Cover
Titel
Welt im Zwiespalt. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts


Autor(en)
Wolfrum, Edgar
Erschienen
Stuttgart 2017: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
447 S., 32 Abb.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Konrad H. Jarausch, Department of History, University of North Carolina, Chapel Hill

Wenn ein ausgewiesener Zeithistoriker eine globalgeschichtliche Synthese vorlegt, nimmt man das Buch mit einigen Erwartungen in die Hand. Besonders da der Untertitel eine „andere Geschichte des 20. Jahrhunderts“ verspricht, ist man gespannt, was sich dahinter verbergen mag. Der Heidelberger Autor ist durch zahlreiche wichtige Arbeiten bekannt – wie seine Monographie zur französischen Besatzungspolitik, seine Analysen und Kommentare zur deutschen Erinnerungspolitik, seine Studie zur rot-grünen Koalition und sein Handbuch zur Geschichte der Bundesrepublik („Die geglückte Demokratie“). Aufgrund seiner knappen Einführung in die „Globale Geschichte des 20. Jahrhunderts“ von 2007 (gemeinsam mit Cord Arendes verfasst) hat er genügend Erfahrung, um nun eine breiter angelegte, alternative Globalgeschichte des vorigen Jahrhunderts zu versuchen.

Im Gegensatz zum etablierten, weitgehend europäischen Narrativ, das die Massenverbrechen der ersten mit der Zivilisierung der zweiten Hälfte kontrastiert, zerlegt Wolfrum das Jahrhundert in sechzehn Themen, die er jeweils von Anfang bis Ende verfolgt. Diese Einzelstudien bündelt er wiederum in vier Teile, die dem weberianischen Muster von Politik, Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft folgen. Dieser ungewöhnliche Ansatz befreit seinen Text von dem Ballast einer konventionellen Darstellung der Weltkriege bis zum Kalten Krieg und seiner Überwindung; sie erlaubt es, Themen wie „Naturbeherrschung und Umweltkatastrophen“ oder „Vertreibung und Mobilität“ ernst zu nehmen. Von Deutschland ausgehend, Europa berücksichtigend, aber die gesamte Welt behandelnd, ist Wolfrums Ziel nichts weniger, als „das Jahrhundert umfassender und alles in allem vielleicht gerechter [zu] deuten“ (S. 8).

Die dahinterstehende interpretative Perspektive sieht „die Welt des 20. Jahrhunderts […] in einem permanenten Zwiespalt“ zwischen einer „Horrorgeschichte“ bei gleichzeitig ebenso „bemerkenswerten Verbesserungen“. „Durch die Welt des 20. Jahrhunderts ging ein Riss“, weil sich ihre Entwicklung „räumlich und zeitlich sehr unterschiedlich“ gestaltete (S. 8f.). Dieser Blickwinkel weist eine lineare Katastrophenerzählung ebenso wie eine geradlinige Erfolgsgeschichte zurück und bietet eine postmoderne Collage dramatischer Kontraste. „Der Gedanke ist, dass wir das 20. Jahrhundert bei globaler Betrachtungsweise nicht auf einen einzigen Nenner bringen können, sondern dass die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem vorherrscht.“ (S. 10) Neben der „Herrschaft gewalttätiger politischer Ideologien“ isoliert Wolfrum zwar einige „Basisprozesse“ wie „das dramatische Schrumpfen von Raum und Zeit, die Mobilitätssteigerung von Ideen und Gütern, die Revolution im Kommunikations- und Verkehrswesen, insgesamt eine rasante Beschleunigung auf allen Ebenen des menschlichen Lebens“, führt sie aber dann nicht weiter aus (S. 11). Statt einer übergreifenden Chronologie und einer darauf aufbauenden Gesamtinterpretation beschränkt sich der Autor auf das Bild des „Zwiespalts“, eines permanenten Wechsels von Hell und Dunkel mit endlosen Zwischentönen (S. 15).

Eine solche themenzentrierte Perspektive hat manche Vorteile, da sie Bereichen, die in anderen Darstellungen nur am Rande erwähnt werden, mehr Raum einräumt und es ermöglicht, einige Fragen längsschnittartig zu verfolgen. Bei sattsam bekannten Themen wie den auf nur 24 Seiten skizzierten Weltkriegen bis hin zu den informellen Kämpfen („neuen Kriegen“) der Gegenwart bietet der Text eher begriffliche Reflexionen; bei nicht ganz so oft behandelten Gegenständen wie der Frage der Säkularisierung oder der Wiederkehr religiöser Bewegungen ist die Darstellung stärker beschreibend und informativ. An vielen Stellen kann man den Beurteilungen nur beipflichten – wie der Diskussion des Begriffs Anthropozän (S. 132), der Ironisierung des „New Age“ (S. 257), der Kritik am Auftauchen des „aktiven Nichtwissens“ (S. 283) oder der Verdammung des mörderischen Maoismus (S. 335). Die Schilderung der Ambivalenz medizinischer Entwicklungen von Fortschritten in der Heilung vieler Krankheiten im Gegensatz zum Auftauchen neuer Geißeln wie AIDS oder zum Widerstand gegen Impfungen ist durchaus überzeugend.

Trotzdem hält dieser thematische Ansatz einer Globalgeschichte weniger, als er verspricht, da Wolfrum eher feuilletonistisch vorgeht und sich bewusst an ein breiteres Publikum wendet. Manche Entscheidungen wie ein 14-seitiges eigenes Kapitel für die blockfreien Staaten sind nicht nachvollziehbar, wenn ein ganzes Jahrhundert des Kampfes zwischen Demokratie und Diktatur nur doppelt so viel Platz erhält. Das Kapitel über Genozide und Völkermorde ist im sozialhistorischen Teil angesiedelt – losgelöst von der Diskussion der Kriege, was den entscheidenden Kontext des Holocausts übergeht. Die sonst so eindrucksvolle Darstellung von weltweiter Armut und Unterernährung ist von der Behandlung der demographischen Entwicklungen getrennt, wodurch eine entscheidende Dimension der Kausalität verschüttet wird. Bei Entwicklungen wie Alphabetisierung, sexueller Befreiung, technologischer Innovation usw. verweigert der Text eine Abwägung zwischen befreienden Fortschritten und enttäuschenden Rückfällen. Andere Thesen wie diejenige einer gentechnisch getriebenen vierten industriellen Revolution werden lediglich kurz angedeutet, statt an systematischen Kriterien festgemacht zu werden, die eher nur auf eine dritte, von hoch- und gentechnischen Entwicklungen gemeinsam bestimmte neue Stufe der Industrial Revolution im letzten Drittel des Jahrhunderts hindeuten würden (S. 351). Andere Themen wie internationaler Terrorismus, der sogar im Register fehlt, kommen überhaupt nicht in den Blick oder tauchen allzu kurz auf, wie die Dekolonialisierung oder die Entindustrialisierung.

Wolfrum liefert somit anregende Darstellungen zu interessanten Einzelthemen, ohne jedoch ein tieferes Verständnis für das widersprüchliche 20. Jahrhundert anzubieten. Er schreibt flüssig, mitunter vielleicht allzu glatt über eine Reihe von Entwicklungslängsschnitten wie „Liebesglück und Geschlechtergleichheit“ (S. 223) oder „Holzpflug und Mikrochip“ (S. 345). Er springt mit Leichtigkeit von einer deutschen Kleinstadt zu einer indischen Megastadt und von dort wieder zurück zu einer amerikanischen Metropole. Ebenso variiert er die Chronologie, indem er je nach Thema von der Jahrhundertwende bis ans Ende des Jahrhunderts und dann wieder zurück in die Mitte geht. Dadurch ergeben sich überraschende Einblicke, aber es fehlt eine dahinterliegende ordnende Systematik. Wie Quecksilber taucht der Begriff der Moderne an den verschiedensten Stellen des Textes auf, wird aber nirgendwo eingehender als Grundfrage eines verwirrenden Jahrhunderts behandelt (S. 71, S. 225, S. 267, S. 298, S. 318, S. 360).

„Welt im Zwiespalt“ ist daher selbst ein Spiegelbild der poststrukturalistischen Auflösung von Meistererzählungen, die ähnlich wie in Akira Iriyes und Jürgen Osterhammels „Geschichte der Welt“ nur eine Darstellung spannender Einzelbereiche ermöglicht.1 Denn dem Wunsch nach einer schlüssigen Erklärung der Widersprüche einer „Welt aus den Fugen“ (S. 367, dort mit Fragezeichen) verweigert sich Edgar Wolfrum konsistent, indem er eine Liste ungelöster Gegenwartsprobleme statt einer konzeptionellen Schlussfolgerung anbietet. Am Ende spielt er auf den Beginn von Charles Dickens' Roman „A Tale of Two Cities“ (1859) an, ohne ihn explizit zu zitieren (S. 375): „Das 20. Jahrhundert war das schlimmste Jahrhundert von allen Jahrhunderten, und es war das beste von allen.“

Anmerkung:
1 Siehe Akira Iriye (Hrsg.), 1945 bis heute. Die globalisierte Welt, München 2013 (Bd. 6 der von Iriye und Osterhammel gemeinsam herausgegebenen „Geschichte der Welt“).