P. Riedl: Faktoren des historischen Prozesses

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Titel
Faktoren des historischen Prozesses. Eine vergleichende Untersuchung zu Tacitus und Ammianus Marcellinus


Autor(en)
Riedl, Petra
Reihe
Classica Monacensia 25
Erschienen
Anzahl Seiten
442 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Schmal, Hannover

Petra Riedl untersucht in ihrem Buch die wirkenden Kräfte der Geschichte, wie sie von den beiden bedeutendsten nachklassischen lateinischen Historikern verstanden werden und wie diese sie in ihren Geschichtsbetrachtungen und Geschichtsbildern realisieren. Die Arbeit, ursprünglich eine Dissertation bei Werner Suerbaum in München (2000), setzt ihren Schwerpunkt in der Betrachtung des Tacitus, aus dem die Arbeit gleichsam herausgewachsen ist.

Ammian knüpfte in seiner Darstellung bekanntlich an Tacitus an und präsentierte sich auch formal und (in geringerem Maße) gedanklich als sein Nachfolger oder doch als weiterer Traditionsbestandteil der senatorischen Geschichtsschreibung. Deshalb bietet sich der Vergleich an, und Riedl wirft die klassische Frage auf, "inwiefern hier wirklich ein Abhängigkeitsverhältnis vorliegt bzw. inwieweit man Ammian als wahren Nachfolger des Tacitus bezeichnen kann" (S. 13). Gegenüber vergleichbaren Arbeiten, die eher formale und literarische Schwerpunkte gesetzt hätten, will Riedl eine "Perspektive generellerer Art" einnehmen. (S. 15) Zwar soll die Frage nach dem unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnis nicht das primäre Thema der Arbeit sein, doch wird deutlich, dass hier am ehesten eine Einbindung in die Forschungsdiskussion erfolgt. Um das Terrain klarer abzustecken, beschränkt sich die Verfasserin auf die Historien des Tacitus sowie bei beiden Autoren auf die ohnehin sehr dominanten Kriegs- und Bürgerkriegsgeschehnisse. Die Beschränkungen sind sinnvoll und notwendig, auch wenn die Bewertung der Historien durch eine stärkere Berücksichtigung der Annalen gewiss manche Nuancierung erfahren hätte, doch dazu unten mehr.

Nach Analyse des Proömiums hebt Riedl vier Komponenten hervor, "die für Tacitus im Rahmen einer abstrakten Geschichtskonzeption eine Rolle spielen dürften: Eine historische im allgemeineren Sinne (Kriegsereignisse), eine moralische (mores), eine politische (Principat) und eine metaphysische (höhere Mächte). Man kann davon ausgehen, daß die Art der Darstellung des geschichtlichen Prozesses in den Historien diese Komponenten sowie ihre wechselseitige Beziehung näher erhellen wird" (S. 30). Das ist wenig originell, taugt aber als Grundlage für alles weitere. Der folgende Fragenkatalog präzisiert das Vorgehen und wird in der Zusammenfassung (S. 233ff.) wiederaufgenommen werden, wo zugleich die Grundlagen der Arbeit an Ammian formuliert sind.

Zunächst aber untersucht Riedl die "geschehenswirksamen Faktoren" bei Tacitus (S. 32-127). In einem ersten, zweifellos zu lang geratenen Unterkapitel analysiert sie das Historien-Proömium und die Folgekapitel. Die abschließenden vier Punkte bieten keine Überraschungen:
"1. Tacitus führt ein bestimmtes historisches Geschehen, wie hier die Machtübernahme Othos, auf eine ganze Reihe von verschiedenen Faktoren zurück.
2. Sein Blick richtet sich dabei in erster Linie auf personale Elemente, auf Gruppen und einzelne, die speziell unter der Perspektive bestimmter Grunddispositionen hervortreten.
3. Wichtig ist, daß diese Elemente nicht für sich stehen, sondern stark aufeinander bezogen erscheinen. Neben den Elementen selbst sind also auch deren Relationen beachtenswert.
4. Der Einfluß dieser Elemente auf den historischen Prozeß gestaltet sich dabei offenbar in unterschiedlicher und vielschichtiger Weise" (S. 46).

Anschließend trennt Riedl zwischen "Kollektiven und ihren Merkmalen" (S. 47-72) einerseits sowie "Individuen und ihren Merkmalen" (S. 72-120) anderseits. Die Betonung der Kollektive und ihrer Gefühle bei Tacitus ist nicht neu, bemerkenswert ist allerdings der Vergleich mit nichtrömischen Kollektiven, der u.a. erbringt, dass diese "mit den römischen in wesentlichen Merkmalen übereinstimmen" (S. 70). Außerdem weist sie zutreffend darauf hin, dass Personen öfters die Eigenschaften ihrer Anführer, vor allem der Principes, annehmen, man könne hier verschiedentlich von "regelrechten Gruppencharakteristika" sprechen (S. 119). Im Folgekapitel stellt Riedl in großer Ausführlichkeit die einzelnen Handlungsträger und ihre wesentlichen Eigenschaften vor (audacia, temeritas; ratio, consilium; metus, suspicio usw.). Sie unterstreicht, dass es eher die negativen Eigenschaften von Personen sind, die hervortreten. Über Sieg und Niederlage entscheiden zumeist Scheitern und Versagen, weniger oder gar nicht dagegen der Erfolg des Tüchtigen.

