Titel
City of Courts. Socializing Justice in Progressive Era Chicago


Autor(en)
Willrich, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
332 S.
Preis
$ 25.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Siemens, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Wertewandel am beginnenden 20. Jahrhundert zeigte sich zuerst und in voller Schärfe in den großen amerikanischen Metropolen wie New York oder Chicago, wo die Industrialisierung der Arbeitswelt, die Anonymisierung des persönlichen Lebensumfeldes und eine aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammengesetzte heterogene und vielsprachige Bevölkerung zu neuen Regeln des gesellschaftlichen Umgangs führte. Ablesen lassen sich solche Veränderungen besonders gut an den zeitgenössischen Konzepten von und Diskursen um Kriminalität und ihrer Umsetzung in den staatlichen und strafenden Institutionen.

Die Untersuchung von Michael Willrich, Professor an der Brandeis-University, widmet sich den Veränderungen des Konzeptes „Kriminalität“ am Beispiel des „Municipal Court“ of Chicago, einem 1906 gegründeten Gericht im Geiste der liberalen Reformbewegung. Bald in verschiedene Spezialgerichte aufgegliedert, wurde das „städtische Gericht“ durch seine besondere Rolle als Strafgericht, Forschungsinstitut und Erziehungsanstalt zu einer Vorbildinstitution, die rasch Nachahmer in anderen amerikanischen Metropolen fand. Anhand umfangreichen Quellenmaterials aus Gerichtsdokumenten, Nachlässen von Justizreformern und Richtern, aber auch Zeitungsmeldungen und der umfangreichen zeitgenössischen soziologischen Fachliteratur zeichnet Willrich ein komplexes Bild der zeitgenössischen Gerichtspraktiken und ihrer ideologischen Implikationen, er entwirft aber auch die Kulturgeschichte einer Metropole im Wandel, die einen paradigmatischen Rang in der Entwicklung moderner urbaner Räume beanspruchen kann und deshalb von überregionaler Bedeutung ist.1

Willrichs Buch gliedert sich in drei große Blöcke. In den ersten Kapiteln zeichnet er die ideologischen Veränderungen nach, die von der Ablösung der „Police Courts“ hin zur Errichtung des zentralen städtischen Gerichts führten. Der liberalen Reformbewegung war klar, dass das „Law in books“ und das „Law in Action“ selten deckungsgleich sein können, wenn die soziale Komponente des Rechts adäquat berücksichtigt werden soll. Es sei nicht nur auf den Willen des Delinquenten, sondern ebenso auf sein soziales Umfeld und seine mentale Disposition einzugehen – nicht nur um eine angemessene Be- bzw. Verurteilung des Straftäters zu erreichen, sondern auch, um die Gesellschaft vor weiterem Schaden zu bewahren, sie „rein“ zu halten. Zu diesem Zweck reiche eine angemessene Strafjustiz nicht aus, vielmehr seinen auch die „Brutstätten des Verbrechens“ bzw. strukturelle Dispositionen für Kriminalität zu bekämpfen. Es ging den Reformern also um ein Maßnahmenbündel, in diesem Sinne müssen die Prohibition, die „soziale Strafjustiz“ und die Bemühungen im Sinne einer Stärkung des „American Way of Life“ zusammengesehen werden.

Orientiert an Max Weber und Michel Foucault legt Willrich besonderen Wert auf die Ambivalenz der Veränderungen. Einerseits wurden durch die Einrichtung des „Municipal Court“ richterliche Willkür ebenso wie das verhängte Strafmaß reduziert, oftmals auch zur Bewährung ausgesetzt. Die Resozialisation galt in der Regel als Hauptziel des Verfahrens, was nach Auswertung der Gerichtsstatistiken in den ersten Jahren auch in zunehmendem Maße gelang. Andererseits wurde dieser Trend erkauft mit der Schaffung eines bürokratischen Apparats, der unter der Parole der sozialen Verantwortung in weite Bereiche des privaten Lebens vordrang und reglementierend eingriff. Diese Ausweitung staatlicher, genauer stadtlicher Kompetenzen blieb zwar nicht ohne Widerspruch, andererseits bedienten sich nicht wenige Bürger des Gerichts, um beispielsweise einen rebellierenden Sohn oder eine lebenslustige Tochter zur Raison zu bringen – unter Inkaufnahme einer Zwischenstation im Gefängnis.

