A. Kappeler: Culture, Nation and Identity

Cover
Titel
Culture, Nation and Identity. The Ukrainian- Russian Encounter, 1600-1945


Herausgeber
Kappeler, Andreas; Kohut, Zenon E.; Sysyn, Frank E.; von Hagen, Mark
Anzahl Seiten
381 S.
Preis
$ 18.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Lindner, Insitut Geschichte, Universität Konstanz

Vor fast zehn Jahren fragte der amerikanische Osteuropahistoriker Mark von Hagen: „Does Ukraine have a history?“1 Eine bemerkenswerte und fruchtbare historiografische Debatte war die Folge, in der auch die Leitthemen des vorliegenden Bandes zur Sprache kamen: die Frage nach der Eigenständigkeit ukrainischer Staatlichkeit und Nationswerdung, nach der Ausbildung eines nationalen Sonderbewusstseins an der imperialen Peripherie, nach Konstruktion und Dekonstruktion von „ukrainischer“, „kleinrussischer“, „großrussischer“ oder einer anationalen „lokalen“ Identität sowie nach Formen und Phasen russisch-ukrainischer Beziehungsgeschichte. Unter dem Eindruck des zerfallenen Sowjetimperiums und neuer Staatsbildungen spitzten 1994 und 1995 ausgewiesene Historikerinnen und Historiker auf vier Konferenzen in New York und Köln diese Fragen an die ukrainisch-russische Geschichte für den Zeitraum von der Frühen Neuzeit (1600) bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zu. Das Ergebnis liegt jetzt als wichtiges Sammelwerk vor.

Der von Andreas Kappeler, Zenon E. Kohut, Frank E. Sysyn und Mark von Hagen herausgegebene Band ist als inhaltliche Bestandsaufnahme zur Geschichte der ukrainisch-russischen Beziehungen und als Abbild der neueren Ukraine-Forschung gleichermaßen zu lesen. Diejenigen Autorengruppen, die in den vergangenen Jahren das Bild der ukrainischen Geschichte geprägt haben, sind in der Textsammlung vertreten: Repräsentanten der nationalukrainischen Geschichtswissenschaft, der institutionalisierten auslandsukrainischen Historiografie und der westlichen Russland-Ukraine-Forschung. Der Kanon ist nur insofern unvollständig, als die Ukrainistik der Russischen Föderation, etwa in Gestalt des Instituts für Slawische Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau, nicht vertreten ist. Dort bestimmt die großrussische nationalistische Interpretation den Kanon. Professor Michail V. Dmitriev hat an einer der Tagungen teilgenommen und – wie im Vorwort vermerkt wurde – die Homogenität der Ostslawen betont. (S. X) Ein Abdruck seiner Wortmeldung hätte die Diskursivität des Bandes zusätzlich belebt.

Angesichts der Zusammensetzung der Autorenschaft verwundert es nicht, dass die Texte den Pfad der Ukraine in der neueren Geschichte in unterschiedlicher Weise bewerten. Die auslandsukrainischen Autoren betrachten die russisch-ukrainischen Beziehungen als „dialog of cultural paradigms“ (Oleh S. Ilnytzky, S. 321), deren Instabilität „in two distinct and sometimes competing visions of identity […], two different cultural paradigms […], two different political models“ (Olga Andriewsky, S. 196) begründet sei, hebt die westliche Ukrainehistoriografie eher die imperialen Dimensionen der Beziehungen, wie etwa die Inkorporierung des Kosakenadels durch Katharina II., die ethnischen Differenzierungen, die Selbst- und Fremdzuschreibungen zwischen Ukrainern/Kleinrussen und Russen/Großrussen, als prägende Elemente hervor. Damit ist der zentrale Diskussionsgegenstand des Bandes charakterisiert. Im Kern geht es um die erweiterte Frage: „Does Ukraine have a history – separately from Russia?“

Die Textsammlung ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Abschnitt „The Early Modern Period“ wird vor allem anhand von kirchenhistorischen und literarischen Zeugnissen des 17. und 18. Jahrhunderts gezeigt, dass die Ukraine aus der Sicht des Moskauer Reiches vor ihrer linksufrigen Eingliederung in den Verträgen von Perejaslaw 1654 und Andrussowo 1667 (1680) als „Ausland“ angesehen wurde und die Verbreitung von religiösen Schriften in „ukrainischer“ Sprache verboten war. In einer Diskursanalyse zu Arbeiten des Erzbischofs von Tschernihiw zeigt David A. Frick die Flüchtigkeit religiöser Zuschreibungen in imperialen Grenzgebieten. Lasar Baranowitsch (gest. 1693) wird als Kirchenpolitiker und Autor vorgestellt, der Kiev nach Polen-Litauen zurückführen und damit aus der Umklammerung durch Moskau lösen wollte. Seine Begriffe für „Vaterland“ – „Kleinrussland“ oder „Ukraine“ – trafen sich in den Texten mit einer „nostalgia for the Polish-Lithuanian Commonwealth“ (S. 31). Baranowitsch verkörpert die Identität des Grenzlandes, in dem er wenig Schwierigkeiten hatte, Orthodoxie mit einer Vision des „Ruthenentum“ und „polish views of civilization“ zu vereinbaren (S. 35).

