B. Kuhn-Chen: Geschichtskonzeptionen griechischer Historiker

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Titel
Geschichtskonzeptionen griechischer Historiker im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr.. Untersuchungen zu den Werken von Appian, Cassius Dio und Herodian


Autor(en)
Kuhn-Chen, Barbara
Reihe
Europäische Hochschulschriften: Reihe 15, Klassische Sprachen und Literatur 84
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
402 S.
Preis
€ 60,30
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kordula Schnegg, Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Die Geschichtswerke von Appian, Cassius Dio und Herodian wurden lange Zeit von der älteren Forschung weitgehend negativ beurteilt.1 In den letzten Jahrzehnten hat sich das Urteil über den Wert der Werke zwar geändert, trotzdem werden sie auch heute noch hauptsächlich als Steinbruch für die Alte Geschichte herangezogen, ohne dass die konzeptionelle Fundierung der Geschichtsbetrachtung der drei griechischen Historiker hinreichend in den Blick genommen wird. Kuhn-Chen legt mit ihrer Dissertation an der Justus-Liebig-Universität Gießen nun eine Arbeit vor, in der die Geschichtskonzeptionen der drei Autoren erstmals systematisch und vergleichend untersucht werden.

In der „Einleitung“ (S. 13-30) setzt sich Kuhn-Chen mit grundsätzlichen Fragen zum Geschichtsbewusstsein und zur Geschichtstradierung auseinander. Dabei bezieht sie sich unter anderem auf Überlegungen von Assmann, Rüsen und Veyne.2 Die komprimierte Ausführung zeugt von einem fundierten Wissen Kuhn-Chens über Historiographie und ihre Bedeutung in der Antike und Moderne, sie macht es jedoch dem Lesepublikum nicht immer leicht, dem Gedankengang zu folgen. Dennoch ist der methodische Ansatz ihrer Analyse klar zu fassen: Um das Geschichtsbild von Appian, Cassius Dio und Herodian ausarbeiten zu können, untersucht Kuhn-Chen die HandlungsträgerInnen der Geschichte und die Antriebskräfte menschlichen Handelns, bei denen sie zwischen erstens endogenen (Tugend/Laster/Emotion), zweitens exogenen (Verfassungsform/Krieg und Bürgerkrieg) und drittens metaphysischen (Götter/Prodigien usw.) Kräften unterscheidet. Im Kapitel "Forschungsstand" (S. 31-40) bietet Kuhn-Chen einen knappen Forschungsüberblick. Sie führt die wichtigsten wissenschaftlichen Publikationen an, die sich mit den Geschichtsdarstellungen der drei Autoren beschäftigen, und setzt sich mit diesen kritisch auseinander. Dabei wird auf Forschungsschwerpunkte hingewiesen.

Im Folgenden ist jedem der drei antiken Autoren ein Kapitel gewidmet. Chronologisch gereiht steht die Untersuchung des Werkes Appians (S. 41-129) am Anfang. Diese zeigt, dass Appian die negativen Antriebskräfte menschlichen Handelns von Thukydides übernommen hat. Auch in seiner Beurteilung der Bürgerkriege, die er als Inbegriff der moralischen Entartung wertet, ist ein starker Thukydideischer Einfluss auszumachen. Kuhn-Chen hält fest, dass Appian, indem er in seinen Emphylia Bezug auf Thukydides nimmt, die Römische Geschichte "als Wiederholung der griechischen Vergangenheit" (S. 127) darstellt. Appian greift auch auf Herodot zurück. Bereits der Aufbau seines Werkes, welches zum Teil nach Ethnien gegliedert ist, weist darauf hin. Kuhn-Chen führt ebenfalls die Vorstellung von einer Gottheit, die aufgrund von Neid und Zorn Menschen bestraft, auf Herodot zurück. Schließlich sind im Appianschen Werk noch allgemein verbreitete Vorstellungen des 2. Jahrhunderts n.Chr. zu finden, die zum Teil im Tugendkanon und zum Teil in den religiösen Vorstellungen fassbar sind. Die Analyse der exogenen Antriebskräfte lassen Kuhn-Chen zu dem Ergebnis kommen, dass Appian im Prinzipat eine notwendige Entwicklung sieht. Damit bestätigt sie die breite Forschungsmeinung.3

Die Untersuchung der HandlungsträgerInnen ergibt, dass herausragende Individuen großen Einfluss auf den Geschichtsverlauf nehmen können. Wenig wohlwollend steht Appian dem Volk und dem Heer als Entscheidungsträger gegenüber. Bei den Frauen, die Kuhn-Chen kollektiv betrachtet, lassen sich ihrer Untersuchung zufolge typische weibliche Verhaltensmuster und Handlungsmotivationen feststellen. Leider geht Kuhn-Chen viel zu ungenau auf die Frauendarstellungen ein. Gerade Appian bietet aber im Vergleich zu anderen antiken Historikern ein vielfältigeres Bild von ihnen.4