Der Hauptteil des Buches widmet sich detailliert den einzelnen Spezialbereichen des Gerichts: dem Familiengericht [Court of Domestic Relations], dem Sittengericht [Morals Court], dem Jugendgericht [Boys` Court] und dem „Psychopathischen Labor“ [Psychopathic Laboratory].

Vor das Familiengericht wurden zumeist Familienväter der Arbeiterklasse zitiert, die ihrer Unterhaltspflicht – ihrer „natural und legal duty“ (S. 128) - nicht nachkommen wollten oder konnten. Ein solches Verhalten war kein Kavaliersdelikt, sondern ein Verbrechen gegen den Staat und mit empfindlichen Geld- oder Haftstrafen bedroht. Es war einer der Hauptgründe für die Armut von Frauen und Kindern (S. 145). Doch gerade bei diesem Delikt zeigte sich, dass beide möglichen Strafen wenig sinnvoll waren. Geld war in der Regel nicht ausreichend vorhanden, und eine Haftstrafe hätte die soziale Lage der Familie nur weiter verschlechtert. Deshalb setzte das Gericht in verstärktem Maße auf eine Mischung aus juristischer Kontrolle und sozialarbeiterlicher Hilfestellung, indem z.B. der Arbeitslohn des Familienvaters verwaltet und so die Zahlung an Frau und Kinder sichergestellt wurde. Ganz nebenbei ergaben sich zwei Effekte: die Zuweisung der traditionellen Geschlechterrollen wurde bestätigt, und die Kosten für das Gemeinwesen blieben so gering als möglich. Dabei war zumindest die klare Rollenverteilung schon längst von der Realität in Frage gestellt: 1915 verdienten knapp 80% der amerikanischen Männer zu wenig, um eine Durchschnittsfamilie alleine ernähren zu können (S. 151).

Der 1913 gegründete „Morals Court“ widmete sich vor allem Prostituierten, denen das Gericht mit einer Mischung aus paternalistischem Wohlwollen und moralischem Ekel begegnete. Die Richter entmündigten die Prostituierten, wenn sie in ihnen allein Opfer von Umständen außerhalb ihrer Kontrolle sahen (S. 173). Die Prostitution wurde als reelle Gefahr für Volksgesundheit und moralisches Empfinden empfunden, ihre Wurzeln verortete man in zerrütteten Familienverhältnissen, langen Arbeitszeiten und -belastungen sowie pathologischer Schwachsinnigkeit [!]. Der Kampf gegen die Prostitution war weniger eine Anstrengung für das Wohl der betroffenen Frauen, sondern in erster Linie durch die „gesellschaftliche Gefahr“ der Prostitution bedingt. Der Kriegseintritt der USA in den 1. Weltkrieg lieferte für diese Auffassung weitere „Argumente“.

Noch stärker paternalistisch orientiert war der ein Jahr später ins Leben gerufene „Boys Court“, der straffällig gewordenen Heranwachsenden eine Chance zur Bewährung geben sollte. Die Reformer hatten erkannt, dass in Zeiten pluralistischer Wertvorstellungen und anonymer Lebensumfelder die Sozialisation zu einem „guten Staatsbürger“ nicht in allen Fällen problemlos verlief. In einer Industriemetropole wie Chicago mit seinen zahlreichen Einwanderungsgruppen bildeten sich schnell „Gangs“, die dem Einzelnen die Kraft einer Gemeinschaft und eine Selbstvergewisserung seiner Männlichkeit garantierten (S. 218), die aber ihre eigenen Spielregeln hatten. Das Gericht versuchte sich nun an einer Disziplinierung dieser Heranwachsenden, und war insbesondere bei den Angeklagten selbst wegen seiner vergleichsweise geringen Strafen „beliebt“. Allerdings stieg in den zwanziger Jahren die Zahl der schweren Straftaten, die von Mitgliedern solcher Gangs verübt wurden, stark an. Diese Entwicklung setzte den „Boys Court“ und seine relativ liberale Rechtsprechung immer stärker unter öffentlichen Rechtfertigungsdruck.

