M. J. Nye (Hg.): The Modern Physical and Mathematical Sciences

Titel
The Modern Physical and Mathematical Sciences.


Herausgeber
Nye, Mary Jo
Reihe
The Cambridge History of Science 5
Erschienen
Anzahl Seiten
XXIX, 678 S.
Preis
£65.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Burckhardt, Philosophische Fakultät I, Humboldt-Universität zu Berlin

Ziel der achtbändigen Cambridge History of Science ist die Bereitstellung einer zuverlässigen und aktuellen Darstellung der systematischen Erforschung der Natur von den ältesten Schriftkulturen in Mesopotamien und Ägypten bis ins zwanzigste Jahrhundert (S. XXVI). Die Reihenherausgeber D. C. Lindberg und R. L. Numbers versprechen in ihrem Vorwort auch Nicht-Fachleuten unter den Lesern eine lohnende Lektüre. Der hohe Preis und die auf nur wenige, grob gerasterte schwarz-weiß Abbildungen reduzierte Ausstattung zeigen aber deutlich, dass als Käufer nicht Studierende und interessierte Laien, sondern Forschende und Lehrende der Wissenschaftsgeschichte sowie Bibliotheken angesprochen werden.

Anschließend an vier, teilweise noch ausstehende, Bände, die thematisch übergreifend von der Antike über das Mittelalter und die Frühe Neuzeit ins 18. Jahrhundert führen, konzentriert sich der hier besprochene Titel auf die Methoden, Praktiken und Kontroversen der Physik, Chemie, Mathematik und Astronomie der letzten beiden Jahrhunderte. Die 33 Einzelbeiträge von insgesamt 37 Autorinnen und Autoren werden in sechs Bereiche gebündelt: die physikalischen Wissenschaften in der Öffentlichkeit; Disziplinbildung; Chemie und Physik bzw. Kern- und Molekularwissenschaften im 19. respektive 20. Jahrhundert; Mathematik, Astronomie und Kosmologie sowie Probleme und Versprechen der Naturwissenschaften am Ende des 20. Jahrhunderts.

Die doppelte Brückenfunktion der Wissenschaftsgeschichte im Lehrbetrieb angelsächsischer Universitäten spiegelnd, eignen sich die Themen der ersten beiden Teile, um Studierende der humanities durch eine Sozial- und Kulturgeschichtsschreibung an die sciences heranzuführen. Die teilweise sehr technisch gehaltenen Spezialstudien der drei folgenden Bereiche bieten dagegen in erster Linie Naturwissenschaftlern eine inhaltlich und methodisch aktuelle Darstellung zentraler Entwicklungen in der Geschichte ihrer Fachgebiete. Zusammengeführt werden diese komplementären Ansätze im letzten Teil, der sich mit den gesellschaftlichen Konsequenzen der Forschung und der Verantwortung von Forschenden in der naturwissenschaftlich und technisch geprägten Gesellschaft nach dem Eintritt in die Epoche der big science beschäftigt.

Konflikte und Kontroversen mit Kirchen und Religion, der lange Kampf von Frauen um Zugang zu Ausbildung, Arbeitsplätzen und Fachgesellschaften sowie die öffentliche und literarische Rezeption wissenschaftlicher Umwälzungen zeigen, dass die exakten Wissenschaften - trotz ihres Verständnisses als einzig an Logik und Naturbeobachtung gebundenes Erkenntnissystem - nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum operieren. F. Gregorys Artikel zu Schnittpunkten zwischen Physik und Theologie seit 1800 überrascht, da Konflikte zwischen Naturwissenschaft und Religion üblicherweise in der Astronomie und dem Atomismus des 17. Jahrhunderts sowie in den Debatten um Evolutionstheorien im 19. und 20. Jahrhundert gesucht werden. Er verdeutlicht aber viel stärker als der in statischen Idealtypen verharrende Eingangsartikel zu wissenschaftstheoretischen Modellen die Dynamik disziplinärer Selbstverständnisse: Kollidierten Vertreter beider Fakultäten anfänglich in ihren Aussagen zu der als unteilbar verstandenen Wahrheit über die Natur bei den heilsgeschichtlichen Implikationen extraterrestrischen Lebens und den Aussagen der neu formulierten Thermodynamik zur Zukunft des Universums, entschärfte sich der Konflikt im 20. Jahrhundert beidseitig. Der Übergang von der klassischen Physik zur Quantenmechanik und Relativitätstheorie erzeugte unter Physikern ein neues Verständnis für die Vorläufigkeit logisch kohärenter und mit der Beobachtung in größter Übereinstimmung stehender Naturgesetze. Umgekehrt betonten durch den Neukantianismus geprägte Theologen die Inkommensurabilität von Glaubenswahrheiten und Naturerkenntnis.

