K. Neal: From discrete to continuous

Titel
From discrete to continuous. The broadening of number concepts in early modern England


Autor(en)
Neal, Katherine
Erschienen
Anzahl Seiten
184 S.
Preis
$64.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Burckhardt, Philosophische Fakultät I, Humboldt-Universität zu Berlin

„Mathematik ist die Wissenschaft von den Größen“, definierte noch Christian Wolff in seinem 1716 erschienenen Mathematischen Lexikon. Sie stellt demnach die beiden Fragen „Wie groß?“ und „Wie viele?“ kontinuierliche Größen wie Linien, Flächen und Körper bildeten die Objekte der klassischen Geometrie, während die Arithmetik Eigenschaften einer diskreten Anzahl – zwei, drei, vier... – untersuchte. Diese beiden theoretischen Fächer, ergänzt um Astronomie und Harmonik als den Sinnen zugängliche Anwendungen des Messens und Zählens, führte Platon im siebten Buch über den Staat als die für die Ausbildung der Wächter erforderlichen Lerngegenstände ein: Ta mathemata. Boethius fasste diese vier Fächer um 500 als quadruvium zusammen. Durch die Aufnahme des „Vierwegs“ in den Lehrplan der mittelalterlichen Schulen dominierte diese auf der strikten Trennung zwischen kontinuierlichen und diskreten Quantitäten gegründete Wissensordnung bis in die Frühe Neuzeit gegenüber alternativen Klassifikationen der mathematischen Disziplinen.

Katherine Neal zeichnet in der vorliegenden Arbeit anhand von Texten englischer Mathematiker aus dem 16. und 17. Jahrhundert nach, wie die antike Trennung zwischen Anzahl und Größe erst immer unschärfer wurde und in der Folge einem erweiterten Zahlbegriff wich, der nicht nur die Eins und die Null, sondern auch Brüche, negative Zahlen sowie geometrisch eingeführte irrationale Verhältnisse wie das zwischen Diagonale und Seite eines Quadrates mit einschloss. Da das Studium von Geometrie und Arithmetik in England bis gegen Ende der Tudor-Monarchie im Unterricht von Cambridge und Oxford und auch außerhalb kaum über Kommentare und eine erste Übersetzung von Euklid sowie vom Kontinent übernommene Lehrbücher hinausging, beginnt der aus einer Doktorarbeit hervorgegangene Band mit einem Blick auf einige vom europäischen Festland ausgehende Entwicklungen.

Der aufblühende Handel führte in den norditalienischen Städten ab Ende des 13. Jahrhunderts zur Gründung von universitätsunabhängigen Abakus-Schulen, in denen den Söhnen von Kaufleuten die Lösung praktischer Probleme wie die Konversion zwischen Währungen, Zinsrechnung sowie die Aufteilung von Gewinnen und Verlusten bei gemeinsamen Investitionen gelehrt wurde. Durch diesen Unterricht setzte sich in Westeuropa langsam das schriftliche Rechnen im Positionssystem mit den indisch-arabischen Ziffern inklusive der Null gegen die römischen Ziffern und die Operationen auf dem Rechentisch durch. Der Algebra genannte Umgang mit Gleichungen setzte ebenfalls eine aus dem arabisch-islamischen Kulturkreis übernommene Wissenschaft fort. Deutsche Rechenmeister wiederum führten gegen Ende des 15. Jahrhunderts aus Abkürzungen und Ligaturen hervorgegangene Kurzschreibweisen für Rechenoperationen und Potenzen der Unbekannten ein.

1591 veröffentlichte François Viète mit seiner In artem analyticem isagoge eine symbolische Algebra, in der Buchstaben sowohl für bekannte als auch unbekannte geometrische Größen, ganze Zahlen, Brüche oder Wurzeln daraus stehen können. Durch diese vereinheitlichende Formelsprache wurde die alte Trennung zwischen Arithmetik und Geometrie geschwächt und ein neues Verständnis von Zahlen als abstrakter Größen ermöglicht. 1 Zur selben Zeit wie Viète revolutionierte der aus Brügge stammende Simon Stevin diejenigen mathematischen Disziplinen, in denen Genauigkeit eine zentrale Rolle spielt. Durch die durchgehende Dezimalschreibweise von Brüchen wurden Berechnungen zur Vermessung und bei der Navigation zu Land und auf der See vereinfacht und beschleunigt.

An diese Vorbetrachtungen anschließend, stellt Neal rund 10 Werke englischer Autoren vor. Kurze biografische Einführungen schildern jeweils Ausbildung und Tätigkeit und ermöglichen so eine grobe Zuordnung der einzelnen Verfasser zu einer der vielen intellektuellen und praktischen Traditionen frühneuzeitlicher Mathematiker.