Besonders aufschlussreich ist das Kapitel zum „Psychatrischen Labor“, gegründet 1914. Willrich zeigt, dass es nicht in erster Linie konservative Politik war, die basierend auf moralischen Ängsten und aus Rasseüberlegungen heraus die eugenischen Überlegungen dieser medizinisch-psychologischen Versuchsstation propagierten, sondern gerade progressives Reformdenken mit seiner Betonung von sozialer Verantwortung die Verbindung von Eugenik und Rechtsprechung förderte. Der Gerichtsbereich des „Psychatrischen Labors“ widmete sich insbesondere der Ursachenforschung von Kriminalität. Dabei schuf er sich seine Kriminellen in hohem Maße selbst, indem in großem Maßstab Angeklagte als schwachsinnig oder genetisch minderwertig bezeichnete. Ein moralisch-gesellschaftliches Stigma wurde so zu einem biologisch determinierten Faktum (S. 264). Der Reiz einer solchen Argumentation liegt auf der Hand: wenn Kriminalität in vielen Fällen krankhaft bedingt ist, entlastete das die Gesellschaft von der unbequemen und teueren Suche nach anderen, insbesondere sozialen Ursachen der Kriminalität.

Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit den 20er und 30er Jahren, in denen nicht zuletzt der prohibitionsbedingte Anstieg von Bandenkriminalität und die damit einhergehende Zunahme von Kapitalverbrechen zu einem „Roll back“ in der Strafrechtstheorie und –praxis führte. Die immer stärker sichtbare Korruption in der Stadtverwaltung, die auch die Gerichte betraf, tat ein übriges, um insbesondere die weiße Mittelschicht und ihre Presse zu alarmieren und auf der alten ideologischen Basis der individuellen Selbstverantwortung ohne besondere Berücksichtigung sozialer oder psychologischer Umstände härtere Strafen zu fordern bzw. durchzusetzen. Willrich sieht Kontinuitäten von der anhaltenden Zentralisierung bis zum New Deal, und er weist ebenfalls darauf hin, daß bis heute keine neuerliche Abkehr von der Doktrin der harten Strafen erfolgt ist.

„City of Courts“ ist eine auf umfangreichem Quellenmaterial basierende, kenntnisreiche und flüssig, zeitweise pointiert geschriebene Untersuchung, die über den Bereich der Rechtsgeschichte hinaus zahlreiche Anschlussmöglichkeiten für Stadtsoziologen, Kultur- und Sozialhistoriker bietet. Zu wünschen wäre allenfalls eine stärkere Berücksichtigung der Politik, insbesondere dem Zusammenspiel von Reformern und Lokalpolitikern und den Veränderungen unter Bürgermeister William Hale Thompson („Big Bill“) und Al Capone.2 Auch wäre eine stärkere Differenzierung innerhalb der Gruppe der Einwanderer sicherlich aufschlussreich für die Akzeptanz des Gerichts gewesen. Willrich stützt sich hier fast ausschließlich auf Zeitungsartikel im „Chicago Defender“, der führenden Zeitung der schwarzen Immigranten aus den Südstaaten. Zahlenmäßig stärker vertreten waren aber andere Minderheiten wie Italiener, Iren, Polen und Deutsche, die ihrerseits zahlreiche eigene Tageszeitungen und Publikationen herausgaben 3.

Willrichs Studie leistet in mehrfacher Hinsicht Pionierarbeit. Eine ähnlich fundierte Untersuchung zur Gerichtspraxis in Deutschland, z.B. im späten Kaiserreich oder in der Weimarer Republik, steht dagegen noch aus.

Anmerkungen:
1 Zur Rolle Chicagos in den USA siehe Gräser, Marcus, Chicago 1880-1940. Urbanisierung ohne administrative Kompetenz? (Arbeitsbericht des Zentrums für Nordamerika-Forschung 1/2001), Frankfurt am Main 2001.
2 Ansätze in dieser Richtung bei: Haller, Mark H., Urban Crime and Criminal Justice, The Chicago Case, in: The Journal of American History 57 (1970), S. 619-636.
3 Für einen ersten Überblick: Bekken, Jon, The Cicago Newspaper Scene. An Ecological Perspective, in: Journalism and Mass Communication 74 (1997), S. 490-500.

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