D. Harth: Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften

Titel
Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften.


Autor(en)
Harth, Dietrich
Erschienen
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 34,77
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Zahlmann, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität

Der Begriff des Gedächtnisses ist seit einigen Jahren zu einem häufig verwendeten Terminus in den Geistes- und Kulturwissenschaften avanciert. Im Unterschied zu den meisten Veröffentlichungen, die sich in inflationärer Weise des Gedächtnisbegriffs bedienen - und geradezu als Kritik an ihnen zu lesen - nähert sich Dietrich Harths Veröffentlichung intelligent und inspirierend den komplexen Anwendungsmöglichkeiten gedächtnistheoretisch geleiteter Kulturanalysen. An mehr als einer Stelle des Sammelbandes wird deutlich, daß eine durchdachte Anwendung des Gedächtnisbegriffs nicht als ein bloßer terminologischer "Kostümwechsel" (49) mißverstanden werden darf: In den Fallstudien des Literaturwissenschaftlers werden verschiedene kulturelle Gedächtnisinhalte deshalb nicht lediglich mit einem neuen Etikett dem Auf und Ab wissenschaftlicher Moden angepaßt, sondern stets hinsichtlich ihrer aktuellen Bedeutung für gegenwärtige Diskurse kultureller Erinnerung und die sie untersuchenden Wissenschaftsbereiche überprüft.

Bei den in dem Band zusammengestellten neun Beiträgen handelt es sich um eine Zusammenstellung bereits veröffentlichter (und zum Teil erneut überarbeiteter) Aufsätze. Die Heterogenität der hierbei vorgestellten Themen und wissenschaftlichen Ansätze macht zweifellos den Reiz der Veröffentlichung aus; wird doch das Spannungsfeld aus den Begriffen "Kultur" und "Gedächtnis" weit geöffnet und von verschiedenen Perspektiven vorgestellt. Ohne der Vielzahl der dem Leser vorgestellten Einzelergebnisse und Themen im einzelnen gerecht werden zu können, sollen im folgenden die zentralen Achsen der gedächtnistheoretischen Perspektive des Autors skizziert werden.

Im ersten Beitrag wird ausgehend vom menschlichen Körper und der Ikonographie seines aufrechten Gangs die These vertreten, Kultur als Verkörperung aufzufassen. Bereits in dem hiermit implizit einhergehenden Gedanken, die Entschlüsselung einer Lesbarkeit des Körpers als eine kulturell vermittelte Gedächtnisleistung interpretieren zu können, zeigen sich die den Band durchziehenden Fäden von "Gedächtnis" und "Kultur": Das "Kriterium der 'Lesbarkeit' [bezeichnet; SZ] verschiedene Möglichkeiten, das Disparate in begründeter Weise und unter Vorwegnahme eines hypothetischen Ganzen zu verknüpfen. Ist das, was wir als die Kultur einer Gesellschaft in ihrer Totalität zu erfassen suchen, doch komplex genug, um den Gebrauch der Metapher des Geknüpften ... die Berechtigung nicht zu versagen." (27).

In den folgenden Beiträgen, die sich verschiedenen kultur- und literaturwissenschaftlichen Themen widmen, werden hiervon ausgehend beide Begriffe teils unabhängig voneinander, teils explizit miteinander verbunden diskutiert (wie die Analyse des Assmannschen Konzept eines kulturellen Gedächtnisses eindrucksvoll verdeutlicht (104ff.)), und bleiben selbst bei den ins Detail vorstoßenden Untersuchungen als theoretische Bezugsgrößen stets erkennbar.

