Cover
Titel
The Holy Reich. Nazi Conceptions of Christianity, 1919-1945


Autor(en)
Steigmann-Gall, Richard
Erschienen
Anzahl Seiten
294 p.
Preis
$30.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Schmidt, Großhansdorf

Zur Aufarbeitung der Geschichte der deutschen Kirche, zumal des Protestantismus, hat der britische Historiker Richard Steigmann-Gall mit seiner Untersuchung über “Das heilige Reich” einen zugleich wichtigen und diskussionsbedürftigen Beitrag geliefert. Das Buch, eine erweiterte Fassung seiner von der Universität Toronto (Kanada) angenommenen Dissertation, fußt auf umfangreichen, eingehenden Recherchen in deutschen Archiven und der breit angelegten Auswertung der zeitgenössischen Literatur sowie der zu dieser Thematik erschienenen (in der Mehrzahl englischsprachigen) Untersuchungen. Das Verhältnis des Nationalsozialismus zum Christentum und zu den Kirchen stellt er jeweils im Anschluss an ein themabezogenes Zitat in acht Kapiteln dar: 1. Positives Christentum, 2. Überbrückung der konfessionellen Spaltung, 3. Die heidnische Doppeldeutigkeit, 4. Nationale Erneuerung, 5. Die Evangelische Reichskirche, 6. Ausbau der Volksgemeinschaft, 7. Gottgläubigkeit, 8. Das Heilige Reich. Zusammenfassung.

Ansatzpunkt für Steigmann-Gall ist ein in der zeitgeschichtlichen Forschung nach eigenem Bekunden bisher ausgespartes Thema: die ambivalente Beziehung zwischen Nationalsozialismus und christlicher Tradition. Steigmann-Gall will die, wie er behauptet, “Fehleinschätzung der letzten 50 Jahre” korrigieren, nach welcher der Nationalsozialismus eine antichristliche Bewegung gewesen sei. Den Zugriff auf sein spezifisches Beobachtungsfeld gewinnt er durch Abgrenzung nach zwei Seiten, der Annahme, die Ideologie des Nationalsozialismus sei mehr oder weniger Religionsersatz gewesen, also an die Stelle der christlichen Tradition getreten (Fritz Stern und seine Schule), und der Behauptung, der Nationalsozialismus habe lediglich säkularen Wein in christliche Flaschen gefüllt (George Mosse). Steigmann-Gall sieht den Schlüssel zum Verständnis der Beziehungen zwischen Nationalsozialismus und christlicher Tradition im Leitbegriff “Positives Christentum” in Punkt 24 des Parteiprogramms von 1920: “Die Partei [...] vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden.” Er sei keineswegs lediglich aus taktischen Gründen in so allgemeiner Formulierung in das Parteiprogramm aufgenommen und daher mehr als nur als ein politischer Trick (ploy). Er ist, folgt man Steigmann-Gall, geeignet, den Zugang zum Verständnis des Nationalsozialismus, seinen Zielen und Aktionen, in drei von den Nationalsozialisten als “christlich” definierten Aktionsfeldern zu eröffnen: 1. ideologischer Angriff gegen die Juden, 2. Überwindung der konfessionellen Spaltung Deutschlands sowie 3. Verbreitung einer nationalsozialistischen Sozialethik.

Was Steigmann-Gall allerdings (S. 49-50) als inhaltlichen Grundstock eines “positiven Christentums” und zur Abwehr von Widerspruch gegen seine Thesen (Polykratie, Autonomie der Führer, Fehlen einer zentralen Koordination und Planung für eine umfassende Verschwörung gegen das Christentum) anführt, überzeugt nicht. Der durchschnittliche, meist junge Nationalsozialist dürfte angesichts seiner Sozialisation im ausgehenden Kaiserreich und in der Weimarer Republik einen solchen Grundstock christlicher Auffassungen kaum erworben haben. Statistische Angaben für diese Zeit über Kirchenaustritt und die abnehmende Teilnahme an kirchlichen Amtshandlungen sind aussagekräftiger. Innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung gab es eine entgegen gesetzte, “neuheidnische” Strömung, mit Alfred Rosenberg als ihrem Exponenten, die sich auf Blut, Rasse und nationale Ehre gründete, dem “Positiven Christentum” gleichgültig oder ablehnend gegenüberstand und auf die zukünftige germanisch-deutsche Welt gerichtet war. Sie war innerhalb der Partei niemals mehrheitsfähig und hatte erst in der Schlussphase des Nationalsozialismus Chancen, stärker beachtet zu werden, weil sie mit Martin Bormann, dem mächtigsten Nationalsozialisten nach Hitler, in Verbindung gebracht wurde.

