T. Flemming: Kein Tag der deutschen Einheit

Cover
Titel
Kein Tag der deutschen Einheit. Der 17. Juni 1953


Autor(en)
Flemming, Thomas
Erschienen
Berlin 2003: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
158 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kersten Schüßler, lizard Medienproduktion Berlin

Es ist ein halbes Jahrhundert her, da schenkten die Arbeiter der DDR den Bürgern des anderen, westlichen Deutschland mitten in der herrlichsten Jahreszeit einen Feiertag. Doch der 17. Juni wurde ‘Kein Tag der deutschen Einheit’, wie der Autor Thomas Flemming im Titel seines Buches zum Volksaufstand im Osten Deutschlands schreibt. “Er war ein Feiertag für die einen und ein Arbeitstag für die anderen. Wobei diejenigen, die am 17. Juni 1953 in der DDR demonstriert hatte, immer arbeiten mussten, während die anderen, die aus sicherer Ferne zugesehen hatten, frei bekamen und gedenken durften oder ins Grüne fuhren.” (S. 9)

Flemming schildert die Geschichte eines spontanen Aufstandes mit längerer Latenzzeit. Wenn es nicht die Unzufriedenheit mit der gesamten sowjetischen Besatzung und ihres Satellitenkonstruktes DDR war, dann bot zumindest der 9. Juli 1952 und seine Folgen Anlass zu anschwellender Unzufriedenheit. An diesem Tag hatte die II. Parteikonferenz der SED den “beschleunigten Aufbau des Sozialismus” beschlossen, eine der typischen betriebsblinden und ökonomisch wie politisch sinnlosen Entscheidungen der dogmatischen Führung rund um den Generalsekretär Walter Ulbricht. Denn in den folgenden Monaten trieb man nicht nur die verbliebenen privat wirtschaftenden Betriebe, vor allem mittels wahnwitzig erhöhter Steuern, in den Ruin. Insbesondere die Kirchen und christlichen Gruppen wurden geradezu mit stalinistischem Eifer bedrängt und verfolgt. Mit Stalins Zustimmung erfolgte auch eine radikale Erhöhung der Arbeitsnormen sowohl in der Industrie in den Städten als auch auf dem Land bei gleichzeitiger Umsteuerung der Investitionen von der Konsumgüter- in die Schwerindustrie. Die Löhne sanken so real um 20 bis 30 Prozent. Dass gleichzeitig die Grenze zur BRD befestigt und streng kontrolliert wurde, war nicht die Intuition der SED-Führung, sondern entsprach gleichfalls einer Weisung Stalins.

So stiegen die Militärausgaben inklusive Besatzungskosten auf enorme 10 bis 11 Prozent des DDR-Staatshaushaltes. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Es kam zu immer schmerzlicheren Versorgungsengpässen und schließlich zu einer für nahezu alle Bevölkerungsteile spürbaren ernsten Krise. “Aber in der Zeitung geht es uns herrlich” – lässt Flemming als Gewährsmann den Romanisten Viktor Klemperer zu Wort kommen und bringt damit zum Ausdruck, was die Zeitgenossen empörte: Die tägliche Schizophrenie zwischen Verlautbarung und Wirklichkeit, gepaart mit einem gleichfalls irrwitzigen Freund-Feind-Denken der Machtclique, die in ihrem Spionage- und Verfolgungswahn im Verlauf der Krise immer mehr politische Urteile fällen ließ. Die Zahl der Gefangenen stieg mit der Verkündung des neuen Kurses bis zum März 1953 um mehr als das Doppelte auf 66.300 an.