Die Untersuchung des Werkes von Cassius Dio (S. 131-247) führt Kuhn-Chen zu dem Ergebnis, dass er sich stilistisch und zum Teil auch konzeptionell an Thukydides anlehnt. Von ihm übernimmt Dio vor allem die negativen Antriebskräfte menschlichen Handelns, die er im einzelnen jedoch modifiziert. Den Lastern setzt er einen Tugendkanon entgegen, der zum Teil auf die platonischen Kardinaltugenden zurückgeht. Bedeutend für das Geschichtsbild Dios ist die Konstanz der menschlichen Natur, die durch Bildung und Erziehung "zwar gebessert, aber nicht grundlegend verändert" (S. 155) werden kann. In seiner Darstellung metaphysischer Kräfte kann Kuhn-Chen vor allem zeitgenössische Vorstellungen ausmachen. Die Untersuchungsergebnisse zur römischen Verfassungsform als bedeutendste exogene Antriebskraft menschlichen Handelns bestätigen die in der Forschung vorherrschende Meinung, dass die Alleinherrschaft von Dio positiv bewertet ist.5 Als HandlungsträgerInnen bevorzugt Dio Individuen. Die Beurteilung von großen Menschengruppen fällt überwiegend negativ aus, obwohl sie einen großen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte nehmen können. Der Senat wird nicht eindeutig bewertet. Frauen und kaiserliche Freigelassene charakterisiert Dio überwiegend negativ, vor allem wenn sie in die Politik eingreifen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es aus der Sicht der Rezensentin wünschenswert gewesen wäre, wenn Kuhn-Chen in ihrem Unterkapitel "Frauen" (S. 238-240) diese als Handlungsträgerinnen bezeichnet hätte (S. 238: "[...] treten als Handlungsträger zumeist einzelne von ihnen auf").

Der letzte Autor, dessen Werk Kuhn-Chen in ihrer Arbeit analysiert, ist Herodian (S. 249-327). Bereits im Programm, das Herodian am Anfang seines Werkes vorstellt, ist ein Bezug zu Herodot und Thukydides auszumachen.6 Kuhn-Chen kann weiterhin nachweisen, dass Herodian die positiven endogenen Kräfte vom hellenistischen Herrscherideal, die negativen Kräfte sowie die Affekte dagegen von Thukydides übernommen hat. Sie unterstreicht, dass Herodian typische Nationalcharakteristika als Erklärungsmuster für die historische Entwicklung einsetzt. Den Römern wird indes keine spezielle Eigenschaft zugeschrieben. Ihr Erfolg wird einzig durch die Schwäche ihrer Gegner erklärt. Wie Appian und Cassius Dio konzentriert auch Herodian seine Darstellung auf Individuen, vor allem auf die Kaiser. Dem Senat misst Herodian einige Bedeutung bei, das Volk zeichnet er vor allem als emotionsgetriebene Masse mit geringem Einfluss auf den Geschichtsverlauf. Das Heer nimmt zwar Einfluss auf die Thronnachfolge, kann jedoch kaum vernünftig über die eigenen Interessen entscheiden. Die Notwendigkeit einer idealen Führungspersönlichkeit zeichnet sich im Werk deutlich ab. Kuhn-Chen hält fest, dass Herodians Geschichtsdarstellung auf den "Kontrast zwischen der geschichtlichen Realität und dem Ideal des sittlich vollkommenen Kaisers" (S. 326), der durch Marc Aurel repräsentiert wird, ausgerichtet ist. Das Bild des sittlichen Ideals wird dabei aus der griechischen Literatur entnommen. Kuhn-Chen kommt zu dem Ergebnis, dass Herodian nicht nur die Darstellung Marc Aurels schematisiert und idealisiert, sondern auch vergangene Ereignisse durch das augenblickliche Erinnerungsinteresse umdeutet - "die Gegenwart (wird) zur Neuauflage der Vergangenheit" (S. 327). Mit dem Porträt Marc Aurels hat Herodian ein normatives Gedächtnis geschaffen.