Der Antiklerikale und Christenfeind, seit 1941 Chef der Parteikanzlei und hauptsächlich hinter den Kulissen agierend, geriet bei seinen Aktionen und Interventionen häufig in Konflikt mit anderen einflussreichen NSDAP-Mitgliedern. Sein extremistisches Dogma “Nationalsozialismus und Christentum sind unvereinbar, die Evangelische Kirche und die Katholische Kirche sind gleichermaßen Feinde des Nationalsozialismus und müssen bekämpft werden”, scheint auch auf Hitler selbst abgefärbt zu haben: 1941 verurteilte er ausdrücklich die Religion, die er früher geschätzt hatte und nannte das Aufkommen des Christentums den “schwersten Schlag, der die Menschheit je getroffen hat”, es führe schlicht zur Auslöschung der Menschheit und sei nichts anderes als Bolschewismus unter dem Mantel der Metaphysik. Es überrascht daher, dass Steigmann-Gall auch für diese Periode an seiner Ausgangsthese festhält, der Nationalsozialismus sei trotz seiner (besonders nach 1937) zunehmenden Feindseligkeit gegenüber den Kirchen “niemals ganz antichristlich” (S. 217), die Aktionen und Gegenaktionen innerhalb seiner Polykratie seien bis zum Ende von Ambivalenz und Widersprüchlichkeit gekennzeichnet gewesen. Die hierfür angeführten Belege (Zulassung oder Verbot von Büchern und Publikationen - Rosenbergs vergeblicher Versuch, sein Parteibüro zu einem staatlichen Amt aufwerten zu lassen – Bormanns Angriffe gegen das Eisenacher Institut 1942 und seine gescheiterten Anstrengungen, Graf Galen - 1946 Kardinal - zu beseitigen) reichen aber zur Erhärtung dieser These nicht aus, zumal Steigmann-Gall (S. 245) selbst einräumt, dass es im Wesentlichen um Machtanteile und Kompetenzstreitigkeiten der nationalsozialistischen Potentaten untereinander und damit also nicht um die Behauptung eines “Positiven Christentums” ging.

Seine selbst formulierten Zweifel, dem Leser in Frageform präsentiert, werden von ihm nicht überzeugend ausgeräumt: Entfaltete das Regime jetzt eine aus taktischen Gründen bisher zurückgehaltene Offensive gegen einen ideologischen Feind, wurde der Nationalsozialismus darum jetzt christenfeindlicher und unterschied daher nicht mehr wie bisher zwischen antiklerikal und antichristlich, und schließlich: Hatte die NSDAP auch für das Christentum so etwas wie eine “Endlösung” im Sinne? In allen drei von Steigmann-Gall ausgewählten Aktionsfeldern öffnete sich der deutsche Protestantismus dem Nationalsozialismus in einem wesentlich stärkeren Maße als der Katholizismus, dieses nachzuweisen und im Einzelnen zu belegen, ist eines der Hauptanliegen der Untersuchung. Ideologisch fühlten sich evangelische Christen durch den Nationalsozialismus mehr angesprochen als Katholiken und Calvinisten. Das gilt generell für den Antisemitismus der Nationalsozialisten, aber auch und besonders für die Eugenik, wie sie in den evangelischen Sozialeinrichtungen gesehen und praktiziert wurde. Die evangelische Kirche habe die Euthanasie zwar nicht aktiv unterstützt, doch sei ihr Widerstand “unterminiert” worden durch die rassistischen Implikationen ihres Schöpfungsglaubens. Im Unterschied dazu sei die Abneigung zwischen Nationalsozialismus und Katholischer Kirche gegenseitig gewesen. Die Kirche habe den nationalsozialistischen Rassismus abgelehnt, die Partei die Internationalität des Katholizismus. Ein Gegengewicht, ein Bollwerk gegen die Katholische Kirche sollte die von den Nationalsozialisten angestrebte, letztlich an innerprotestantischen Gegensätzen gescheiterte Evangelische Reichskirche sein, die Deutschen Christen unter dem vom Regime kreierten “Reichsbischof” Ludwig Müller das ausführende Werkzeug.

