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Titel
Ehrbare Spekulanten. Stadtverfassung, Wirtschaft und Politik in der City of London, 1688-1900


Autor(en)
Fahrmeir, Andreas
Reihe
Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 55
Erschienen
München 2003: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
596 S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helga Fröhlich, Institut für Geschichte, Universität Wien

„Um 1900 war der Wandel der City of London von einer autonomen, politisch relevanten Handelsstadt zu einem kleinen wirtschaftlich spezialisierten Teilbezirk einer ausufernden Metropole abgeschlossen.“ (S. 439) Die City war trotz ihrer weiteren wirtschaftlich dynamischen Entwicklung ein „modernes Finanzzentrum mit altertümlicher Verfassung“ (S. 371ff.). Die Verlagerung des politischen und ökonomischen Gewichts auf eine Ebene, auf der die City Prestige gerade durch die Wahrung traditioneller Zeremonien und Gebräuche zu bewahren vermag, erklärt Andreas Fahrmeir im Kontext lokaler und nationaler Faktoren. Dieser Kontext zieht sich wie ein roter Faden durch die sorgfältig argumentierende und Verfassungs- und Wirtschaftsstrukturen analysierende Arbeit. Der Focus wird in allen sechs Kapiteln auf die City of London gerichtet, dabei bleibt jedoch der Bezug zur Londoner Stadtgeschichte, der britischen Geschichte und zur Entwicklung des Empires präsent. Sehr leserfreundlich sind die den jeweiligen Kapiteln vorangestellten thesenartigen Zusammenfassungen.

Mit seiner Arbeit leistet Fahrmeir einen wichtigen Beitrag zur vergleichenden europäischen Bürgertumsforschung. Ausgehend von einem Forschungsansatz, der sich auf das städtische Bürgerrecht als Basis des Bürgertums focusiert, rückt er die bürgerliche Elite, d.h. „diejenigen Personen, die zwischen 1688 und 1900 dem Court of Aldermen der City angehörten“ (S. 23), eine Gruppe von 386 Personen, in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. Obwohl sich dieser spezielle Personenkreis rechtlich definiert und keineswegs identisch mit dem Londoner Finanzbürgertum insgesamt ist, erlaubt die Untersuchung dieser Gruppe Fahrmeir wichtige Aussagen zur sozialen Zusammensetzung der Führungsschicht der City Corporation, ihrer Beziehung zur Wirtschaft und zu den nationalen politischen Eliten (S. 32). Damit leistet die Studie einen wesentlichen Beitrag zu der bis in die jüngste Zeit auch in Großbritannien kontrovers diskutierten Forschungsfrage, ob es zu den Besonderheiten des englischen Weges in die Moderne gehört, dass sich die middle classes bereits sehr früh, d.h. schon im 17. Jahrhundert herausgebildet haben, oder wie im übrigen Europa erst im 19. Jahrhundert. Fahrmeir kommt anhand seiner Untersuchungen der Aldermen der City zu dem Ergebnis, dass erst um 1850 „die Vorstellung von einer ‚Mittelklasse’ auch eine soziale Bedeutung“ erhielt, und „die Institutionen der City Corporation [...] als sichtbarer Ausdruck der Existenz, des Anspruchs und des Erfolgs dieser gesellschaftlichen Schicht gedeutet werden“ können (S. 454). In der zeitlichen Perspektive rückt Fahrmeir also das britische Bürgertum der kontinentalen Entwicklung näher. Daneben jedoch hebt er als britische Besonderheit die größere Abgrenzung des Bürgertums von anderen gesellschaftlichen Formationen hervor. Gerade mit Blick auf den deutsch-britischen Vergleich betont die vorliegende Arbeit die stärkeren Unterschiede zwischen dem Wirtschaftsbürgertums, dem die Aldermen angehören, und bildungsbürgerlichen Kreisen.

Im Kapitel 1 zeichnet Fahrmeir zunächst die Verfassung der City Corporation als ältester politischer Institution des Vereinigten Königreiches nach. Dabei präsentiert er die Struktur der Corporation nicht einseitig als Ergebnis einer sich stetig festigenden Autonomie, sondern als „Ergebnis einer komplexen und spannungsreichen Wechselbeziehung zwischen Stadt, Krone und Parlament“ (S. 36). Der Leser erhält einen mehr als nützlichen Überblick in die Struktur und Verfassung der City Corporation, die Privilegien der City, die von Krone und Parlament entweder gewährt oder toleriert wurden, so dass sich im Laufe der Zeit eine relativ große Autonomie entwickelte.

Orientiert an seinem Quellenmaterial und weniger an den Zäsuren der britischen Geschichte unterteilt Fahrmeir im Weiteren seine Kapitel in etwas schematisch anmutende Abschnitte von jeweils rund 50 Jahren. Da jedoch diese Zeiteinteilung wenigstens z.T. mit gewissen Zäsuren der Geschichte der City Corporation zusammenfällt, mindert dieses Vorgehen nicht das Gesamturteil, eine sehr gute lesbare, in logischen Schritten vorgehende Studie zu empfehlen.