Disziplinbildung aus dem Blickwinkel des spatial, linguistic beziehungsweise iconic turns ist Thema des zweiten Teils mit Beiträgen zu mathematischen Schulen, den nationalen Gegensätzen in der Ingenieursausbildung, den Sprachen der Chemie sowie Bild und Darstellung in der Physik. In einem souveränen Überblick über zentrale Akteure und Praktiken der Mathematik der letzten hundertfünfzig Jahre demonstriert D. E. Rowe die Unmöglichkeit, eine nicht länger schriftlich in Briefen und Journalen sondern in Vorlesungen und dem Seminar mündlich präsentierte Forschung von den Orten ihrer Produktion und Präsentation zu lösen: “Thus, to learn Weierstrassian analysis, one could either go to Berlin and take notes in a crowded lecture hall or else try to get one's hand on someone else's Ausarbeitung of the master's presentation.” (S. 116) Die Graduiertenprogramme der auf Jahre das mathematische Leben in den Vereinigten Staaten dominierenden Universitäten Chicago, Harvard und Princeton wurden von Felix Kleins amerikanischen Schülern aufgebaut; ebenso untrennbar sind David Hilberts Geometrie und Zahlentheorie sowie Bartel L. van der Waerdens Moderne Algebra mit Göttingen, dem Prototyp der isolierten Universitätskleinstadt, verknüpft.

Keine Darstellung der Elektrizität, Strahlung, Energie und Thermodynamik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt am Werk von James Clerk Maxwell vorbei. Ebenso wenig lässt sich die Geschichte der Quantentheorie, Elektrodynamik sowie der statistischen Mechanik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert ohne Einbezug der vier Artikel aus Albert Einsteins annus mirabilis schreiben. Durch den bewussten Verzicht auf biografische Kapitel im methodisch ansonsten breit gefächerten Band zerfällt Maxwells Person aus den verschiedenen Perspektiven der einzelnen Autoren in ein Panoptikum. Es erscheint der Aufdecker der elektromagnetischen Eigenschaften des Lichts (S. 285), die Schlüsselfigur der religiös motivierten “science of energy”-Gruppe (S. 301), der Gründer des Cavendish-Laboratoriums (S. 319) sowie der Vater einer Bewegung von “Maxwellianern” (S. 321). Dagegen gelingt es T. M. Porter an der Übertragung statistischer Methoden aus den Sozialwissenschaften in die Mechanik stringent aufzuzeigen, worin sich Maxwells stark deduktive mathematische Physik vom vorwiegend induktiven Vorgehen vieler Zeitgenossen abhob: John Herschels Ableitung der Fehlerverteilung astronomischer Beobachtungen wurde für Maxwell zum Ausgangspunkt für seine Arbeiten zur kinetischen Gastheorie mit teilweise paradoxen Prädiktionen, die er zusammen mit seiner Frau erst einige Jahre später experimentell stützen konnte.

