Cover
Titel
Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigensinn (DDR 1961 1974)


Autor(en)
Ohse, Marc D.
Reihe
Forschungen zur DDR-Gesellschaft
Erschienen
Anzahl Seiten
407 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Marc-Dietrich Ohses Konzept ist es, der Ambivalenz bzw. Widersprüchlichkeit der ostdeutschen Gesellschaft in einer doppelten Perspektive nachzugehen. Deshalb beschränkt sich die "Arbeit nicht darauf, die institutionalisierte Jugendpolitik darzustellen, sondern analysiert zugleich die Entwicklung jugendlicher Alltagskultur in der DDR" (S. 17). Dieser realistische Ansatz stößt freilich auf ein großes Quellenproblem: die "Dominanz der Quellen aus dem Herrschaftsapparat". Ohse versucht, diese zu relativieren, indem er "kirchliche Materialien und private Überlieferungen" nutzt. "Obwohl diese quantitativ mit den erstgenannten Quellen keineswegs konkurrieren können, sind sie qualitativ unverzichtbar." (S. 19f.) In weiten Teilen der Arbeit halte ich den Versuch für gelungen, wenngleich die Dominanz eben weiter besteht, zwar relativiert, aber nicht aufgehoben wird. Der Begriff der Jugend ist in der Arbeit klar definiert. Darunter wird "eine Personengruppe verstanden, die sich in der Entwicklungsphase zwischen der Pubertät sowie der sozialen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit befindet. Dieser Abschnitt differiert in der Länge, da der Einstieg in diese Phase simultan im Alter von ca. 13-14 Jahren vollzogen wird, das Ende aber erheblich variiert - je nach Bildungsabschluß zwischen 17 und 24 Jahren." (S. 17) D.h. auch, dass in die Betrachtung Schüler, Lehrlinge und Studenten einbezogen sind. Als Untersuchungszeitraum wurden vor allem die 60er Jahre zwischen Mauerbau und Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker gewählt. Um zu überprüfen, wie sich letzterer auswirkte, wurde der zeitliche Rahmen bis 1973/74 (Weltfestspiele und Jugendgesetz) verlängert. Unter dem Aspekt der Prüfung hätte ich allerdings eher für 1976 (Biermann-Ausbürgerung) plädiert. Durchgeführt wurde die Untersuchung am Beispiel der Messestadt Leipzig, "weil es als Industrie-, Universitäts- und Großstadt ein breites soziales Spektrum umfasst" (S. 17). Die vorliegende Studie wurde unter dem Titel "Jugend nach dem Mauerbau: Politische Normierung und Jugendprotest in der DDR 1961-1974" von der Phil. Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenommen.

Die Entwicklung jugendpolitischen und gesellschaftlichen Wandels, das Spannungsfeld von politischem Anpassungsdruck und individuellem Streben noch Selbstentfaltung sowie die Widersprüche zwischen östlicher Norm und westlicher Popkultur im Alltag der Jugend werden chronologisch verfolgt. Kap.1 "Im Schatten der Mauer" behandelt die Jahre 1961 bis 1963/64: Den Mauerbau, die FDJ-Aktion "Blitz kontra NATO-Sender", die Einführung der Wehrpflicht, die Durchsetzung der Jugendweihe, die Freizeit der Jugend und die Liberalisierungstendenzen des Jugendkommuniqué von 1963. Kap.2 "Kahlschlag" umfasst die Zeit von 1964 bis 1966 und stellt das Ende der neuen Offenheit, das Vorgehen gegen "Gammler, den Kahlschlag des 11. Plenums 1965, die Bildungsreform und den Widerstand der Jugend gegen die Reglementierung ihrer Privatsphäre dar. Kap.3 "Kalter Frühling" konzentriert sich auf die Jahre 1967 bis 1969. Es beschreibt die Verinselung der Jugendkultur und den Wandel jugendlichen Konsumverhaltens, den Beginn der 3. Hochschulreform und die Novellierung der DDR-Verfassung, den Prager Frühling und die Reaktionen auf dessen Niederschlagung sowie die Sprengung der Leipziger Universitätskirche. In diese chronologische Darstellung ist als Kap.4 ein Exkurs eingelagert, der sich dem Verhältnis ostdeutscher Jugendlicher zu den Kirchen über den gesamten behandelten Zeitraum widmet. Unter dem Titel "Im Spannungsfeld der Weltanschauungen - zwischen Staat und Kirche" werden die Minderheitssituation kirchlicher Jugend, der Kampf um die Jugendweihe, die Behinderung christlicher Kinder auf dem Bildungsweg, der Protest gegen die Militarisierung der Gesellschaft, die Rolle der Studentengemeinden, die Modernisierung kirchlicher Jugendarbeit und die Harmonien und Disharmonien zwischen Staat und Kirche behandelt. Kap. 5 "Von Ulbricht zu Honecker" setzt die Chronologie fort und umreißt sie Jahre von 1970 bis 1974. Es analysiert die Folgen des Machtwechsels, das Bildungswesen unter Honecker, die außenpolitische Öffnung der DDR und den gesellschaftlichen Wandel und endet mit den Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin 1973 und dem Jugendgesetz 1974. In einem weiteren Exkurs innerhalb des Kapitels wird die Entwicklung jugendlicher Bewußtseinsformen im Spiegel der DDR-Jugendforschung betrachtet.