Als zentrales Dokument der Konstruktion von Identitäten gilt drei Autoren (Zenon E. Kohut, Frank E. Sysyn, Olga Andriewsky) die um 1670 vom Archmandriten des Kiever Höhlenklosters geschaffene „Synopsis“, die zu Unrecht (Sysyn) als „erste Geschichte der Ostslawen“ angesehen werde. Einer intensiveren Redaktion des Bandes hätte freilich auffallen müssen, dass mit abweichenden Übersetzungen der Begriffe für „Russland“ und die „allrussische Nation“ operiert wird (S. 65, 117, 198). Die Frage, ob Rus’ mit „russisch“ oder „ruthenisch“ (d.h. explizit nicht-russisch) übersetzt wird, gehört zu den Grundproblemen nationalukrainischer Geschichtsinterpretation. Kohut leitet aus den Erfahrungen im Großfürstentum Litauen und den kosakischen Traditionen in der Ukraine beziehungsweise „Kleinrussland“ eine Sonderentwicklung ab, die auch für die Ideenwelt des Moskauer und Petersburger Imperiums nicht ohne Wirkung geblieben ist – wie der inzwischen verstorbene Hans-Joachim Torke anhand des Kiever Mohyla-Kollegiums zeigt. Ein Aufklärer wie Simeon Polotsky (den die Weißrussen ihrerseits als Repräsentanten einer nationalen Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts reklamieren) habe 1678 die Hofdruckerei in Moskau gegründet. Anders gesagt, die „Europäisierung“ Russlands, die vor allem Peter I. sich zum Anliegen machte, sei – so Torke – von Aufklärern aus „Russia’s West“, aus der Ukraine und Weißrussland vorbereitet worden. Viktor Zhivov zeigt, dass ungeachtet der imperialen Ausdehnung Russlands Zar Peter I. „offen“ genug gewesen sei, um die Moskauer Akademie nach Kiever Vorbild zu reformieren und eine „relative Autonomie“ des Kiever Metropoliten zu sichern. Frank E. Sysyns Beitrag untersucht an vier zwischen 1670 und 1710 entstandenen Texten die Frequenz von territorialen und nationalen Zuschreibungen, wie „Ukraine“, „ukrainisch“, „Kleinrussland“ oder „Kosaken“, die die Herausbildung einer „Kosaken-“ oder „kleinrussischen Nation“ in der Wahrnehmung kleinrussischer Eliten (Hrabianka 1710, Welytschko um 1720) anzeigen.

Im zweiten Teil „The Imperial Period“ halten Paul Bushkovich und Andreas Kappeler einer nationalukrainischen Sicht entgegen, dass sich die Ukrainer nach der Inkorporierung ins russische Imperium einer festen „ethnischen Hierarchie“ (S. 162) unterzuordnen hatten, die nach politischer Loyalität, sozialer Schichtung und kultureller Nähe zur russischen Reichsideologie festgelegt war. Wie konzentrische Kreise (Kappeler S. 169) waren die kulturellen Fremdzuschreibungen um die „wahren Russen“ angeordnet. Ganz außen standen die islamischen Bergvölker des Kaukasus, die in der Wahrnehmung der konservativen Staatsräson am wenigsten loyal gegenüber dem Zentrum waren. Verbreitet waren Ansichten, wie sie etwa Puschkin in seiner Reisebeschreibung von 1829 vertrat, wonach bei den Tscherkessen der Säbel ein „Teil ihres Körpers“ und „jede Körperbewegung ein Mord“ sei.2

