Titel
Alkoholkonsum am Beginn des Industriezeitalters (1700-1850). Vergleichende Studien zum gesellschaftlichen und kulturellen Wandel, Bd. 1: Die Region Manchester


Autor(en)
Hirschfelder, Gunther
Erschienen
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Flemming Schock, Institut für Geschichte, Universität Essen

Die Einsicht, dass Menschen auch trinkend Geschichte machten, erfreut sich in jüngerer Forschung erhöhter Aufmerksamkeit. Ältere sozial- und kulturhistorische Zugriffe auf das Thema Alkohol als historische Dimension haben, so der Bonner Volkskundler Gunther Hirschfelder, in der Interpretation des Alkohols als möglichem Schrittmacher gesellschaftlicher Wandlungsprozesse nur unbefriedigende Ergebnisse geliefert. Sie seien oberflächlich, anekdotisch, methodisch schwach und müssten durch neue Lesmuster ersetzt werden. Hirschfelder habilitierte sich im Jahre 2000 über den „Alkoholkonsum an der Schwelle zum Industriezeitalter als Indikator kulturellen und gesellschaftlichen Wandels“. Der erste Teil des Projekts liegt in der Mikrostudie der Region Manchester für den Untersuchungszeitraum von 1700-1850 vor. Unter analogen Gesichtspunkten wird der zweite, erst im nächsten Jahr zu publizierende Band die Region Aachen untersuchen. Obwohl sich die angelsächsische Geschichtsschreibung der Macht der Trunkenheit intensiver widmete als die deutsche, musste Kitson Clark noch 1962 bedauern: „It would be hard to say why historians have not rated the effect of strong drink as the significant factor that it undoubtfully was“. Hirschfelder, der seine junge Disziplin der volkskundlichen Alkoholforschung noch im Stadium der Standortbestimmung zwischen Nahrungsethnologie, volkskundlicher Arbeiterforschung und Sozialgeschichte sieht, sieht mit der Analyse der historischen Entwicklung des Alkoholkonsums ein zentrales Postulat der Geschichtswissenschaft erfüllt: „gesellschaftliche, mentale und ökonomische Strukturprozesse transparent zu machen“.

Nach Hirschfelder wurde die Rolle des Trinkverhaltens in den vielfältigen Umbruchentwicklungen der „Sattelzeit“ des 18. Jahrhunderts bisher kaum berücksichtigt. Dies sei erstaunlich, denn übermäßiges Trinken sei schon zu jener Zeit als drängendes soziales Problem empfunden worden. Deshalb sei der Umgang mit Alkohol auch im besonderen Maße in der Lage, Vergangenheit sichtbar zu machen. Diese liegt aber für Hirschfelder nicht in der (Kultur)Geschichte des Getränks, sondern in den Menschen selbst. Ihm dient die Alkohol-Problematik als Folie, um kulturellen und gesellschaftlichen Wandel in Manchester als Schlüsselregion der Industrialisierung sichtbar zu machen. Methodisch einleuchtend diskutiert Hirschfelder im ersten Kapitel die „raum- und objektbezogenen Komponenten des Alkoholkonsums“, die Gaststätten. Er entwirft auf der Grundlage erstmals erschlossener Quellen eine Gattungs- und Sozialgeschichte der nordenglischen Wirtshaustypen, skizziert Konjunkturverläufe (Friedrich Engels 1845: „über tausend Schenken“) und die „Genese neuer Formen“ in zuweilen erschöpfenden Zahlengerüsten. Auch wortgeschichtliche Aspekte werden integriert. Eine „Wirtshausterminologie“ dokumentiert auf anschauliche Weise den inoffiziellen Sprachgebrauch jener Zeit. Das Kernargument ist das einer „Polyfunktionalität der englischen Gaststätte“ im 18. Jahrhundert, eine Vervielfachung der sozialen Funktion als Beherbergungs- und Beköstigungsbetrieb, als Ort der Freizeit, von Musik und Tanz, des Handels, des organisierten Verbrechens. Veränderungstendenzen innerhalb schichtenspezifischer Etablissements arbeitet Hirschfelder durch die Einbindung subjektiver Zeitzeugnisse gewinnbringend heraus. Letztlich sei der Gaststättenboom des Jahrhunderts lediglich durch den allmählichen Trend zur Privatheit gebremst worden. Zudem haben das äußere Erscheinungsbild der Gaststätten und ihre innere Raumstruktur für den Autor „hohen Wert als Indikatoren kulturellen Wandels“. Worin dieser genau liegt und was daraus zu schließen ist, wird gleichwohl nicht präzisiert.