Im als "Schluß" betitelten Kapitel (S. 329-343) bietet Kuhn-Chen noch einmal einen umfassenden Überblick über ihre Untersuchungsergebnisse. Sie hält fest, dass alle drei Autoren auf verschiedene Geschichtskonzeptionen zurückgreifen und diese zu einem eigenen Geschichtsbild verbinden. Appian, Cassius Dio und Herodian bieten ein einheitliches Modell, anhand dessen die römische Geschichte interpretiert wird. Kuhn-Chen behauptet mit Recht, dass aus diesem Grund "der Vorwurf des Epigonentums, der ihnen von der älteren Kritik oft gemacht wurde", zurückgewiesen werden muss (S. 329). Zusätzlich bietet dieses Kapitel noch eine prägnante Zusammenfassung über die Darstellungsabsichten von Appian, Cassius Dio und Herodian sowie über die Funktionen ihrer Geschichtsschreibung. Im "Index" (S. 365-402) sind die wichtigsten Quellenangaben aufgelistet.

Kuhn-Chen hat in beeindruckender Weise das Geschichtsbild von Appian, Cassius Dio und Herodian aus ihren Werken erschlossen. Zwar liefert ihre Studie für manche Aspekte (wie die Einstellung Appians und Dios zum Prinzipat) keine neuen Ergebnisse, ihre Bedeutung liegt jedoch in der umfassenden Analyse der drei Geschichtswerke und deren Einordnung in die Tradition der antiken Historiographie. Die zahlreichen Stellenhinweise attestieren Kuhn-Chen ein intensives Quellenstudium, welches weit über die hier untersuchten Autoren hinausgeht. Kurze Zusammenfassungen, wie sie am Ende eines jeden Kapitels geboten werden, präzisieren die Untersuchungsergebnisse. Durch ihre detaillierte Untersuchung ist es Kuhn-Chen gelungen, Appian, Cassius Dio und Herodian als Historiker gerecht zu werden. All jenen, die sich mit der antiken Historiographie auseinandersetzen wollen, ist dieses Buch besonders zu empfehlen.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Schwartz, Eduard, Appianus, in: RE II.1 (1895), Sp. 216-237; Schwartz, Eduard, Cassius Dio Cocceianus, in: RE III.2 (1899), Sp. 1684-1722; Dopp, Ernst, Herodianus, in: RE VIII.1 (1912), Sp. 954-959. Für negative Kritiken neueren Datums vgl. z.B. Brandt, Hartwin, Herodian, in: Metzler Lexikon antiker Autoren, Stuttgart 1997, S. 304f.
2 Vgl. z.B. Assmann, Jan, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Assmann, Jan; Hölscher, Tonio (Hgg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 9-19; Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999; Rüsen, Jörn, Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt am Main 1990; Veyne, Paul, Geschichtsschreibung - Und was sie nicht ist, Frankfurt am Main 1990.
3 Kuhn-Chen geht im Kapitel "Forschungsstand" auf diese verbreitete Forschungsmeinung ein (S. 34) und weist gleichzeitig auf den Mangel bisheriger Untersuchungen hin, der sich vor allem darin zeigt, dass die Geschichtsauffassung Appians noch nicht umfassend untersucht worden ist. Eine pro-monarchische Tendenz im Appianschen Werk erkennen z.B. Hahn, István, Appian und Rom, in: ANRW II 34.1 (1993), S. 364-402; Hose, Martin, Erneuerung und Vergangenheit. Die Historiker im Imperium Romanum von Florus bis Cassius Dio (Beiträge zur Altertumskunde 45), Stuttgart 1994.
4 So könnte z.B. eine genauere Untersuchung der durchaus positiven Darstellung Kleopatras durch Appian möglicherweise einen Hinweis dafür liefern, dass auch weibliche Individuen einen positiven Einfluss auf den Geschichtsverlauf nehmen können.
5 Kuhn-Chen listet die einzelnen Vertreter im Kapitel "Forschungsstand" (S. 35) auf: z.B. Espinosa Ruiz, Urbano, Debate Agrippa - Mecenas en Dion Cassio. Repuesta senatorial a la crisis del Imperio Romano en la época severiana, Madrid 1982; Bering-Staschewski, Rosemarie, Römische Zeitgeschichte bei Cassius Dio (Bochumer historische Studien, Alte Geschichte 5), Bochum 1981; Hose (wie Anm. 3).
6 Ähnlich Zimmermann, Martin, Kaiser und Ereignis. Studien zum Geschichtswerk Herodians (Vestigia 52), München 1999. Auch Zimmermann setzt sich in seiner Monografie näher mit Herodians Prooimion auseinander. In seiner Analyse zeigt er ebenfalls die Anlehnung des Autors an Herodot (S. 95) und Thukydides (S. 17f.) auf, auch wenn dies nicht so explizit wie bei Kuhn-Chen erfolgt.

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