Titel
Khrushchev. The Man and his Era


Autor(en)
Taubman, William
Erschienen
Anzahl Seiten
768 S.
Preis
$35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Wettig, Kommen

Nach den Werken über Stalin von Dmitrij Volkogonov und Hans-Dietrich Löwe ist nunmehr auch über Chruschtschow eine große Biografie erschienen. William Taubman, Professor am Amherst College in den USA, hat über zehn Jahre in den Moskauer Archiven gearbeitet, die einschlägige Literatur, vor allem die Memoiren russischer Weggenossen in Verwaltung, Politik und Militär ausgewertet und Zeitzeugen in Russland und im Westen befragt. Es entsteht ein ebenso lebendiges wie genaues und detailliertes, aber sich nie in Einzelheiten verlierendes Bild einer spontan-eruptiven, in sich oft widersprüchlichen Persönlichkeit, in der, so wie Ernst Neizvestnyj es auf dem Grabmal zum Ausdruck gebracht hat, Helles und Dunkles, Gutes und Böses nebeneinander standen.

Die dunklen Seiten, die William Taubman bei aller Empathie klar aufzeigt, betreffen nicht allein die Stalin-Zeit, in der sich ein Leitungskader, der überleben wollte, an den Verbrechen des obersten Führers aktiv beteiligen musste, und die blutige Abrechnung mit Berija, durch den Chruschtschow und seine Mitverschworenen ihre physische Existenz bedroht sahen. Auch außerhalb von Stalins Bannkreis und im Kontext der Herrschaftsausübung in den späten fünfziger und sechziger Jahren gibt es nicht wenige Beispiele von Gewalt und Brutalität. Zugleich muss festgehalten werden, dass sich die politischen Sitten nach Stalins Tod unter dem Einfluss Chruschtschows positiv veränderten. Es gab keinen Massenterror mehr, die Ausbootung von Gegnern und Rivalen im Kreml und die Ablösung nachgeordneter Funktionäre bedeuteten nicht länger physische Vernichtung, und Millionen Gefangener wurden aus dem GULag entlassen.

Zu Recht hebt William Taubman die epochale Bedeutung der Geheimrede auf dem XX. KPdSU-Parteitag hervor, die nicht geheim blieb und nach Absicht Chruschtschows auch gar nicht bleiben sollte. Der Entschluss, den kriminellen Charakter von Stalins Regime zu enthüllen, war keineswegs leicht - weder im Blick auf die Legitimität der Sowjetherrschaft noch angesichts vieler Widerstände in den führenden Kreisen Moskaus. Die Rede rief einen Schock in der UdSSR hervor und war, wie William Taubman darlegt, der entscheidende Grund nicht nur für den folgenden Aufruhr in Polen und Ungarn, sondern auch für die Erschütterung seiner innenpolitischen Machtposition Mitte 1957.

Chruschtschow dürfte zwar so weitreichende Konsequenzen kaum erwartet haben, wusste aber zweifellos, dass er sich auf einen gefährlichen Weg begab. Wenn er sich trotzdem dazu durchrang, so ist dies, wie William Taubman deutlich macht, darauf zurückzuführen, dass er bei aller Verstrickung in die Bluttaten vor allem der dreißiger Jahre doch im tiefsten Inneren einen Rest ethischen Bewusstseins bewahrt hatte, dem er Ausdruck verleihen wollte, als er dies konnte. Das war ein befreiender Akt nicht nur für ihn, sondern auch für die UdSSR. Die implizit ausgesprochene - zunächst nur selektiv verwirklichte - Abkehr von Willkür und Gewalt wirkte freilich anders, als er gedacht hatte. Das sozialistische System wurde nicht, wie er als gläubiger Kommunist meinte, gereinigt und funktionsfähig gemacht, denn es konnte nur mittels Gewalt bestehen und wurde in dem Maße unhaltbar, wie darauf verzichtet wurde.

William Taubman stellt die erstaunliche, nur in einer Periode totalen politischen und sozialen Umbruchs mögliche Karriere Chruschtschows vom Metallarbeiter zum Führer der mächtigen Sowjetunion packend dar. Er lässt den Leser diesen Lebenslauf in all seinen Höhen und Tiefen miterleben. Die in den sowjetischen Machtstrukturen angelegte Brutalität des Konkurrenz- und Machtkampfes wird dabei ebenso deutlich wie ein unerschütterlicher Optimismus, der trotz vielfacher Rückschläge in der Wirtschafts- und Außenpolitik (nicht zuletzt im Zusammenhang mit den Problemen in Deutschland) an der Zuversicht festhalten ließ, dass dem Sozialismus die Zukunft gehöre und daher die UdSSR unausweichlich über den Westen siegen müsse, auch wenn die gegenwärtige Lage ganz anders aussah.

Dieser Optimismus bewog Chruschtschow dazu, den Bürgern seines Landes leichtfertig ein baldiges Übertrumpfen des amerikanischen Lebensstandards zu versprechen, weitreichende Zugeständnisse der USA während der Berlin-Krise auszuschlagen, um die Erfüllung aller gestellten Forderungen abzuwarten (womit er den Westmächten faktisch die Aufrechterhaltung des Status quo erlaubte), und an den Sieg der DDR im Systemwettbewerb mit der Bundesrepublik zu glauben (wobei die schließlich akzeptierte Abriegelung des SED-Staates einen Ausgleich für vermeintliche Situationsnachteile schaffen sollte).

Einer Selbsttäuschung unterlag der sowjetische Führer auch im Blick auf die militärische Kräfterelation zu den USA und die daraus resultierenden Optionen des politischen Handelns. Weil er davon überzeugt war, dass man in Washington den Krieg scheuen würde, glaubte er, den Amerikanern aus einer Position völliger nuklearer Unterlegenheit heraus (zu Anfang besaß er überhaupt keine Interkontinalraketen) durch bluffende Drohungen seinen Willen in Berlin aufzwingen zu können. Damit kam er zwar zeitweilig überraschend weit, aber zu der verlangten totalen politischen Kapitulation konnte er die Vereinigten Staaten doch nicht bewegen. Nur den Bau der Mauer, den er lange abgelehnt hatte, konnte er durchsetzen - weil Kennedy diesen als vereinbar mit den Interessen seines Landes ansah. Der wagehalsige Versuch, den USA durch das Fait accompli einer Raketenstationierung auf Kuba das Fürchten zu lehren, misslang - und damit schwand die letzte Aussicht, ihnen die sowjetische Berlin-Lösung aufzunötigen.

In das Zentrum seiner Biografie stellt William Taubman die Persönlichkeit Chruschtschows, deren Stärken und Schwächen, Kontinuitäten und Widersprüche er meisterhaft zu schildern versteht. Daher richtet sich auch im Blick auf das politische Handeln die Aufmerksamkeit weniger auf die Einzelvorgänge und Sachzusammenhänge als auf die zu Grunde liegenden Wahrnehmungen und Motivationen. Insgesamt hat er ein großes Werk geschrieben, das als Klassiker in die Literatur über die Geschichte der Sowjetunion eingehen wird.

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