Harth bietet in den einzelnen Kapiteln eine Vielzahl von praktischen Umsetzungen einer in der Vorbemerkung vorgestellten Gedankenspielerei: Der Möglichkeit, den Begriff Kulturwissenschaft auch umgekehrt - als Wissenschaftskultur - lesen zu können. Mit etwas Phantasie kann der Leser sogar eine Art "organische" Klammer um die einzelnen Beiträge der Veröffentlichung erkennen: Steht im ersten Kapitel mit der Ikonographie des aufrechten Gangs, der Hautbemalung, der Masken etc. der Körper des lebendigen Menschen im Zentrum kultureller Produktion, so ist es im letzten Beitrag der Tote, dem in Zeugnissen der Kultur gedacht wird ("Wo vom Tod die Rede ist, sind die Bilder unserer Kultur die wahren Platzhalter erinnernder Vergegenwärtigung." [271]). Selbstverständlich würde es zu kurz greifen, wenn man davon ausginge, Harth stelle den Körper ins das Zentrum seiner Betrachtungen. Dieser dient in den genannten Beiträgen vielmehr als phänotypischer Einstiegspunkt in eine Genotypik kulturellen Erinnerns. Diese entwickelt und überprüft er vor dem Hintergrund theoretischer Überlegungen anderer Verfasser, die dem Leser als erläuterndes Zitat, in den Grundzügen ihrer Konzeption (Plessner, Dilthey) oder im Rahmen einer Fallstudie (Herder, Nietzsche) vorgestellt werden. Es ist hierbei eine besondere Qualität der Veröffentlichung von Dietrich Harth, die Funktion fremder Thesen innerhalb des eigenen Ansatzes nicht als bloßes Stichwort zu kennzeichnen, sondern in einer präzisen Skizze zu verdeutlichen. Hierdurch wird dem Leser der Freiraum für eine eigenständige Auseinandersetzung mit den jeweiligen theoretischen Positionen eröffnet.

Die Möglichkeiten und Grenzen einer praktischen wissenschaftlichen Umsetzung der theoretischen Konzepte von Gedächtnis und Kultur läßt Harth ebensowenig außer Acht wie eine scharfe Abgrenzung der Kulturwissenschaften von anderen Fächern des universitären Kanons, besonders der Geisteswissenschaften. Zugleich ist für den Leser eine wissenschafts- und gedächtnistheoretische Standortbestimmung des Verfassers möglich, die mit dem Begriff einer interdisziplinären Literaturwissenschaft verbunden werden kann. Harth selbst bezeichnet seine Aufgabe als Wissenschaftler in einem Beitrag mit dem englischen Begriff des "remembrencer" (126), des Schuldeneintreibers: Die Verbindlichkeiten, an die der Autor erinnert, sind jedoch weniger die konkreten Gedächtnisinhalte selbst, sondern vielmehr die Notwendigkeit, Erinnerungen (und hierzu zählen auf einer Metaebene eben auch die Themen und Ergebnisse wissenschaftlicher Analysen) für die Bedürfnisse des erinnernden Rezipienten nutzbar zu machen.

Es ist unübersehbar, daß sich Harth seine Ausführungen vor dem Hintergrund des Konzepts eines kulturellen Gedächtnisses formuliert, wie es von Aleida und Jan Assmann in den vergangenen Jahren entwickelt wurde.1 Die erkennbare Eigenständigkeit seines Standpunktes wird hierbei nicht durch eine Kritik der vorgestellten Positionen deutlich, sondern durch vor ihrem Hintergrund erfolgende Aktualisierungen anhand übersichtlicher Fallstudien. Harth, und hier wiederholt sich die in der Veröffentlichung deutliche werdende Verbindung aus wissenschaftlicher Analyse von Kultur einerseits und der Selbstwahrnehmung von Wissenschaft als Teil kultureller Diskurse andererseits, analysiert nicht allein die Chancen einer wissenschaftlichen Anwendung von Gedächtnisansätzen, sondern schreibt mit seiner Veröffentlichung ohne Zweifel den gedächtnistheoretischen Diskurs fort.

Anmerkung:
1 Vgl. zum Konzept des kulturellen Gedächtnisses die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann; vor allem Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisse, München 1999.

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