D.I. Kertzer: Die Päpste gegen die Juden

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Titel
Die Päpste gegen die Juden. Der Vatikan und die Entstehung des modernen Antisemitismus


Autor(en)
Kertzer, David I.
Erschienen
München 2001: Propyläen Verlag
Anzahl Seiten
447 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Forstner, Erzbischöfliches Ordinariat München

Die seit geraumer Zeit breit diskutierte Rolle des "Papstes der geschwiegen hat" 1, also die Frage nach der Untätigkeit Pius XII. angesichts des sich in Europa vollziehenden Völkermords an den Juden, steht nicht im Mittelpunkt von David I. Kertzers Buch, "Die Päpste gegen die Juden" 2. Kertzer geht es vielmehr um die Vorgeschichte, der Rolle jener Päpste seit Pius VII., der nach seiner Inthronisation 1775 die Erleichterungen, welche sein Vorgänger Clemens XIV., beseelt vom gerade Mode gewordenen Geist der Aufklärung den römischen Juden gewährt hatte, wieder rückgängig machte.

Kertzers Buch besteht aus drei Teilen. Der erste, mit "Der angestammte Platz der Juden" überschriebene Teil, beschreibt die Situation der Juden im Kirchenstaat in der Zeit zwischen der Französischen Revolution und dem Ende des Kirchenstaats durch den Abschluss der italienischen Einigung 1870. Der zweite Teil, "Die katholische Kirche und der Aufstieg des modernen Antisemitismus" fußt vorwiegend auf Analysen des Bilds von den Juden in vatikan- oder kirchennahen Presseorganen, wie der Civilita cattolica, dem Osservatore romano oder der französischen La Croix, nimmt aber auch die vatikanische Geheimdiplomatie in den Beziehungen zu Frankreich und Österreich in den Blick, etwa am Beispiel des Verhältnisses des Vatikanischen Staatssekretariats zur christlich-sozialen Partei Österreichs unter ihrem charismatischen Führer Karl Lueger - bekanntermaßen einem der geistigen Väter Hitlers. Der dritte und schmalste Teil des Buches ist den Pontifikaten Benedikt XV. (1914-1922) und Pius XI. (1922-1939) gewidmet. Seinem Nachfolger, dem ansonsten viel behandelten Eugenio Pacelli, gilt dann kaum noch ein schmaler Ausblick. Dass dieser Teil des Buches am kürzesten ausfällt, mag auch daran liegen, dass Kertzer in die erst kürzlich geöffneten Archive der Ära Pius XI. (für den Zeitraum bis 1939) keinen Einblick mehr nehmen konnte (S. 324). Das hinderte ihn freilich nicht daran, eine Reihe von Spekulationen über diesen Papst in die Welt zu setzen, die das bisherige Bild der Forschung gänzlich verkehren.

Zunächst ist zu bemerken, dass Kertzer zu jenen Forschern zu rechnen ist, die eine Trennung zwischen den in der Forschung traditionellerweise verwendeten Begriffen "Antijudaismus" und "Antisemitismus" nicht aufrechterhalten. So wird in Bezug auf judenkritische oder judenfeindliche Maßnahmen der Päpste stets von Antisemitismus gesprochen, ohne dass eine Klarstellung des Begriffes, der doch für ein Phänomen der Moderne steht, erfolgen würde. Dass es Verschränkungen und Verbindungslinien zwischen dem aus der kirchlichen Tradition gewachsenen katholischem Antijudaismus und dem neuzeitlich Phänomen des rassisch-biologistisch begründeten Antisemitismus gab, ja dass der Antijudaismus lange einen zentralen, wenngleich wohl kaum konstitutiven Bestandteil der katholischen Weltsicht darstellte, wird seit der Studie des Schweizer Historikers Urs Altermatt auch von kirchennahen Historikern kaum mehr angezweifelt. 3 Dies hat auch schon die vatikanische Erklärung zum Holocaust aufgegriffen, die feststellte: "[...] man muß fragen, ob die Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten nicht von antijüdischen Vorurteilen in den Köpfen und Herzen einiger Christen erleichtert wurde?“ 4 Kertzer geht hierüber, freilich ohne tiefer auf die damit verbundene heuristische Problematik einzugehen, aber hinaus und unterstellt gewissermaßen eine direkte Linie vom Haus der Katechumen - in dem die konversionswilligen Juden unterkamen - nach Auschwitz. Die Mittel, mit denen er dies zu belegen versucht, verbleiben jedoch vielfach im Unzulänglichen. Es seien hier nur einige zentrale Kritikfelder benannt.