Im zweiten Kapitel wird die Bedeutung der City im 17. Jahrhundert – mehr jedoch im Sinne einer Vorgeschichte zu späteren Entwicklungen – relativ knapp untersucht. Im Jahrhundert der Revolutionen erlebte die City einen Höhepunkt ihres politischen Einflusses. Fahrmeir zeichnet das durchaus ambivalente Agieren der City im Spannungsfeld zwischen Krone und Parlament nach, in dessen Ergebnis es schließlich gelang, dass die traditionelle Verfassung samt Privilegien die Revolutionszeiten unbeschadet überstanden.

Im Kapitel (1688-1750) über „den allmählichen Aufstieg der City zu einer kommerziellen Metropole neuer Art“ (S. 95) konstatiert Fahrmeir einen zunehmenden politischen Konsens der City, die sich insgesamt in Opposition zur Staatsregierung definierte. Im Einzelnen werden die Konsolidierung des Zunftwesens und die Herausbildung der wichtigsten Institutionen der Finanzwelt dargestellt. Dank des prosopografischen Ansatzes vermag Fahrmeir in diesem Kapitel Antworten auf Fragen wie ´Wie wurde man Aldermann?, Wer wurde Aldermann? Warum wurde man Aldermann?` zu formulieren. Überraschenderweise gelangt Fahrmeir zum Ergebnis, dass es de facto keine „aldermännischen Dynastien“ in der Londoner City gegeben hat. Diesen auch in vergleichender Perspektive durchaus ungewöhnlichen Fakt erklärt der Autor vor allem durch die größere Dynamik des Londoner Wirtschaftslebens und die Struktur der Londoner Wirtschaft. Wertpapier- und Fernhandel boten zahlreiche lukrative Verdienstchancen, bargen jedoch auch Risiken, in deren Folge man aus dem Kreis der potentiellen Aldermänner schnell wieder ausscheiden konnte. Im Ganzen wurde der Court of Aldermen von Großkaufleuten dominiert, wobei politische und ökonomische Eliten weitgehend deckungsgleich waren. Auch über das Zelebrieren traditioneller Rituale wie der Lord Mayor Show bot die City das Bild einer selbstbewussten Bürgergemeinde.

Im Kapitel über die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts rückt Fahrmeir die zunehmenden wirtschaftlichen und sozialen Spannungen in den Vordergrund und dokumentiert, wie sich diese auf die Stabilität der Bürgergemeinde auswirken. Besonders die fortschreitende Modernisierung, die ständige Ausdehnung des Londoner Stadtgebietes und die einhergehenden wirtschaftlichen Verlagerungen z.B. des Londoner Hafens leiten den Abstieg der City als wirtschaftliches Kerngebiet der Hauptstadt ein. Diese Tendenzen werfen Probleme für die politische Verfassung der City Corporation auf, die parallel zu den Reformdebatten des 19. Jahrhunderts verlaufen und von Fahrmeir in den abschließenden Kapiteln behandelt werden. Sehr überzeugend wird dargestellt, wie die City Corporation „zum symbolischen Ort der Londoner Mittelklasse und der englischen Finanzwelt“ wird, „der nur noch rudimentäre Verwaltungsaufgaben für einen kleinen Bezirk in einer ausufernden Metropole wahrnahm“ (S. 277). Die Wahrung der Verfassungskontinuität auch unter den sich wandelnden Bedingungen des 19. Jahrhunderts gehört zu den Besonderheiten britischer Entwicklung. Die faktische Integration in das Londoner Verwaltungssystem wurde durch Traditionspflege und bewusste Selbstinszenierungen überdeckt. Um 1900 war die City das, was sie bis heute geblieben ist: das moderne finanzielle Dienstleistungszentrum in Mitten der ausufernden Metropole London. Für ihre einzigartige Stellung als Teil einer Hauptstadt gibt es kaum Parallelen in Europa. Sie stellt „einen nationalen Musterfall dar, der einige Besonderheiten des ‚englischen’ Sonderweges’ in konzentrierter Form erkennen lässt“ (S. 442).

Insgesamt verdanken wir Andreas Fahrmeir die erste umfassende und epochenübergreifende Verfassungsgeschichte der City of London. Dabei gelingt es in beeindruckender Weise die vielschichtigen Verflechtungen zwischen verfassungsgeschichtlichen und wirtschafts- und finanzpolitischen Entwicklungsmomenten sichtbar zu machen. Diese Zusammenhänge bilden zugleich den Rahmen für sozialgeschichtliche Fragestellungen wie die nach der Entwicklung der politischen Elite der City Corporation im Zeitraum von 1688 bis 1900. In diesen mehr als zwei Jahrhunderten wird die City of London zum modernen Finanz- und Handelszentrum. Das Spezifische dieses Weges in die Moderne liegt jedoch gerade im traditionellen Verhaftetsein in einer altertümlichen Lokalverwaltung, die sich lange vor der Glorreichen Revolution herausgebildet hatte, und deren Übergang ins Zeitalter von Bürokratisierung und Funktionalisierung Fahrmeir in der vorliegenden Monografie eindrucksvoll nachzeichnet hat.

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