Doch im März 1953 starb Stalin, und das neue Moskauer Triumvirat schien von den Folgen des “beschleunigten Weges” so wenig erbaut wie vom Personenkult um Walter Ulbricht, dessen 60. Geburtstag mit großem Pomp begangen werden sollte. Ublricht und DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl wurden am 3. Juni nach Moskau zitiert und zur Rede gestellt. Nach schulmeisterlicher Kritik mit der Aufgabe betraut, sich noch in der Nacht Gedanken für eine Lösung der Probleme zu machen, kamen Ulbricht und Co. mit einem Papier zurück, das ihnen vom Innenminister und Geheimdienstchef Lawrentji Berija buchstäblich vor die Füße geworfen wurde. “Berija schrie den Genossen Ulbricht und andere deutsche Genossen derart an, dass es schon peinlich war”, berichtete Nikita Chruschtschow in seiner späteren Abrechnung mit Berija (S. 37). Zurück in Berlin wurden nahezu alle Maßnahmen seit der II. Parteikonferenz umgehend zurückgenommen. Die Sowjets schätzten den Ernst der Lage richtig ein, der Hohe Kommissar Semjonow untersagte das scheibchenweise Eingeständnis der Fehler über einen Zeitraum von zwei Wochen: “In vierzehn Tagen werden sie vielleicht keinen Staat mehr haben.” So erschien am 11. Juni im ‚Neuen Deutschland’, von Politbüromitglied und Ulbrichtgegner Herrnstadt als Chefredakteur verantwortet, ein umfassendes Kommuniqué mit dem Eingeständnis massiver Fehler. Herrnstadt und Minister für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser durften sich, von Semjonow ermutigt, der Machtübernahme nahe fühlen.

Doch es kam anders. Die Bevölkerung sah den wankelmütigen Kurs als Zeichen der Schwäche und empörte sich nun vor allem über die nicht zurückgenommenen erhöhten Arbeitsnormen. Die wurden zwar am 13. Juni von Herrnstadts ‚Neuem Deutschland’ kritisiert, doch zeitgleich beschlossen an diesem Samstag auf einer Dampferfahrt Arbeiter der Baustelle Stalinallee für den kommenden Montag, in den Streik zu treten. So geschah es. Am 15. Juni zogen einige hundert Demonstranten zum Haus der Ministerien und demonstrierten, am 16. Juni goss das offizielle Gewerkschaftsorgan ‚Die Tribüne’ Öl ins Feuer und rechtfertigte die Normen, die just an diesem Tag in einer Politibüro-Sitzung zurückgenommen wurden. Zu spät. Aus wenigen hundert waren schon einige Tausend Demonstranten geworden, die den Rücktritt der Regierung und freie Wahlen forderten. In West-Berlin sendete der RIAS seit 16.30 Uhr die Aufforderung, sich am folgenden Tag, dem 17. Juni, zu Großdemonstrationen zu treffen. Die ununterbrochenen Sendungen zu den Demonstrationen im Ostteil der Stadt wurden über den damals stärksten Funksender Europas in alle Teile der DDR übertragen und wirkten wie eine Initialzündung. Flemming beschreibt, wie nicht nur in Berlin, sondern auch in vielen anderen Städten vor allem des industrialisierten Südens, aber sogar in kleinen Dörfern, am 17. Juni ab früh morgens gestreikt, Parteizentralen und Gefängnisse gestürmt und teilweise euphorisch ein vermeintlicher Neuanfang gefeiert wurde. Die SED-Führung um Walter Ulbricht schien am Ende und flüchtete sich in den Schutz des Hohen Kommissars nach Karlshorst. Ratlos saß der SED-Chef und hörte die Meldung des RIAS, die DDR habe keine Regierung mehr, kommentiert von den fast höhnischen Worten Semjonows, “Na, fast stimmt es doch.” Aber nur fast. Nach alarmierenden Geheimdienstmeldungen über die chaotische Lage in der DDR hatte Berija hartes Durchgreifen angeordnet.

Während im Berliner Lustgarten 60.000 Demonstranten an einer Kundgebung teilnahmen und sich am Alexanderplatz Volkspolizei und Protestierer unter dem Johlen der Bevölkerung Straßenschlachten lieferten, landete um 13 Uhr der Generalstabschef der Roten Armee, Marschall Sokolowski, in Berlin. Wenige Stunden später erschienen russische Laster, Spähwagen und LKW in den Straßen nicht nur Berlins, sondern aller aufständischen Orte der DDR. Die Stimmung schien zunächst ruhig, die Russen saßen auf ihren Panzern und scherzten gelegentlich sogar mit den Deutschen. Doch der Schein trog. Langsam wurden die Menschen auseinander getrieben, die Fronten verhärteten und Panzerschüssen in die Häuserdächer am Leipziger Platz folgten Gewehrsalven am Potsdamer Platz. Mindestens 12 Menschen starben.

