W. Behringer u.a. (Hrsg.): Späte Hexenprozesse

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Titel
Späte Hexenprozesse. Der Umgang der Aufklärung mit dem Irrationalen


Herausgeber
Wolfgang, Behringer; Lorenz, Sönke; Bauer Dieter R.
Reihe
Hexenforschungen 14
Erschienen
Anzahl Seiten
429 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Bendlage, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

„Während des gesamten 18. Jahrhunderts sind Hexenprozesse eher eine Seltenheit“, so heißt es bei Planet Wissen, dem Dokumentations- und Wissenschaftsmagazin des öffentlichen Rundfunks in einem Beitrag von 2013. „Nur in entlegenen Gebieten auf dem Land kommt es noch zu vereinzelten Hinrichtungen. Die Aufklärer gewinnen mit ihren Schriften gegen die Hexenverfolgungen langsam Oberhand über die konservativen Kleriker.“ Mit der Hinrichtung der letzten Hexe in der Schweiz im Jahre 1782 wurde schließlich, nach öffentlicher Empörung und Änderung der Gesetze, ein düsteres Kapitel der europäischen Geschichte endlich geschlossen. Dass die Entwicklung nicht ganz so gradlinige verlief, zeigt der vierzehnte Band der Reihe Hexenforschung des Arbeitskreises Interdisziplinäre Hexenforschung, der sich nach dem Tod des Mitbegründers Sönke Lorenz und dem Ausscheiden von Dieter Bauer als Referent der katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart nach zwanzig Jahren neu organisieren musste. Der vorliegende Band stellt die späten Hexenprozesse in Europa in den Fokus und ist das Ergebnis einer Tagung, die bereits 2005 stattgefunden hat. Die zeitliche und räumliche Erweiterung der Perspektive bis in die Gegenwart führte zu einer Ausdehnung des Fragehorizontes, denn „angesichts der Tatsache, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts weltweit mehr Menschen an die Existenz von Hexen glauben als je zuvor, haben wir es potentiell mit einem brennenden Problem zu tun“ (S. 20).

Hexenverfolgung und Aufklärung passen, so Behringer in seinen einleitenden Bemerkungen, nicht zusammen, Hexenverfolgungen sind ein ‚Pfahl im Fleisch der Aufklärung‘, obschon es, wie die im Band versammelten Fallbeispiele eindrucksvoll belegen, Verfolgungen und Verurteilungen bis weit ins 18. Jahrhundert in ganz Europa und darüber hinaus noch gab. Die überlieferten Todesurteile bilden dabei nur die Spitze des Eisbergs: Noch hunderte Strafverfahren wegen Zauberei und Hexerei wurden in Europa geführt, in denen mit Folter gedroht und diese manchmal noch angewendet wurde. Noch zahlreicher waren Verfahren gegen Magie und Wahrsagerei, die nach landläufiger Vorstellung nicht von Hexerei getrennt waren, unterstellten doch alle diese Delikte einen Pakt mit dem Teufel bzw. die Absage an Gott. „Das Zeitalter der Aufklärung sah mehr Hexenprozesse und auch mehr Hinrichtungen als alle Jahrhunderte zuvor“ (S. 10), und trotz Abschaffung des Hexerei-Delikts konnten mit den Strafgesetzen weiterhin Prozesse geführt werden. Ein Umstand, der direkt in die Gegenwart führt, denn die Gesetzgebung, die im 21. Jahrhundert Aberglaube in Afrika unter Strafe stellt, fußt zum Teil noch auf Grundlagen, die die Kolonialherren mitgebracht hatten. Aufgeklärte Gesetzgebung entpuppt sich folglich bei genauerem Hinsehen eher als pragmatischer Versuch, die Prozesse einzudämmen, steht aber nicht zwingend für die generelle Absage an den Hexenglauben oder an Hexenprozesse. Erst im späten 18. Jahrhundert bzw. mancherorts erst Anfang des 19. Jahrhunderts (Irland 1821) wurde die Hexengesetzgebung in Europa tatsächlich abgeschafft. Nur wenige Aufklärer, wie der Göttinger Historiker August Ludwig Schlözer (1734–1809), sprachen nach der Hinrichtung der Dienstmagd Anna Göldi 1782, auf die eingangs Bezug genommen wird, ausdrücklich von Justiz-Morden. Fälle von Lynchjustiz gegen vermeintliche Hexen säumten dagegen in ganz Europa den Weg der Aufhebung der Hexerei-Gesetzgebung. Das Schweigen oder die ‚begriffliche Vertuschung‘ durch die Aufklärer und die Verfolger ist gleichermaßen erklärungswürdig. Seit den 1980er-Jahren häufen sich Verfolgungen und Opferzahlen in Afrika und Indien, die die europäischen Dimensionen weit übersteigen. Mit der Wiedereinführung des Deliktes der Hexerei in die Strafgesetzgebung haben einige Länder versucht, der Lynchjustiz beizukommen. Einige Anthropologen werten diese Entwicklung im Gefolge der Globalisierung gar als einen Akt des Widerstandes gegen die Widrigkeiten der Moderne und als ein Pochen auf die eigenen kulturellen Werte, während das Morden im Gefolge von Bürgerkriegen auf dem afrikanischen Kontinent weitergeht: Ursache ist der tief verwurzelte und weitverbreitete Glaube an Hexerei, ohne dass Anzeichen erkennbar wären, dass diese Länder ähnliche Wege beschreiten werden, wie die europäische Aufklärung.