Die Perspektive verlagert sich im Folgenden auf das Wirtshauspersonal. Hirschfelder rekonstruiert trotz lückenhaften Quellengrunds die soziale Realität des Wirtsberufs und lokalisiert ein sich wandelndes Stereotyp „des“ Wirtes zwischen seltenem pomphaften Gastronom und ehemaligem Fabrikarbeiter. Auch die Wirtinnen („Landladies“) werden erfasst. Ihr Anteil sei beträchtlich gewesen. Rückschlüsse auf ein radikal anderes Sozialprestige selbstständiger weiblicher Gastronominnen können, erneut bedingt durch die unbefriedigende Quellenlage, jedoch nur eingeschränkt erfolgen. Mit Vorsicht verfolgt der Autor den Konjunkturverlauf des sich zunehmend differenzierenden Gewerbes und die Schwierigkeiten der Bierwirte, sich gegen ordnungs- und kirchenpolitische Maßnahmen der Legislative zur Wehr zu setzen. Eine zunächst vorherrschende Freimütigkeit gegenüber öffentlichem Alkoholkonsum im 18. Jahrhundert sei einer zunehmend härteren Gangart gewichen, ausgedrückt auch in einer restriktiveren Politik von Öffnungszeiten und Sperrstunden. Ein Überschreiten derselben sieht Hirschfelder als rein unterschichtenspezifische Erscheinung. Für das Freizeitverhalten dieser Bevölkerungsgruppe seien Kneipen zunehmend wichtiger geworden, hervorgerufen durch schlechte und beengte Wohnverhältnisse, durch eine „Zwangsmobilität des Industriezeitalters“. „Die Trennung von Wohnung und Arbeitsplatz […] warfen das Individuum in eine Freizeit, die es weder gesellschaftlich noch individuell bewältigen konnte und in die Kneipe trieb […]“. In bündigen Urteilen wie diesem verknüpft der Autor Ursachen soziokulturellen Wandels mit der Rolle des Alkoholkonsums.

Weiterreichende Sozialfunktionen der Gaststätten, die immer mehr auch zu Orten von Musik und Tanz wurden, sind aufgrund des schwachen Niederschlags in den Quellen nur indirekt abzuleiten. Daher formuliert Hirschfelder über den interessanten Befund hinaus, dass die Lokalbehörden Manchesters Politik regelrecht vom Kneipentisch aus betrieben, vorwiegend allgemeine Urteile, die, wenig überraschend, die kommunikative, semiotische Seite der Gaststätten herausstreichen: „[…] das Gasthaus war die Schaltstelle der meisten vor- und frühindustriellen Informationssysteme.“ Daran anschließend geht es um die Trinkgewohnheiten in Lebens- und Arbeitsbereichen, in Landwirtschaft und Fabrik, auf der Straße, im Bürgerhaus und in den Haftanstalten. Summarisch erörtert Hirschfelder für die Übergangszeit von der Stände- zur modernen Klassengesellschaft Beständigkeit und Wandel von Kulturmustern, in denen der Alkohol jeweils einen spezifischen Stellenwert einnahm. Da das karge Leben der Arbeiter keinen finanziellen Spielraum zugelassen habe, sei so u.a. das weit verbreitete Klischee vom Fabrikalkoholismus zu revidieren. Hier wäre eine verstärkte Betonung der rituellen und statussymbolischen Funktion des gemeinschaftlichen Trinkens wünschenswert gewesen, aber die Menge des aufgearbeiteten Quellenmaterials besticht, ebenso das Nachzeichnen, wie sich die Orte des Trinkens zunehmend in Privaträume verlagerten und die Straße als Ort des Alkoholkonsums im Laufe des Industrialisierungsprozesses doch weiter an Bedeutung gewann.