In seiner Zusammenfassung kommt Ohse hinsichtlich der Jugendpolitik zu dem nicht unbedingt neuen Schluss, dass sich gerade in der Haltung zur Jugendkultur bei den Offiziellen in der DDR ein "permanenter Wechsel von Toleranz und Repression" erkennen lässt (S. 365). Diese "prinzipiellen Widersprüche von Liberalisierung und Regulierung" zeichneten sich im Jugendkommunique 1963 ebenso wie im Jugendgesetz 1974 ab. Und der FDJ, die in diesem Zeitraum eine institutionelle Stärkung erfuhr, "gelang es nur im Kontext propagandistischer Großveranstaltungen, die Eigeninitiative Jugendlicher zu fördern und zu nutzen" (S. 367). Auf der anderen Seite, der jugendlicher Alltagskultur, waren die Systemunzufriedenheit der Jugend und der Siegeszug der westlichen Popkultur nicht aufzuhalten. Es gelang der Jugend, sich immer wieder eigene Freiräume zu schaffen und diese eigensinnig zu nutzen. Zwar entwickelte sich unter den jungen Ostdeutschen "keine Opposition, auch widerstanden sie kaum der weitreichenden Formierung durch den SED-Staat. Aber das Maß der Anpassung an dessen Ansprüche lässt sich gleichwohl nur bedingt ausloten." Ohse bringt das Verhalten der meisten Jugendlichen in der DDR in jenem Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichem Reglement und individueller Selbstentfaltung auf die begründete Formel "widerwillige Loyalität" (S. 379).

Diese profunde Studie wirft zugleich eine Reihe von Fragen auf, für die sie nur Teilantworten parat hat. Z.B. in der Quelleninterpretation: Sollte man manche optimistisch-unrealistische Einschätzung, wie die der Jugendkommission, dass der "Westdrall" in der Jugend kein "hervorstechendes Merkmal" mehr wäre, nicht eher als Taktik und spezifische Interessenvertretung interpretieren als sie zu falsifizieren? (S.157f.) Nur angedeutet wird, dass der Wertewandel in den 60er Jahren, der sich in allen modernen Industriestaaten vollzieht, natürlich auch in der DDR wirkt. Das Problem in diesem Prozess, ob "1968" in der DDR stattgefunden hat, bleibt offen. Freilich könnte man zurück fragen, ob es überhaupt - in dieser Form - stattfinden musste? (S. 218f.) Tendenzen, die Ohse allein im Bereich der Kirche verortet: die Verabschiedung einer destruktiv konfrontativen Haltung der Älteren und den Übergang zu einer konstruktiv kritischen Auseinandersetzung bei den Jüngeren, sind sicher auch außerhalb christlicher Kreise nachzuweisen? (S. 278f.) Der konstitutive Zusammenhang zwischen der Etablierung einer "Wohlfahrtsdiktatur" und dem Ausbau des Observations- und Repressionsapparates hätte stärker herausgearbeitet werden können. (S. 281 ff.) Die anfangs aufgeworfene Frage nach der Spezifik ostdeutscher jugendlicher Identität bzw. ostdeutscher Jugendkultur wird merkwürdig unentschieden behandelt und zum Schluss nicht mehr aufgegriffen. Stattdessen versucht Ohse seiner Untersuchung eine Wendung, wie mir scheint nachträglich, in Richtung Generationengeschichte zu geben. Sein Verständnis und Maßstab von "Generation" bzw. "Generationseinheit" ist allerdings so stark von der Erscheinungsform der westdeutschen 68er geprägt, dass er damit für die DDR Schwierigkeiten kommt. Ob die nach dem Mauerbau sozialisierten Jugendlichen eine eigene (Jugend-)Generation bildeten, worin deren Prägungen bestanden und wodurch sie sich von vorhergehenden und nachfolgenden DDR-Generationen unterschieden, kann auf diese Weise nicht geklärt werden. Gleichwohl ist mit der Studie soviel interessantes Material aufgearbeitet worden, um sich dieser neuen wissenschaftlichen Fragestellung zuzuwenden.

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