Der Band nimmt mit regional-katholischen, (west-)europäischen und außereuropäischen Fallstudien ein weites Feld in den Blick. Er leistet Grundlagenforschung, bietet aber auch Überblicksdarstellungen. Den umfangreichen ersten Teil, der zunächst mit einem Überblickstext von Dries Vanysacker über Hexerei und Aufklärung zwischen 1650 und 1800 beginnt, nehmen die einzelnen Fallstudien im deutschsprachigen, katholischen Raum ein. Vanysacker erinnert in seinem Beitrag über zentrale Texte der Zeit daran, wie ‚robust‘ Vorstellungen über Hexerei und der Glaube an den Teufel auch in der Aufklärung noch waren, nicht nur in volkstümlichen Vorstellungswelten. Die Abschaffung von Hexenprozessen bedeutete noch keine Zurückdrängung des Hexenglaubens. Die Haltung der Aufklärer blieb lange ambivalent, da die Negierung des Teufels auch als Zurückweisung Gottes aufgefasst werden konnte. Nur wenige – häufig Außenseiter und Freidenker wie der Niederländer Bathasar Bekker – sprachen sich offen und polemisch gegen den Glauben an den Satan aus. Späte Hexenprozesse rücken gerade heute ins Licht, weil sich eine neue Erinnerungs- und Rehabilitierungskultur entwickelt hat, in der sich Städte und Gemeinden der Opfer der letzten Prozesse erinnern und den verurteilten Frauen zuweilen ein Denkmal setzen. Dies gilt auch für den von Erika Münster-Schröer referierten Prozess in Düsseldorf (1737/38), der lange im Dunkeln blieb, vielleicht, so die Autorin, weil sich die Zeitgenossen nur mit Scham daran erinnerten. Ähnliches ist für den Hexenprozess gegen Katharina Reitterin in Eglofs 1743 zu konstatieren (Johannes Dillinger), der jedoch nicht auf Grund einer unbedingten Verfolgungsbereitschaft, sondern wegen der ungeschickten Handhabung durch die lokalen Laienrichter seine fatalen Dynamiken entfalten konnte. Es ist zudem erkennbar, dass „nicht der Glaube an Hexen, sondern die Bereitschaft staatlicher Ordnungen, ihre Gerichte für Hexerei-Klagen zur Verfügung zu stellen“ (S. 65), abnahm. Auch in der Reichsabtei Marchtal blieb der Hexenglaube im 18. Jahrhundert bestehen, und der Prozess von 1746 war Auslöser weiterer Verfahren, in denen mehrere Frauen zu Tode kamen, auch weil Juristen durch ihre Gutachten das Hexerei-Delikt legitimierten (Constanze Störk-Biber). Klaus Graf berichtet über einen Prozess in der Stadt Endingen gegen Anna Trutt 1751, der trotz des Edikts Maria Theresias gegen Hexerei-Prozesse stattfand. Auch hier sieht der Autor eine Ursache im Zusammenwirken der Einsichten der Aufklärung und des (Gegen-)Gewichts juristischer und theologischer Traditionen, die an der Realität von Schadenszauber lange festhielten. Graf kann nachweisen, auf welch wackeligen Füßen das Urteil stand, denn es wurde über die Ortsgrenzen hinaus kaum etwas über den Fall bekannt. Heute erinnert an die Verurteilte eine Dauerausstellung in Wyhl. Wolfgang Petz beschreibt den letzten Hexenprozess im Reich 1775, den Fall der Armenhäuslerin Anna Maria Schwägelin in der Fürstabtei Kempten, deren Hintergründe der Verfasser auch im Wirken des charismatischen Priesters und Wunderheilers Johann Joseph Gaßners und dessen Sicht auf den Teufel zurückzuführt. Die Hinrichtung ist in ihrem Fall in sprichwörtlich letzter Minute suspendiert worden, offenkundig, weil sich die kritischen Stimmen im Stift schließlich durchsetzten.