Die geschlechtsspezifischen Aspekte werden im zweiten Hauptkapitel („Die trinkenden Menschen: Gesellschaft, Schichten, Konsumenten“) weiter vertieft. Hirschfelder hebt quellennah und differenziert auf eine „neue Dimension weiblichen Umgangs“ mit Alkohol ab und integriert damit den populären „Gender“-Zugriff. Vor dem Hintergrund eines weitgehend statischen Rollenverständnisses interpretiert der Autor die von Männern dominierten Trinkrituale als rituelle „Identitätsdomäne“. Frauen seien ausgeschlossen gewesen, doch galt: „drinking has been a growing evil in both sexes“. Gesichtspunkte des altersspezifischen Trinkens, wie das der arbeitenden Kinder, werden aufgrund der problematischen Quellenlage nur kursorisch diskutiert. Die zu konstatierende Verabreichung von Branntwein in frühesten Kindertagen bringt Hirschfelder zu dem pauschal anmutenden Kausalurteil, dass dies „Ausdruck einer verstärkten Verrohung und Kriminalisierung von Teilen der englischen Industriearbeiterschaft in eben jener Epoche“ gewesen sei. Im Folgenden treibt er sein Analyseschema weiter und kommt von der geschlechts- und altersspezifischen Differenzierung zur berufs- und gruppentypischen Rolle des Alkohols. Die dünne Quellendecke erlaubt auch hier letztlich keine definiten Aussagen. Aber Hirschfelder spürt quantitativen Tendenzen des Trinkens nach, von den handarbeitenden Schichten bis hin zu Kirche und Klerus, den „Bierrittern des Kirchspiels“. Hier ist für Hirschfelder schnell klar: „[Anglikanische] Geistliche am Ende des 18. und 19. Jahrhunderts tranken regelmäßig Alkohol in hohen Dosen“. Der Adel und die Konkurrenz des aufkommenden Industriebürgertums schließen die Analyse der sozialen Gruppen.

Ein drittes Kapitel diskutiert vor allem quantitative Aspekte des Trinkens. Der Autor versucht u.a., den Durchschnittsverbrauch verschiedener Schichten für den gesamten Untersuchungszeitraum anhand der Quellen zu errechnen, verliert sich dabei aber im Referieren von Zahlenmengen. Die Rolle des Alkohols als Gewaltmotor in frühindustriellen Gesellschaften kann im Unterkapitel „Alkohol, Aggression und Gewalt“ nur vage mit klaren Linien versehen werden, bietet aber ebenso interessante Details wie die Konsumgeschichte der Substitutdroge Tabak und des Opiums in Manchester. Hirschfelder schließt mit der anregenden Skizze des relativen Erfolgs der puritanisch motivierten Mäßigkeitsbewegung, die aus der Region Manchester den „Motor der Anti-Alkoholströmung“ gemacht habe.

Die Analyse gesellschaftlicher Veränderungsprozesse von 1700 bis 1850 im Raum Manchester mag sich für den Autor „aus volkskundlicher Sicht“ an Antworten reich erwiesen haben. Doch fehlt bei der Vielzahl der Quellen das weitergehende Deutungsmoment; eine verknüpfende Vermittlung. Hirschfelder bettet sein quantitativ erschöpfendes Datenmaterial leider nur selten in größere interpretative Zusammenhänge ein. Der Stil ist tendenziell zu beschreibend, oft auffallend repetierend. Es fehlt synthetisierendes Interesse. Zudem kann, wie der Autor immer wieder selbst indirekt betont, aus größtenteils bruchstückhafter und willkürlicher Überlieferung kaum pauschal auf ein historisches Konsumverhalten geschlossen werden. Welche Faktoren neben diesem Konsumaspekt den kulturellen Wandel speziell in Manchester beeinflussten, wird nicht klar genug herausgestrichen. Das dreißig Seiten umfassende Fazit referiert gedrängt die schon vorher gemachten Befunde, ohne sie im Sinne des eingangs formulierten Erkenntnisinteresses analytisch überzeugend zu erklären. Sind die getroffenen Aussagen zuweilen zu gemeinplatzartig, so liegen die Stärken in dem ersten Band dieser Studie ganz klar in der bearbeiteten Masse vorher unberücksichtigter Quellen, die überwiegend in englischen Originalen zitiert werden und die Stimmung der Zeit reflektieren. Hirschfelder erweitert den Blick auf die „erste Fabrikstadt der Welt“ um die Perspektive der Nahrungsethnologie und hat insofern eine Pionierstudie vorgelegt.

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