I.) Erstaunlich ist zunächst, dass Kertzer als Historiker gleich mehrfach über modernistisch anmutende Mythen im Hinblick auf Vatikan und Kirche stolpert. Zum einen wird die Frage von Kertzer überhaupt nicht gestellt, welchen Einfluss die Institution Kirche, die seit dem 19. Jahrhundert erstmals in ihrer Geschichte mit einem zuvor nie gekannten Bedeutungsverlust zu kämpfen hatte und deren gestaltender Einfluss auf die Maßstäbe der Lebensgestaltung einer Majorität zusehends erodierte, auf die Ausprägung des wohl schlagkräftigsten Ideologems am Ende des 19. Jahrhunderts überhaupt noch haben konnte. Zum anderen beurteilt er den Vatikan stets als monolithischen Block, der nur mit einer Stimme spricht. Dies ist um so erstaunlicher, als Kertzer bei seinen Forschungen selbst vielfach am Rande Meinungsverschiedenheiten in der Kurie streift, die er aber nicht weiter thematisiert. So wird schon anhand der in dem Buch in aller Breite dargestellten Auseinandersetzungen des eher progressiv orientierten Kardinalstaatssekretärs Pius` VII., Ercole Consalvi, mit den "zelanti" (den reaktionären Kurienkardinälen) bei der Frage um die vatikanische Judenpolitik vor dem Hintergrund des Wiener Kongresses (S. 42-51), deutlich, dass sich im Vatikan eine Vielzahl von Fraktionen mit je ureigenen Machtinteressen fanden, was natürlich auch auf das Verhältnis zu den Juden Einfluss hatte. Kertzer ignoriert dann aber dieses Ergebnis und nimmt in seinen Folgerungen eine doch sehr naive Sicht der Dinge ein, indem er unterstellt, dass alles was dem Dunstkreis Roms im weitesten Sinn entstammte, ureigenster Ausdruck päpstlich lehramtlicher Verkündigung sei. Und es liegt in der Natur das Buches, dass es immer die gegenüber den Juden ungnädigste Stimme ist, die Kertzer aufgreift.

II.) So verwundert es nicht, dass der zweite Teil des Buches keineswegs aus einer Analyse der offiziellen lehramtlichen Verkündigungen der Kirche besteht, und im Wesentlichen auch nicht aus einer empirischen Untersuchung päpstlicher Geheimdiplomatie im Blick auf die Juden, sondern aus Zitaten, die Kertzer katholischen Presseorganen entnahm, wobei er mehrmals unterstellt, alles was in dem Vatikan unterschiedlich nahestehenden Presseorganen wie der Civilita cattolica, dem Osservatore romano oder der französischen La Croix erscheine, sei jeweils mit dem Papst oder dem Kardinalstaatssekretär abgesprochen und würde somit eine Art Metatext zu den offiziellen Verkündigungen darstellen, in denen Kertzer die (für seine These erforderlichen) judenfeindlichen oder antisemitischen Stellen in aller Regel nicht fand. Dass sich in den Redaktionsstuben katholischer Presseorgane natürlich auch extreme Antisemiten fanden, dürfte evident sein. Die Frage aber, wie das Mengenverhältnis von pro- und antijüdischen Stimmen in 150 Jahren katholischer Publizistik in den Griff zu bekommen ist, bleibt in diesem Buch freilich außen vor.