Steigmann-Gall stellt dem Leser zahlreiche Personen vor, Nationalsozialisten der höchsten und der mittleren Führungsebene, Kirchenführer und Kirchenangehörige unterschiedlichster Einstellung und ihre Beziehungen untereinander. Die Empfänglichkeit der deutschen Massen für die religiösen Ansprüche der nationalsozialistischen Ideologie bleibt aber ebenso außerhalb der Betrachtung wie die Frage, ob (und wie) diese Ansprüche möglicherweise der Angelpunkt für den breiten sozialen Konsens gewesen sind, den die Nationalsozialisten versucht haben. Von den Oppositionellen, die sich öffentlich gegen wesentliche Elemente des Nationalsozialismus wandten, wird auf evangelischer Seite Martin Niemöller, auf katholischer Seite Kardinal Graf Gahlen genannt. Die “Dahlemer” Protestanten hätten sich zwar dem Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus widersetzt, seien jedoch nicht einheitlich gegen den Antisemitismus gewesen, gar nicht Otto Dibelius und gänzlich nicht einmal Martin Niemöller. Man schwieg zu den Opfern des rassischen Antisemitismus. Außerhalb der Bekennenden Kirche war allerdings der klerikale Antisemitismus sehr viel größer. Besonders bedrückend ist die offizielle Verlautbarung von sieben lutherischen Landeskirchen vom Dezember 1941: sie wiesen die Zugehörigkeit protestantischer Juden zur Evangelischen Kirche zurück.

Es bleiben auch hier Fragen und Zweifel, die in Auseinandersetzung mit den Thesen Steigmann-Galls durch anschließende Forschungen zu klären sind. Insbesondere müsste die “protestantische Schlagseite” des Verfassers durch Detailuntersuchungen über den Katholizismus überprüft werden. Abgesehen davon, dass chronologische Angaben an einigen Stellen (z.B. S. 181; S. 201-202) unklar oder unpräzise sind und Formulierungen Eindeutigkeit vermissen lassen (S. 12, 23, 29, 201), scheint es so, als hätte Steigmann-Gall die heftige Diskussion über die Katholische Kirche, die Rolf Hochhuths Schauspiel “Der Stellvertreter” vor vier Jahrzehnten auslöste, nicht rezipiert. Und gehört zu den Traditionen des Luthertums (dessen neuere Geschichte mit dem “Kulturprotestantismus” und dem theologischen Liberalismus nur gestreift wird) nicht auch ein auf die Zwei-Regimenter-Lehre zurückgehendes traditionelles Verständnis von Staat und “Obrigkeit”, das es dem Nationalsozialismus möglicherweise erleichtert hat, auf den Protestantismus stärker zuzugreifen? Hatte überhaupt für das Machtsystem des Nationalsozialismus das “Positive Christentum” tatsächlich das Gewicht, das Steigmann-Gall behauptet, um seine Thesen (12: Nationalsozialismus als “der radikalisierte und auf einzigartige Weise schreckliche Versuch, Gott zu bewahren gegen die säkularisierte Gesellschaft”) zu belegen, und taugt der Johannes-Vers “Wer immer euch tötet, wird meinen, er tue Gott einen Dienst damit.” (Joh 16,2) (S. 261) als Motto für ihre Zusammenfassung? Der von Steigmann-Gall gewählte Titel der Untersuchung “The Holy Reich” wird auch in der Zusammenfassung (S. 261-267) weder belegt, noch erläutert.

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