Robert Recorde ist trotz seiner universitären Ausbildung zur Gruppe der Rechenmeister zu zählen. Er verfasste die erste Reihe englischsprachiger Lehrbücher zur Arithmetik, Geometrie und Algebra. In seinem Rechenbuch The Whetstone of Witte (1557) übernahm er die cossistischen Symbole deutscher Autoren und fügte diesen das bis heute gebräuchliche Gleichheitszeichen hinzu. Recorde lässt Brüche in Gleichungen zu, lehnt aber negative Lösungen ab: „An absurde nomber expresseth lesse than naught“ (S. 54). Mit seinem breiten Interesse an Optik, Astronomie und Ballistik gehört dagegen Thomas Harriot zur Gruppe der primär an der Beschreibung und Berechnung von Naturphänomenen interessierten Mathematiker (S. 62). 1631 erfolgte die posthume Veröffentlichung seiner Artis analyticae praxis. Diese Algebra wurde insbesondere von John Wallis gelobt, der später sogar Descartes des Plagiats an Harriot bezichtigte. Wesentlich mehr Verbreitung fand aber William Oughtreds im selben Jahr publizierte Clavis mathematicae. Ihr Inhalt ging aus Oughtreds langjähriger Tätigkeit als Tutor hervor und führte der englischen Leserschaft sowohl Viètes Algebra, deren präzise Symbolik gut zu Bacons Programm einer von allem rhetorischen Ballast befreiten Naturbeschreibung passte, als auch Techniken zur dezimalen Approximation irrationaler Größen vor.

Während Oughtred davor zurückscheute, negative Zahlen als Lösungen von Gleichungen zuzulassen, tauchten sie in späteren Auflagen der Clavis als unverzichtbarer Bestandteil der äußerst nützlichen Theorie der Logarithmen auf. Diese wurden vom Schotten John Napier zur Vereinfachung der bei der Navigation nach astronomischen Daten erforderlichen trigonometrischen Berechnungen eingeführt und 1614 in der Mirifici Logarithmorum Canonis descriptio erstmals veröffentlicht (S. 89). Durch die an die physikalische Intuition anknüpfende kinematische Konstruktion versuchte Napier, die bei der Frage nach dem Aufbau des Kontinuums auftauchenden Antinomien zu umgehen. Die praktischen Vorzüge der neuen Technik führten zu einer schnellen Verbreitung der Logarithmen und drängten die Frage nach der Zulässigkeit dynamischer Argumente in der Geometrie vorerst in den Hintergrund.

Die Priorität von Sinneseindrücken gegenüber der Ideen- und Begriffsbildung wurde fünfzig Jahre später auch von Isaac Barrow zur Begründung des Vorrangs der Geometrie gegenüber der Arithmetik herangezogen. „There is really no Quantity in Nature different from what is called Magnitude or continued Quantity and consequently [...] this alone ought to be accounted the Object of Mathematics.“ 2 Damit richtete sich der in Cambridge lehrende und als Humanist ganz der Tradition der antiken Geometer verpflichtete Universitätsprofessor gegen seinen berühmten Oxforder Kollegen John Wallis. Dieser hatte in der Mathesis unversalis von 1657 geometrische Operationen als bloße Anwendung allgemeiner arithmetischer Gesetze beschrieben: „Simply because a line of two feet added to a line of two feet makes a line of four feet, it does not follow that two and two make four; on the contrary the former follows from the latter.“ 3

„Much ado, about nothing. Great warres and no blowes. Who is the foole now?“ schrieb Thomas Harriot an den Fuß eines seiner Manuskripte über die Zusammensetzung des Kontinuums (S. 158). Ein passendes Fazit zu den gescheiterten Versuchen, im 17. Jahrhundert den bei der Lösung geometrischer Probleme und arithmetischen Berechnungen vollzogenen Übergang zu den „reellen Zahlen“ – der Begriff selbst ist neueren Datums – auch theoretisch überzeugend abzusichern. Eine neue Generation interessierte sich mehr für Descartes‘ Géométrie, den neuen Infinitesimalkalkül und die immer genaueren Tafeln der Logarithmen und trigonometrischen Funktionen als für Einwände von Aristoteles und entsprechende Feinheiten der antiken Proportionentheorie. Zu vielfältig und nützlich waren die Ergebnisse der Mathematik um 1700, als dass es sich gelohnt hätte, länger bei der Frage nach der Natur der von ihr untersuchten Größen zu verweilen.

Neal beschreibt diese Stationen kohärent und in einem verständlichen Stil. Die Darstellung führt aber inhaltlich und analytisch kaum über die auf eine wesentlich breitere Quellenbasis gestützte Monografie zur Frühgeschichte der Algebra in England und Schottland von Helena Pycior hinaus. 4 Statt sich einzig auf Veränderungen im Zahlverständnis zu konzentrieren, wäre eine genauere Untersuchung der bis auf Proklos zurückzuverfolgenden und im untersuchten Zeitraum insbesondere zwischen Thomas Hobbes und Wallis heftig geführten Debatte um die Priorität von Geometrie oder Arithmetik wohl ertragreicher gewesen. Eine Vielzahl von Tippfehlern und erhebliche Mängel beim Formelsatz und Zeilenumbruch trüben sowohl das Lesevergnügen als auch das Ansehen der Reihe und des Verlags.

Anmerkungen:
1 Jacob Klein nennt deshalb in seiner einflussreichen Untersuchung Viète den wahren Begründer der modernen Mathematik: Klein, Jacob, Greek Mathematical Thought and the Origin of Algebra, Cambridge 1968, S. 5.
2 Zitiert nach Pycior, Helena, Symbols, Impossible Numbers, and Geometric Entanglements. British Algebra through the commentaries on Newton‘s Universal Arithmetick, Cambridge 1997, S. 157.
3 Zitiert nach Pycior (wie Anm. 2), hier S. 124.
4 Pycior (wie Anm. 2). Einen ähnlichen Themenbereich mit einem besonderen Schwerpunkt auf John Wallis‘ Treatise of Algebra behandelt auch Stedall, Jacqueline A., A Discourse Concerning Algebra. English Algebra to 1685, Oxford 2002.

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