III.) Bisweilen kommt es bei dem Bemühen Kertzers, seine These zu stützten, zu grotesken Verbiegungen der historischen Realität. Ein Beispiel hierfür ist die Beurteilung Pius XI., die Kertzer unter anderem an dessen Verbotsdekret gegen die Priestervereinigung Amici Israel festmacht. Die 1926 auf Initiative der niederländischen Konvertitin Sophie Franziska van Leer in Rom gegründete Vereinigung hatte zum Ziel, eine völlige Veränderung des Verhaltens gegenüber den Juden zu bewirken. Die in der Broschüre "Pax super Israel" niedergelegten Auffassungen der Amici forderten, die Juden mit Liebe zu behandeln. Kertzer: "Die Inquisitoren waren entsetzt über die in Pax Super Israel enthaltenen häretischen Auffassungen und setzen die Broschüre auf den Index." Die Initiative zum Verbot schreibt er dem Heiligen Offizium zu (S. 357). Dass sechs der im Heiligen Offizium vertretenen Kardinäle selbst Mitglieder der Amici waren 5, verschweigt er oder es ist ihm schlichtweg ebenso entgangen wie die Tatsache, dass selbst der Häresie sicher unverdächtige Kardinäle wie der für gewöhnlich konservativ beurteilte Münchener Erzbischof Faulhaber "Pax super Israel" bei Priesterkursen verteilten.6 Die per vatikanischem Dekret erfolgte Auflösung der Vereinigung schreibt Kertzer - wie könnte es anders sein - dem Antisemitismus der Päpste zu. Den Umstand, daß das veröffentlichte Verbotsdekret eine auch für Kertzer nicht übersehbare Verdammung des Antisemitismus durch Pius XI. enthielt, erklärt er durch die erfundene Behauptung, nur so sei der Eindruck dieses drastischen Schrittes in der Öffentlichkeit abzumildern gewesen (S. 358). Tatsächlich sind völlig andersgeartete Motive des Verbots – Angriffe der Amici gegen die Transsubstantiationslehre und die liturgische Praxis - längst offengelegt 7. Doch sind diese Einsichten für Kertzer unbequem - sie fügen sich nicht in den vorgefertigten Holzschnitt. Kertzer konstruiert hier wie auch an anderer Stelle (vgl. etwa S. 199) einen Vatikan, der ein merkwürdiges Doppelspiel spielt: Öffentlich wendet er sich gegen den Judenhass, inoffiziell lanciert er den Antisemitismus. Was die Päpste zu dieser merkwürdigen Strategie, die sie ja in Konflikt mit dem (antisemitischen) Mainstream Mitteleuropas zwischen 1880 und 1945 brachte, veranlasst haben soll, bleibt freilich ein auch von Kertzer nicht gelöstes Rätsel.

IV.) Das bunte Spektrum zum Teil wirklich ergreifender Bilder des Buches ist sichtlich darauf angelegt, Emotionalisierung statt Erkenntnis bei den Lesern hervorzurufen. Dies hinterlässt bei einer wissenschaftlichen Studie einen eher zwiespältigen Eindruck. So sind Formulierungen wie "Angesichts dessen, was ein halbes Jahrhundert später in Europa geschehen sollte, war dies ein erschreckender Satz [[...]", für das Buch typisch und der Rezensent vermeint fast, das entsetzte Kopfschütteln der auf diese Weise emotionalisierten Leserschaft zu vernehmen. Oftmals gestalten sich die Suggestionen subtiler, doch nicht minder emotionsträchtig, so etwa, wenn bei der Schilderung der Taufe eines jüdischen Kindes nach der von der Kirche überwachten Entbindung (der Vater des Kindes hatte durch sein Konversionsgesuch entsprechend der Rechtslage auch seine Frau und ihr noch ungeborenes Kind hierzu verpflichtet) bemerkt wird: "Wie in solchen Fällen üblich, wurde die Rechnung für die Hebamme den Juden zugesandt." (S. 78) Wer denkt da nicht an die Rechnungen, die Angehörige der von den Nationalsozialisten Ermordeten für die Kremation erhielten? So inakzeptabel die Zwangstaufen aus aufgeklärter Sicht sind, so unangenehm berühren Suggestionen dieser Art, die das Buch wie ein Geflecht durchziehen und beständig bemüht sind, dem Leser die moralische Verkommenheit der Kirche vor Augen zu führen.