Für das 19. Jahrhundert konstatieren die Autoren eine Einebnung der kulturellen Differenzen zwischen Russen und Kleinrussen. Zugespitzt wird sogar formuliert, dass nach 1782 – nachdem die ukrainische Autonomie beseitigt und das Hetmanat integriert worden war – die russisch-ukrainischen Beziehungen nicht mehr existierten (Andriewsky, S. 182). Das Ukrainertum sei nicht zuletzt durch Dekrete, wie der Emser Depesche, in seiner Entfaltung stark behindert worden. George G. Grabowicz zeigt das am Beispiel des „’Vaters’ der modernen ukrainischen Literatur“ Iwan Kotliarewskyj, der lange vor Taras Schewtschenko das Bild der Ukrainer in der Wahrnehmung der gebildeten Russen geprägt habe. Der Beitrag zur Präsentation der ukrainischen Geschichte in Schulbüchern vor 1900 (Serhy Yekelchuk) übersieht, dass zwar Schüler in den ukrainischen Provinzen gelegentlich von Lehrern nationaler Prägung unterrichtet wurden, nicht aber mit Lehrbüchern ausgestattet waren, die dem russischen oder „großrussischen“ Geschichtsbild eine Nationalgeschichte der Ukraine hätten entgegensetzen können. Kostomarow, Drahomanow oder Hruschewsky wurden vorwiegend von der jungukrainischen Intelligenz und Studenten, kaum aber von Schülern und Gymnasiasten gelesen. Wichtige Erkenntnisse über gemeinsame und unterschiedliche Rituale und Symbole russischer und kleinrussischer Bauern hat Christine D. Worobec zutage gefördert. Es ist einer der wenigen Beiträge des Bandes, in denen ethnische und regionale Differenz sowie soziale Praxis miteinander in Bezug gesetzt werden.

Im dritten Teil „The Twentieth Century“ wendet sich Dieter Pohl der ethnischen Differenzierung von Russen und Ukrainern während der deutschen Besatzung 1941-44 zu. Yuri Shapoval beteiligt sich zu Recht an der historiografischen Entzauberung der „korenisazija“ (Entwurzelungspolitik), einer Periode frühsowjetischer Nationalitätenpolitik, die keineswegs „liberal“ gewesen sei. Von Beginn an wurden die nationalen Eliten von der Geheimpolizei GPU-NKVD streng observiert und Maßnahmen gegen eine politische Etablierung der Nationenkonstrukte unternommen.3 Stanislav Kulchytsky unterstützt diese Sicht insofern, als er die Gründung der Ukrainischen Sowjetrepublik als Ergebnis einer rigorosen Zentrumspolitik mit dem Ziel zur „Schwächung der nationalen Befreiungsbewegung“ (S. 359) betrachtet. Die 1930er-Jahre bedeuteten eine ähnlich strikte Hierarchisierung der ethnischen Zugehörigkeit, wie im imperialen Zeitalter, in den Worten Mark von Hagens: „A period of fixing new hierarchies and boundaries, often in the language and symbolic representation of the Old Regime, but mixed with elements of the revolutionary canon’“ (S. 373).

Am Ende bleibt die von Marc Raeff im Fazit gestellte Frage, inwieweit von „einer“ oder „der“ ukrainischen Identität „as a single and uniform entity in time and space“ die Rede sein kann. Damit wird nicht die Legitimität einer nationalukrainischen Geschichte angezweifelt, sondern eher auf den Tatbestand verwiesen, dass es historiografisch produktiver ist von Selbst- und Fremdbildern zu sprechen, um nicht Konstruktionen von Identitäten für Identitäten selbst auszugeben. Der Band entgeht in seiner Differenziertheit dieser Gefahr zumeist. Vor allem Historiker des russischen Imperiums werden ihn mit großem Gewinn lesen, während die Sowjetzeit etwas zu kurz kommt; so ist etwa das Jahr 1933, das in der Ukraine bis heute als „Völkermord“ wahrgenommen wird völlig ausgeklammert worden. Insofern werden die ukrainisch-russischen Beziehungen auch künftig für Forschungsbedarf sorgen. Wohlmöglich werden sich Historiker dann auch mit der Frage zu befassen haben, wann das postsowjetische Russland damit begann, seine Ansprüche an die 1991 „verlorene Ukraine“ anzumelden.

Anmerkungen:
1 von Hagen, Mark, Does Ukraine have a History?, in: Slavic Review 54 (1995) 3, S. 658-673.
2 Puschkin, Alexander, Die Reise nach Arzrum während des Feldzuges im Jahre 1829, Berlin 1998.
3 Vgl. für das benachbarte Weißrußland: Lindner, Rainer, Historiker und Herrschaft. Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 200ff. Im Unterschied zu den slawischen Republiken verlief die „Indigenisierung“ im Kaukasus als Zivilisierungskampagne, vgl. dazu jetzt: Baberowski, Jörg, Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, Stuttgart 2003, S. 314ff.

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