Doch Flemming schildert nicht nur den Aufstand des ganzen Volkes, sondern auch seine Niederschlagung allerorten. In Görlitz, einer Hochburg der SPD und der Kirchen, wo die Regierung der Stadt ebenso wie in Bitterfeld einen halben Tag in der Hand der Aufständischen war, zogen wie in Halle, Magdeburg, Leipzig und Dresden sowjetische Soldaten ein. Ulbrichts Regime wurde so vor allem durch den „großen Bruder“ gerettet. 20.000 sowjetische Soldaten und 15.000 Mann der kasernierten Volksarmee waren im Einsatz. Auf den Ausnahmezustand folgte die abendliche Ausgangssperre. Der Aufbruch währte nur einen Tag. Kurz darauf saß Ulbricht wieder fest im Sattel. Der 17. Juni wurde nun von der SED-Propaganda als jener “Tag X” gewertet, den die westdeutschen Politiker und Medien sich als mehr oder weniger fernen Tag der Wiedervereinigung herbeigeträumt hatten: “Der Tag X, dieses faschistische Abenteuer westlicher Agenten, ist kläglich […] gescheitert. Mit Mord und Terror versuchten die Banditen ihre Ziele zu erreichen, aber vergeblich”, schrieb das ‚Neue Deutschland’ (S. 120). Unfähig zur Selbstkritik, begannen die Verantwortlichen mit der Säuberung in Volk und Partei. Der Stern von ND-Chefredakteur Herrnstadt sank ebenso rasch wie der seiner Politbürokollegin Elli Schmidt, die das zentrale Problem offen ansprach, nämlich “[…] das Schnellfertige, das Unehrliche, das Wegspringen über die Menschen und ihre Sorgen, das Drohen und Prahlen – das erst hat uns so weit gebracht, und daran, lieber Walther, hast Du die meiste Schuld […]” (S. 134).

Doch die Unbelehrbaren blieben. Hilde Benjamin sorgte für die Aburteilung der angeblichen Rädelsführer. Zwei Todesurteile und Tausende von Gefängnisstrafen wurden ausgesprochen, zugleich stützte die Sowjetunion ihren Satelliten mit massiven Konsumgüterlieferungen und großzügigen Krediten. Nachdem Chruschtschow die Entmachtung des berüchtigten Berija gelungen war, interessierte sich Moskau vor allem für Stabilität. In Ost-Berlin rollte die Propaganda-Maschine wieder an, unter den Glückwünschen an Ulbricht fehlte auch nicht der des Dichterfürsten Bert Brecht. Es begann eine lange Reise in die Erstarrung.

Thomas Flemming dokumentiert die Geschichte des 17. Juni chronologisch sorgfältig, besucht neben Moskau und Berlin auch kleinere Städte und Dörfer der DDR, fügt die wichtigsten Dokumente in den Text ein und zeigt neben den bekannten Fotografien auch solche aus der ostdeutschen Provinz, die unbekannt blieben.

Im Westen und in West-Berlin geschah am 17. Juni wenig. Polizisten sicherten die Grenze zum Ostteil der Stadt, die Stadtkommandanten der Westalliierten versuchten, alles Provozierende zu verhindern. So erhielt der frischgebackene Chefredakteur des RIAS, Egon Bahr, die Anweisung, keinesfalls die Forderung der Streikenden zu verlesen und auch Ernst Reuter ermöglichte man nicht, von einem Wien-Besuch rasch zurückzukehren. Flemmings Fazit ist nüchtern. Am 3. Juli erhob der Bundestag den 17. Juni zum “Tag der deutschen Einheit”. Das aber wurde er nicht. Während der Osten arbeitete, ging der Westen feiern – bis der 17. Juni durch den herbstlichen Vereinigungsfeiertag abgelöst wurde, den 3. Oktober. Ein stimmiges Buch.

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