, personaler Herrschaftstechniken mit dem Staatssekretär kontrastieren, der als Bannerträger administrativer Modernisierung beschrieben worden ist? Birgit Emich operationalisiert dieses idealtypisch überspitzt formulierte Forschungsinteresse, indem sie fragt, in welchem Ausmaß Scipione Borghese die Herrschaftsfunktion überhaupt noch ausfüllte, warum es noch unverzichtbar war, dass der Kardinalnepot Leiter des Staatssekretariats wurde und welche Auswirkungen die Dominanz der Versorgungsfunktion für den kurialen Behördenalltag, vor allem für den Handlungsspielraum der Sekretäre hatte.

Zunächst weist Emich mittels einer imponierend präzisen Auswertung der Korrespondenz des Kardinalnepoten mit dem Legaten in Ferrara nach, dass Borghese als Behördenchef zu keinem Zeitpunkt einen besonderen Eifer an den Tag legte, ja sich nach wenigen Jahren fast ganz aus den Geschäften des Staatssekretariats zurückzog. Warum also war er überhaupt zum Leiter dieser Behörde ernannt worden? Die Antwort ist einleuchtend: Weil die Autorität des Papstverwandten noch durch keinen anderen Kardinal oder gar Sekretär zu ersetzen war, denn nur „wer den Bitten des Nepoten entsprach, konnte sicher sein, dessen päpstlichem Onkel gedient zu haben“ (S. 253). Die Bedeutung verwandtschaftlicher Bindungen für die politische Kultur der Frühen Neuzeit wird hier deutlich. Die Autorität des Nepoten förderte andererseits den administrativen Modernisierungsprozess, verschaffte er doch durch seine nominelle Leitung den Gremien, in denen sachkundige Sekretäre die eigentliche Arbeit erledigten, erst die nötige Durchsetzungskraft. Emich konstatiert: „Die Bilanz der Nebenrolle bei der Verwaltung von Staat und Kirche fällt unerwartet gut aus. Als tatkräftigen Mitarbeiter brauchten ihn weder sein Onkel noch die Gremien, als alter ego des Papstes war er für die Behörden und den Regenten jedoch von großem Nutzen.“ (S. 261)

Bleibt die Frage zu klären, inwieweit die Tätigkeit Borgheses als Bereicherer seiner Familie und Patronagechef dysfunktionale Auswirkungen auf die Arbeit der Behörden hatte. Emich vermag nachzuweisen, dass der Kardinalnepot ab 1616 über ein regelrechtes Patronagesekretariat verfügte und damit das Staatssekretariat von dem Schriftverkehr, der die Versorgung der Klientel betraf, entlastete. Nichtsdestotrotz lag es in der Natur des frühneuzeitlichen Staats- und Gesellschaftsaufbaus, dass Patronage und personale Bindungen in alle Felder der Politik hineinreichten. Die Schilderung und Bewertung dieser Gemengelage stellt einen Höhepunkt von Emichs Studie dar. Wenn die Klientenförderung offenkundig negative Auswirkungen auf das Gemeinwohl zeitigte, prallten Behördenvertreter und der Patronagemanager aufeinander. Dies geschah etwa beim Versuch eines Borghese-Klienten, mittels eines Dammbaus quer durch den Po seiner Mühle Wasser zuzuleiten, womit er weite Landstriche der Gefahr einer Überflutung aussetzte. Emich kommt zu einem sehr differenzierten Ergebnis: Sie spricht von einem in den meisten Fällen greifenden „Vetorecht der Experten im administrativen Alltag“ (S. 357). Borghese war zwar in seinen Empfehlungen für Klienten ungebunden, sah sich aber doch, nicht zuletzt mit Rücksicht auf seinen Onkel, gezwungen, Fachleute zu konsultieren, wenn seine Fürsprache negative Folgen zu zeitigen drohte. In einer Reihe von Fällen freilich schaltete er den Einfluss der Fachleute „wissentlich, in voller Absicht und mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln“ aus (S. 362). Er konnte sich dabei sicher sein, dass die Behördenverteter letztlich seinen Anweisungen Folge leisteten.

Damit ist Emich am Ende ihrer Arbeit wieder bei der Frage angelangt, inwieweit sich Nepot und Sekretär als Gegensatzpaar - traditional-patrimoniale Herrschaft versus Staatsidee - begreifen lassen. Dies wird verneint, denn schließlich waren auch die Sekretäre und „Experten“ in der Verwaltung, so sehr von ihnen auch Sachverstand und bürokratische Effizienz gefordert wurden, Teil einer Gesellschaft, in der personale Beziehungen und Abhängigkeiten zählten. Sie erhielten von den Borghese Gunstbeweise und hatten Freunde, Verwandte – auch Neffen! –, Landsleute und Förderer, denen sie verpflichtet waren bzw. die sie zu versorgen hatten. Zu Recht betont Birgit Emich, dass die Suche nach Bürokraten, die im Sinne Max Webers ohne Ansehen der Person sachgerechte Entscheidungen treffen, in der frühneuzeitlichen Bürokratie zum Scheitern verurteilt sein muss. Zu fragen ist allerdings, ob es überhaupt sinnvoll ist, sich in den kurialen Schreibstuben des frühen 17. Jahrhunderts auf die Suche nach der Staatsidee zu machen; hier verleitet die modernisierungstheoretische Begrifflichkeit womöglich zu einer etwas anachronistischen Perspektive.

Der hohe Wert der Arbeit bleibt hiervon unberührt. Der mikroskopische Blick auf den politischen Alltag, die Rekonstruktion der Entscheidungsabläufe und vor allem der tatsächlich an ihnen beteiligten Personen und ihrer Motive und Mentalitäten, dazu eine Herangehensweise, die konsequent auf die anachronistische moralische Aburteilung des Nepotismus verzichtet, fügen sich zu einem dichten Bild. Erfreulich ist auch das durchgängig hohe stilistische Niveau der Arbeit. Zudem vermag Emich ihre Ergebnisse durch den Vergleich der Rolle Scipione Borgheses mit anderen Kardinalnepoten über den Untersuchungszeitraum hinaus zu generalisieren. Die Studie liefert somit einen grundlegenden Beitrag zum alltäglichen Funktionieren frühneuzeitlicher Politik im Allgemeinen und des römischen Nepotismus in seiner Hochphase im Besonderen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension