H. Noflatscher: Räte und Herrscher

Titel
Räte und Herrscher. Politische Eliten an den Habsburgerhöfen der österreichischen Länder 1480-1530


Autor(en)
Noflatscher, Heinz
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte 161; Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 14
Erschienen
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
DM 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Winkelbauer

Bei der vorliegenden Sozialprosopographie oder Kollektivbiographie der politischen Eliten an den Höfen der Habsburger in Mitteleuropa vom letzten Jahrzehnt der Regierung Kaiser Friedrichs III. bis zum ersten Jahrzehnt der Regierung König Ferdinands I. handelt es sich um die Druckfassung einer 1992 an der Universität Innsbruck eingereichten Habilitationsschrift. Das Buch ist in fünf große Kapitel gegliedert. In der Einleitung skizziert Heinz Noflatscher zunächst die Methode, die er bei der Konstituierung der aus insgesamt 108 Personen ("Spitzenräten") bestehenden Untersuchungsgruppe (107 Männer sowie Königin Anna von Böhmen und Ungarn, die Gemahlin Ferdinands I.) anwandte. Die wichtigsten Kriterien für die Aufnahme in die Gruppe waren "politische Macht und Einfluß bei Hof oder in der Region" (4). Es geht also im wesentlichen um die Inhaber oberster Ämter (Kanzler, Schatzmeister, Hofmeister, Marschall, Oberstkämmerer) sowie um einige Favoriten des jeweiligen Fürsten ohne oberste Ämter an den Höfen des späten Friedrich III. in Wien, im Reich und in Linz, des alten Sigmund von Tirol in Innsbruck, Maximilians I. und des jungen Ferdinand I. im Reich, in Tirol und in Wien. Der zeitliche Rahmen der Untersuchung ergab sich durch die methodisch sinnvolle Konzentrierung auf die Herrscherwechsel und Herrschaftsübergänge der Jahre 1490, 1493 und 1519-1522. Die territoriale Basis der Untersuchung stellen die altösterreichischen Erbländer vor 1526 dar. Im Mittelpunkt der Arbeit steht "der Hof vor allem als Zentrum politischer Entscheidungen" (9). Spitzenpositionen der Stände wurden bewußt ausgeklammert, was im Hinblick auf die programmatische Einbeziehung von Personen mit (politischem) "Einfluß [...] in der Region", also im Land bzw. in der Ländergruppe, zu bedauern ist. Ebenso unberücksichtigt bleibt der Hof Karls V. Etwas problematisch erscheint der Vergleich von Höfen von Kaisern und Königen, die über "zusammengesetzte Monarchien" herrschten, mit dem Hof Sigmunds von Tirol.

Im ersten Kapitel ("Umbrüche. Gruppen und Gestalten") gibt der Autor einen souveränen und pointierten Überblick über die Gruppen, Parteien und Konflikte sowie die einflußreichsten Personen an den Habsburgerhöfen zwischen 1480 und 1530 und deren regionale und nationale Herkunft bzw. Verankerung (Tirol, Österreich, Oberdeutschland, Burgund, Niederlande, Spanien, Italien, unter Ferdinand vereinzelt auch Böhmen und Ungarn). Besonderes Augenmerk wird ihrer Verflechtung mittels Konnubium geschenkt. Zurecht bemerkt Noflatscher (74): "Geschichte der Verwaltung, des frühmodernen Staates erscheint [...] als Geschichte sozialer Netzwerke."

Besonders unter Ferdinand (nach dem Wiener Neustädter Gericht im Juli 1522) kam es zu einer wachsenden Konzentration der Macht am Hof, und zwar nicht zuletzt mittels gezielter Patronage und Verflechtung der politischen Elite (119). Im Zusammenhang mit der Suche nach den Ursachen der Entmachtung Gabriel Salamancas auf dem Augsburger Generallandtag 1525/26 gibt der Autor seiner Überzeugung Ausdruck, der Bauernkrieg sei in den habsburgischen Erbländern "viel stärker als vielleicht bisher gesehen gegen den Hof [Erzherzog] Ferdinands, die Regimentsräte und ihre regionale Klientel gerichtet" gewesen (120). In den späten 1520er Jahren begann am Hof des nunmehrigen Königs von Böhmen und Ungarn eine Ära größerer personeller, institutioneller und geographischer Stabilität.

In den weiteren Abschnitten des Buches wendet sich Noflatscher dem Wechselspiel zwischen Interessengruppen, Faktionen und Räten an den Höfen und in den Ländern einerseits und den Monarchen andererseits in stärker strukturgeschichtlicher Perspektive und zum Teil mit dem Werkzeug der Quantifizierung zu.
Im zweiten Kapitel ("Die Region. Macht und Mobilität") geht er der Herkunft der "Spitzenräte" und den (schwer fassbaren) Spuren eines regionalen Bewußtseins, landsmannschaftlicher Faktionen, regionaler Interessen und regionaler Mobilität der Räte und ihrer Familien nach. Er bedient sich dabei u. a. einer modifizierten Form des von Peter Moraw für das spätmittelalterliche Reich erarbeiteten Modells königsnaher und königsferner Landschaften. Von den 108 Personen der Untersuchungsgruppe stammten knapp 31% aus Schwaben und vom Oberrhein (inclusive Vorderösterreich und Elsass), 24% aus Tirol, 12% aus den innerösterreichischen Ländern (Steiermark, Kärnten, Krain) und gut 9% aus Österreich ob und unter der Enns. Die restlichen 24% verteilen sich auf Franken, die Niederlande, Bayern, Böhmen, Ungarn etc. Unter Ausklammerung der rein regionalen "Ersten Räte" und des Jahrzehnts 1480 bis 1490 verbleibt für die Zeit von 1490 bis 1530 eine Gruppe von 38 Personen, die sich wie folgt zusammensetzt: 11 Schwaben, 5 Tiroler, 4 Innerösterreicher, 4 Österreicher (aus den Ländern ob und unter der Enns) und 3 Franken. Die restlichen 11 verteilen sich auf Mittel- und Niederrhein, Sachsen, Burgund, die Niederlande, die böhmischen Länder, Spanien und Bayern bzw. Salzburg (140).

Noch am Hof des späten Friedrich III., der bekanntlich dem innerösterreichischen Zweig der Leopoldinischen Linie des Hauses Habsburg entstammte, bildeten unter den "Spitzenräten" die Innerösterreicher die größte Gruppe (ca. 25%), am Hof Sigmunds von Tirol dominierten naturgemäß die Tiroler (ca. 45%), am Hof Maximilians die Schwaben und Elsässer (ca. 31%) sowie die Tiroler (ca. 23%). Am Hof des jungen Ferdinand schließlich bildeten die Schwaben (ca. 25%) die größte Gruppe, gefolgt von den Österreichern und Tirolern (mit je ca. 19%) und den Innerösterreichern (ca. 16 %) (141f.). Die österreichischen Länder stellten alles in allem die größte Gruppe der adeligen Räte (37 von insgesamt 73), während viele der bürgerlichen "Techniker" (Kanzler, Juristen, Finanzfachleute) aus den oberdeutschen Reichsstädten stammten (16 von 35) (147).

Langfristig ist zwischen 1480 und 1530 ein Trend der (im Alterswohnsitz sowie in der Familiengrablege zum Ausdruck kommenden) "Einwanderung" von Räten in die Länder Österreich ob und unter der Enns zu beobachten. Während im untersuchten Zeitraum von den alteingesessenen Familien dieser Länder nur die Liechtenstein, Polheim, Puchheim und Schneitpeck führende Positionen an den Habsburgerhöfen besetzten, wanderten acht Familien von ersten Räten ein: unter Friedrich III. die Harrach, Prüschenk und Rogendorf, unter Maximilian die Landau, Meckau und Saurer und unter Ferdinand die Hofmann und die Salamanca-Ortenburg (152-165).

Das kurze dritte Kapitel ("Sozialer Stand") ist der sozialen Herkunft der "Ersten Räte" gewidmet. Unter den insgesamt 108 Ersten Räten befinden sich 44 Vertreter des ritterschaftlichen Adels sowie 34 Bürgerliche, von denen 11 in den Adel aufstiegen (183, 188). Noflatscher konstatiert einen deutlichen Trend von der Dominanz bürgerlicher (zum Teil während ihrer Amtszeit nobilitierter) Räte unter Friedrich III. zur Vorherrschaft des Geburtsadels unter Ferdinand.
Das vierte Kapitel ("Die Familie. Haushalt und Konnubium") befaßt sich eingehend mit den verwandtschaftlichen Bindungen, der konnubialen Verflechtung, dem familialen Denken und familienbezogenen Handeln der Räte, insbesondere der adeligen. Besonders "begehrte Heiratsobjekte" waren Erbtöchter einflußreicher Räte (206, 241f.), aber auch außereheliche Töchter des Fürsten (248f.). Die nicht zuletzt durch die verdichtete Kommunikation am Hof angebahnten Heiratsverbindungen erfüllten eine wichtige Funktion bei der politischen Integration der habsburgischen Länder: "So integrierte der Hofstaat eines Monarchen die politischen Eliten disparater Länder nicht nur durch ihre Anwesenheit und ihre Dienste, wie das vor allem unter den Burgundern der Fall gewesen war und sich auch unter den Habsburgern noch so verhielt: Gerade auch ihre Ehen schlossen die Länder zur politischen Einheit zusammen." (262) Es bildeten sich stark durch die regionale und soziale Herkunft bestimmte Interessengruppen ("Clusters") am Hof und in den Ländern aus. Die den drei Gruppen der schwäbischen Grafen (6 Personen), der niederösterreichischen Herren und Ritter (9 Personen) und des Tiroler Adels (16 Personen) angehörenden Räte waren jeweils zu rund 75% untereinander eng verwandt (275f.).
Bemerkenswert ist die Feststellung, daß die verwandtschaftliche Kohäsion unter den Adeligen etwa dreimal größer war als jene der Bürgerlichen (277). Bei den weniger auf Patronage und Nepotismus angewiesenen Bürgern wogen offensichtlich "Professionalität" und "Leistungsbereitschaft" nicht selten das Fehlen eines karrierefördernden Konnubiums auf (286).

Im fünften und letzten Kapitel ("Bildung, Beruf und Karriere") wendet sich der Autor Fragen der Professionalisierung und Bürokratisierung am Hof, der konkreten Arbeit der Räte, dem Verhältnis von Beruf und Amt, der Altersstruktur und Verweildauer am Hof sowie den verschiedenen Mustern von Karrierewegen zu. Bei den bürgerlichen Spitzenräten war der Abschluß eines Universitätsstudiums ein wichtiges Qualifikationskriterium: knapp 53% von ihnen waren Graduierte, jedoch nur rund 6% der adeligen, und zwar mit einer einzigen Ausnahme ausschließlich Kleriker (303). Noflatscher unterscheidet vier zentrale Karrierefaktoren: 1. Kompetenz (z. B. humanistische Bildung, Erfahrung im Finanzwesen oder im höfischen Zeremoniell), 2. Verdienst, 3. Patronage und 4. "die verwandtschaftliche Verflechtung, die schützende Hand einer mächtigen Familie oder ihrer nächsten Schwägerschaft" (370). Letztere war und blieb eine Domäne des Adels: "Karriere durch Konnubium eröffnete am bequemsten den Weg in die Ämter." (373)
Neben einer Zusammenfassung ("Schluß") enthält das Buch noch einen tabellarischen Anhang, in dem man leider echte Kurzbiographien der 108 die Untersuchungsgruppe konstituierenden Räte vergeblich sucht, sowie ein Quellen- und Literaturverzeichnis und ein Personen- und Ortsregister.
Die Arbeit steht einerseits in der Tradition der Schule Peter Moraws 1, andererseits in jener der französischen und angelsächsischen politischen und Sozialgeschichte des Fürstenhofes als "Patronagebörse" und "point of contact" zwischen der Krone und den politischen Führungsschichten 2. Zu den großen Vorzügen des Buches gehört die eingehende Befassung mit mentalitätsgeschichtlichen Fragen. Dieser inhaltliche Schwerpunkt wird nicht zuletzt durch die gegenüber den früheren Jahrhunderten günstigere Quellenlage, vor allem die reiche Korrespondenz zumindest einiger der behandelten Personen, ermöglicht. Als besonders ergiebig erwiesen sich in dieser Hinsicht die Familienarchive der ersten Räte in Österreich, Deutschland, Italien und der Tschechischen Republik. Die Probleme, die das häufige Reisen und Unterwegssein des Hofes mit sich brachten, erhellen zum Beispiel schlagartig aus einer Äußerung von Blasius Hölzl, des langjährigen (bis zu seinem Tod im Jahre 1526) Leiters der Innsbrucker Hof- bzw. Rechenkammer, der 1511 als etwa Vierzigjähriger betonte, er habe es satt, sein Leben lang ein "zygeyner" zu sein (207). Anton von Thun entschloß sich wegen schlechter eigener Erfahrungen dazu, seine Söhne Jakob und Jorglein nicht an den Hof zu bringen und begründete dies 1517 in einem Brief an seinen Sohn Sigmund mit dem Satz: "Auff die herrn dienst hab ich vyll gehofft, aber wenig ersprossen." (230)

Ab und zu neigt Noflatscher zur Verwendung einer anachronistischen Terminologie, ohne die betreffenden Begriffe unter Anführungszeichen zu setzen und dadurch ihren Einsatz als Stilmittel bzw. Pointe zu charakterisieren. So werden unverheiratete Räte als "Singles" bezeichnet, die alten Eltern des Kardinals Matthäus Lang sind "Senioren" (228), und "Spitzenräte", die sich nicht über eine längere Laufbahn hinaufgedient haben, werden als "Quereinsteiger" bezeichnet (362, 379). Im Zusammenhang mit der Entstehung eines niederösterreichischen Landesbewußtseins spricht Noflatscher von der "Genese eines ethnischen Bewußtseins" (134f.) - auch das eine nicht sehr glückliche Formulierung. An einer Stelle findet sich die wohl aus "Memento" und "Monumentum" zusammengesetzte hybride Wortschöpfung "Mementum" (15). Für den einen oder anderen in den Fußnoten verwendeten Kurztitel sucht man im Literaturverzeichnis vergeblich nach der Auflösung (aufgefallen ist mir "Bulst/Genet, Medieval Lives" in FN 46 auf S. 12 und "Fuchs, Rottal" in FN 27 auf S. 263). FN 7 auf S. 331 ("1527 I 1") ist ohne Kenntnis von FN 21 auf S. 328 kryptisch.

Aber diese Kleinigkeiten können bestenfalls die Politur von Noflatschers "Meistersstück" ein paar Kratzer zufügen. Alles in allem handelt es sich um einen Meilenstein in der Erforschung der Habsburgerhöfe um 1500. Abschließend sei der Wunsch deponiert, Noflatscher möge seine Ankündigung, die von ihm erstellten "Arbeitsbiogramme" der 108 "Spitzenräte" (und möglichst auch der Angehörigen der zweiten und dritten Reihe der habsburgischen Räte) "gelegentlich an anderer Stelle" zu publizieren (12), möglichst rasch realisieren (am besten in Form einer Datenbank).

Anmerkungen:
1 Siehe jetzt das monumentale Werk von Paul-Joachim Heinig: Kaiser Friedrich III. (1440-1493). Hof, Regierung und Politik (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters, Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii, 17), Köln 1997.
2 Vgl. etwa das an die Forschungen von Geoffrey R. Elton, Conrad Russell, David Starkey u. a. anknüpfende Buch von Ronald G. Asch: Der Hof Karls I. von England. Politik, Provinz und Patronage 1625-1640 (Norm und Struktur, 3), Köln-Weimar-Wien 1993. Zu den Höfen der österreichischen Linie des Hauses Habsburg in der Frühen Neuzeit siehe zuletzt den zusammenfassenden Problemaufriss von Jeroen Duindam: The court of the Austrian Habsburgs: locus of a composite heritage. In: Mitteilungen der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Jg. 8 (1998), Nr. 2, S. 24-58.

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