Der zweite Teil des Bandes nimmt späte Hexenprozesse im übrigen Europa in den Blick: Rainer Decker und Philipp Bart widmen sich Hexenprozessen in der Schweiz im 18. Jahrhundert. Sie zeigen, wie unterschiedlich die Einschätzung von Hexerei innerhalb der katholischen Kirche war und dass fanatischer Eifer nicht nur von der Inquisition, sondern auch vom einfachen Landvolk ausgehen konnte. Eine singuläre Verfolgung konnte sich auch jetzt noch zu einer bereits anachronistisch anmutenden Hexenhysterie unter Beteiligung von Obrigkeiten und Bevölkerung entwickeln. Petr Kreuz berichtet kenntnisreich über die gut erforschten Prozesse in den Böhmischen Ländern, die sich in vielerlei Hinsicht von der bisher bekannten Entwicklung im Mittelalter und der Frühen Neuzeit unterscheiden, denn die meisten Verfahren fanden in der zweiten Hälfte des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts statt und trugen den Charakter von Einzelprozessen. Auch in Polen waren Hexenprozesse, so Jacek Wijaczka, zahlreich. Er führt dies auch auf ungebildete Richter zurück, die oftmals kaum schreiben oder lesen konnten. Dass die Prozesse in Ungarn, dem Zentrum der europäischen Verfolgungen während der Aufklärung, schließlich beendet wurden, führt Lilla Kràsz auf die De-Kriminalisierung der Magie durch die Gerichte zurück, was im Zusammenhang mit der pietistischen Auffassung des Herrschers gestanden habe. Erik Midlefort widmet sich dem Phänomen der ‚teuflischen Besessenheit‘ am Beispiel des bereits im Beitrag von Wolfgang Petz zitierten Priesters Johann Joseph Gassners, der, so der Autor, zur Entzauberung der Besessenheit (die eng mit der Hexerei verbunden war) beitrug, weil er die Rolle von Zauberei im Verständnis von Besessenheit verminderte oder sogar abbaute. Wolfgang Schild wirft einen allgemeinen Blick auf die Aufarbeitung der Hexerei- und Zaubereivorstellungen im Strafrechtssystem. Rainer Decker referiert über die Magieprozesse – der ‚Herbst‘ der Inquisition – im Kirchenstaat des 19. Jahrhunderts, die noch weitestgehend unerforscht sind.

Der dritte Themenbereich widmet sich schließlich außereuropäischen Phänomenen und reicht bis in die Gegenwart. Christine D. Worobec beschreibt den nicht immer gradlinigen Weg der De-Kriminalisierung des Hexenglaubens in einem damals asiatischen Teil von Russland. Barend ter Haar behandelt auf Grundlage volkstümlicher Erzählungen die unterschiedlichen Formen der ‚Hexenfurcht‘, der Angst vor Dämonen und Geistern oder Verstorbenen (alte Frauen) in China, ein Thema, das bisher kaum erforscht ist, und eröffnet so Möglichkeiten des interkulturellen Vergleichs. Ältere Frauen wurden zwar, ähnlich wie in Europa, für eine Vielzahl von Schäden haftbar gemacht, sie wirkten jedoch häufig, wie die ‚Drough-Damons‘, als Verstorbene aus den Gräbern heraus. Der Teufel oder der Teufelspakt ist in China hingegen unbekannt, möglicherweise ein Grund, warum es dort nicht zu Verfolgungen kam. In Afrika sind es besonders die Alten – Frauen und Männer –, die heute um ihr Leben fürchten müssen, galten sie früher als weise, werden sie immer häufiger als Hexen oder Zauberer verfolgt. Die Zahl der Opfer geht mittlerweile in die Tausende, weil der Hexenglaube in allen Gesellschaftsschichten ungebrochen ist und auf komplexen religiösen und spirituellen Glaubensvorstellungen beruht. Barend ter Haar und Stephen Ellis tragen in ihrem Überblick die Forschungsergebnisse über Hexenverfolgungen in Afrika zusammen und versuchen, Hexenglauben, Hexenbilder und Verfolgungen an aktuelle, aber auch vergangene gesellschaftliche, theologische, rechtliche und politische Entwicklungen zurückzubinden. Der Sammelband schließt mit einem kurzen Beitrag von Iris Gareis über die späten Zauberei- und Hexenprozesse vor amerikanischen Inquisitionstribunalen (Lima, Cartagena, Mexiko), wo im 18. Jahrhundert mehr Prozesse geführt wurden als in den Jahrhunderten davor. Hexenangst und das Verlachen des Hexenglaubens existierten hier nebeneinander, ein Zeichen der Pluralität unterschiedlicher Glaubensvorstellungen am Ende der Frühen Neuzeit. Die Beiträge zeigen, dass gerade mit der außereuropäischen Perspektive neue Impulse für die Hexenforschung gesetzt werden können, sie legen damit einen neuen Blick auf (vermeintliche) Modernisierungsprozesse frei. Die am Schluss angefügte (noch unvollkommene) Liste über Hexenhinrichtungen und Verfolgungen in Europa zwischen 1700 und 1911 ist daher auch Aufforderung und Ermutigung für weitere Forschungen.

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