Kertzers Schilderung eines Antisemitismus aus dem Geiste des Katholizismus ist ein Werk, das die bestehende Forschungslage weitgehend ignoriert und von einer gründlichen Analyse der Quellen absieht, obwohl die römischen Archivstudien - bei seinem Thema eigentlich eine nicht notwendig auszusprechende Selbstverständlichkeit - schon auf dem Umschlagtext betont werden, was vermutlich den Authentizitätsfaktor steigern soll. Dafür wartet es aber mit einer These auf, die sich vermarkten lässt. Damit ist es ein Buch, das - so sei einmal unterstellt - vermutlich wesentlich breitere Rezeption erfährt, als alle in den letzten 10 Jahren erschienenen wissenschaftlichen Detailstudien, die zu wesentlich differenzierteren Ergebnissen gelangten.

Ein Buch dieser Art kann auch anregend sein. Anregend könnte und sollte es vor allem im Hinblick auf die deutsche Katholizismusforschung sein, die ansehnliche Leistungen vorweisen kann, die aber offenbar weder eine breitere Öffentlichkeit erreichen, noch von der internationalen Forschung, gerade in den Vereinigten Staaten, in ausreichendem Maße wahrgenommen werden. Der Publikumserfolg eines wissenschaftlich letztendlich marginalen Buches wie des vorliegenden könnte Anlass sein, zu bedenken, auf welche Weise die respektablen Forschungen der seriösen Katholizismusforschung – also etwa einer Einrichtung wie der Kommission für Zeitgeschichte, der als Institution gewiss nicht zu unrecht die Aura eines altertümlichen Herrenklubs anhaftet – für eine breitere Öffentlichkeit greifbar gemacht werden könnten. Dies ist aber wohl ein generelles, wenngleich im deutschen Sprachraum besonders virulentes Problem im Verhältnis von Fachwissenschaft und Öffentlichkeit.

Anmerkungen:
1 Vgl. den etwas reißerischen Titel des Buches von Cornwell, John, Pius XII. Der Papst, der geschwiegen hat, München 1999 (der englische Originaltitel war dem Verlag dann offenbar doch zu peinlich: "Hitlers Pope").
2 Zu diesem Thema, dass bei Kertzer naturgemäß ständig im Hintergrund präsent ist, aber nur auf den letzten Seiten des Buchs explizit gestreift wird vgl. die Zusammenfassung der Diskussion bei: Sanchez, Jose M., Pius XII. und der Holocaust. Anatomie einer Debatte. Paderborn 2003 (Amerik. Originalausgabe 2002).
3 Altermatt, Urs, Katholizismus und Antisemitismus. Mentalitäten, Kontinuitäten, Ambivalenz, Frauenfeld 1999.
4 Cassidy, Edward Idris; Duprey, Pierre; Hoeckmann, Remi, Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoa. (Hg. von der Päpstlichen Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden), Rom 1998.
5 Diese Kardinäle waren: Raffaele Merry del Val, Willem van Rossum, Andreas Frühwirth, Carlo Perosi und Basilio Pompili, vgl. hierzu: Poorthuis, Marcel; Salemink, Theo, Op zoek naar de blauwe ruiter. Sophie van Leer - een leven tussen avant-garde, jodendom en christendom (1892-1953), Nijmegen 2000, S. 267.
6 Vgl. hierzu: Kardinal Faulhaber, Michael, Unsere Predigt und die Heilige Schrift, in: Schauer, Johann Baptist (Hg.), Der homiletische Kurs in München vom 10.-12. Oktober 1927, München 1927.
7 Poorthuis, Marcel; Salemink, Theo, Chiliasme, anti-judaisme en antisemitisme. Laetus Himmelreich OFM (1886-1957), in: Trajecta 9 (2000), 45-76; Dies., van Leer (wie Anm. 6), bes. 263-287 (De lange arm van het Vaticaan). Inzwischen haben sich auch deutsche Forscher wie Wilhelm Damberg den Amici zugewandt. Dass Kertzer nichts davon rezipiert hat, zeigt ein Blick ins Literaturverzeichnis.

Der Rezensent ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Erzbischöflichen Ordinariat München. Diese Rezension spiegelt seine private Auffassung wider und ist keine öffentliche Stellungnahme des Erzbischöflichen Ordinariats München.

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