Eine primär an theoretischen Umwälzungen interessierte Ideengeschichte datiert die “Kuhn‘sche Revolution” des Übergangs von der klassischen zur modernen Physik auf die Zeit von 1900 bis 1927. Rücken im Anschluss an Arbeiten von I. Hacking, B. Latour oder P. Galison experimentelle Praxis sowie die institutionelle Gliederung in den Fokus der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, bilden die Emigration aus Deutschland sowie die Entstehung der Großforschung während des zweiten Weltkriegs mit dem in seinen Ausmaßen singulären Manhattan-Projekt die Epochengrenze zwischen Neuzeit und Gegenwart. M. Eckert trennt deshalb die konzeptionelle von der kontextuellen Entwicklung eines Fachs. Zwar führten die beiden identitätsbestimmenden Fragestellungen der modernen Plasma- und Festkörperphysik - die aus der Atombombenentwicklung hervorgegangene Fusions- und die aus der Entwicklung von Radardetektoren entstandene Halbleiterforschung - zwei militärische Anwendungen fort. Da die theoretischen Grundlagen aber bereits einige Jahre zuvor in einem überwiegend zivilen Kontext formuliert worden waren, sei es falsch, vom Krieg als Vater dieser beiden Fächer zu sprechen.

Im Gegensatz zum Versprechen einer zivilen Nutzung der Kernfusion, die in eine stets fernere Zukunft rückt, dringen Halbleiter seit der Erfindung des Transistors als erfolgreichste aller dual-use-Technologien in immer breitere Bereiche des Alltagslebens vor. William Asprays Artikel “Computer Science and the Computer Revolution” verdeutlicht nicht nur die Stärken des Bandes, sondern die Fruchtbarkeit der Methodenvielfalt der neueren Wissenschaftsgeschichte insgesamt. Auf wenigen Seiten bietet ein ausgewiesener Kenner des Fachs einen auch Laien zugänglichen Überblick, der die Entwicklung einer universellen Maschine und ihrer Programmierung in einen politischen und wirtschaftlichen Rahmen stellt, die Entwicklung der Informatik als eigenständige Disziplin nachzeichnet, die zentrale Bedeutung einzelner Orte wie dem Silicon Valley oder der Route 128 für den kommerziellen Durchbruch von Technologien thematisiert, Fragestellungen einer Konsum- oder Geschlechtergeschichte des Computers skizziert und dabei weder ethische noch soziale Konsequenzen der digitalen Revolution ausblendet. Im Text selbst werden einige Eckpunkte der Historiografie der Rechnerentwicklung ausgeführt, über die Fußnoten erschließt der Autor die aktuelle Forschungsliteratur.

Gemessen an diesen Qualitäten als Handbuch und reicher Fundus für Unterrichtsmaterial rücken einige Einwände in den Hintergrund. Trotz Vielfalt in der geografischen Herkunft der Autorinnen und Autoren dominieren in den Artikeln durchwegs die großen fünf: England, Deutschland, USA sowie in wesentlich geringerem Umfang Frankreich und die Sowjetunion. Nicht-englischsprachige Sekundärliteratur wird kaum zitiert. Besonders deutlich wird diese Lücke in P. Josephsons vergleichendem Beitrag zu ideologischen Verstrickungen der Physik im 20. Jahrhundert, der keine der vielen deutschsprachigen Veröffentlichungen zu den Wissenschaften im Nationalsozialismus anführt. Am ärgerlichsten erscheint dem Rezensenten der Verzicht sowohl auf eine Gesamtbibliografie als auch auf kumulierte Quellenangaben am Ende der einzelnen Artikel. Wer sich aus diesem Band einen Überblick über die reiche Literatur zur Geschichte der modernen physikalischen und mathematischen Wissenschaften verschaffen will, muss sich auf einen langen Gang durch über tausend Fußnoten begeben. Eine Vielzahl aktueller Fragestellungen und überraschender Einblicke sorgen aber dafür, dass sich dieses anstrengende Unterfangen dennoch lohnt.

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