Abgeschlossen wird dieser erste Teil der Untersuchung durch ein - nun wiederum etwas zu kurzes - Kapitel über "Sekundäre und potentielle geschehenswirksame Faktoren" (S. 120-127), in denen u.a. "Militaria", "Information" und "Meteorologische und geographische Elemente" vorgestellt werden - nicht jedoch der Zufall, davon wird an anderer Stelle noch zu reden sein. Die Kernaussage dieses ersten Teils der Arbeit: "Tacitus sieht das Geschehen im großen offenbar nicht von punktuellen, oft zufälligen Gegebenheiten abhängig [...] Es ist statt dessen eine ganze Reihe von Faktoren daran beteiligt, die in einem komplexen Zusammenspiel den vorliegenden geschichtlichen Verlauf in seiner konkreten Form zustande kommen lassen. Da dieser Verlauf in erster Linie als das Ergebnis menschlichen Verhaltens angesehen wird und das menschliche Verhalten wiederum auf überwiegend konstanten inneren Dispositionen und Haltungen beruht, entsteht der Eindruck einer längerfristigen Entwicklung, die schließlich in bestimmten Ereignissen gipfelt." (S. 126f.)

Wenn nun Riedl daran geht, das historische Geschehen bei Tacitus aus einer eher überpersonalen Perspektive darzustellen, so kommt sie - folgerichtig und zutreffend - zu dem Eindruck, dass historisches Geschehen bei Tacitus mehr als nur die Summe einzelner Handlungen und Zufälle ist. Kollektive und Einzelpersonen wirkten in entscheidenden Augenblicken "nicht durch spontane und willkürliche Handlungen, sondern ihre Aktionen sind langfristig motiviert durch bestimmte psychische Zustände oder charakterlich-moralische Dispositionen, die immer wieder zum Tragen kommen" (S. 153). Das Geschehen laufe so zunehmend unausweichlich auf eine bestimmte Entscheidung zu. Der "Fortschritt des historischen Prozesses" stelle sich damit als das "äußerst plausible Ergebnis eines Zusammenspiels verschiedener, überwiegend konstanter Faktoren dar, deren Wurzeln weit früher zu suchen sind" (S. 157). Bemerkenswert ist die Frage nach "alternativen Geschehensverläufen" (S. 157-170), wobei nicht ganz klar wird, wozu Riedl ausgerechnet die Existenzberechtigung dieser so einleuchtenden Fragestellung so umfangreich mit Hilfe der Sekundärliteratur zu rechtfertigen sucht. Schließlich ist es ja nicht sie selbst, die "ungeschehene Geschichte" aufspüren will, sondern sie sucht dieselbe bei ihrem literarischen Betrachtungsgegenstand. Die Ergebnisse sind dann allerdings geringfügig - was die These von der "Zwangsläufigkeit" des Geschehens bei Tacitus durchaus noch stärken könnte, auch wenn Riedl dies hier gar nicht im Sinn hat.

Man kann die Handlung und ihre Protagonisten nicht nur aus einer literarischen Perspektive betrachten, es ist schon auch das Geschehen selbst, der Bürgerkrieg, der eine Eigendynamik entwickelt. In einem der stärksten Kapitel analysiert Riedl, in fruchtbarer und gründlicher Anlehnung an Christian Meier,1 den Bürgerkrieg als "autonomen Prozeß". Dieser sei "eine den Intentionen der Beteiligten gegenüber eigenständige, gerichtete Bewegung" (S. 186); er "reproduziert, stabilisiert und steigert seine Ausgangsbedingungen" (S. 186) und gewinnt "Eigengesetzlichkeit" (S. 187). Wenn man diese Kategorien auf den Bürgerkrieg bei Tacitus anwendet, wird klar, wie schwer es ist, im Prozess zwischen Ausgangspunkt und Ergebnis zu unterscheiden: das "Henne-Ei-Problem." (S. 186) Das sind nützliche Erörterungen, die zeigen, wie sinnvoll es sein kann, wenn Literatur- und Geschichtswissenschaften sich strukturelle Kategorien verfügbar machen. Bedenklich ist allerdings das Ansinnen Riedls, dem Tacitus selbst dieses moderne Konzept unterzuschieben: "Es ist keineswegs selbstverständlich, daß ein antiker Geschichtsschreiber seiner Darstellung derartig komplexe Erklärungsmodelle zugrunde legt, wie sie nach heutiger Terminologie in den Kategorien des 'Prozesses' und spezieller noch des 'autonomen Prozesses' vorliegen." (S. 189) Wir selbst sind es natürlich, die erst dem historischen Geschehen und dann dem Tacitus diese Kategorie unterlegen.

In der anschließenden Erörterung der "moralischen Komponente des Bürgerkriegs" hebt Riedl erstens erneut die "Geschichte der Verlierer" hervor, zweitens den Anschein, den die ganze Beschreibung der Historien vermittelt, dass das Bürgerkriegsgeschehen insgesamt als Strafe für kollektives Fehlverhalten anzusehen ist. Dem ist zuzustimmen. Weniger überzeugend und wahrscheinlich nicht ganz zum Thema gehörig sind die folgenden Erörterungen der "politisch-ideologischen Komponente" des Bürgerkriegs. Dass nach Tacitus "die Sorge um das Staatswohl auch von den privaten Interessen der einzelnen getragen sein" sollte (S. 209), ist nicht gerade ein spektakuläres Ergebnis. Wichtiger ist da sicher "die metaphysische Komponente" (S. 209-228). Götter, so Riedl, "spielen im Geschehen als direkt wirkende Faktoren eine sehr geringe Rolle" (S. 210). Das mag stimmen. Schwieriger wird es mit Glück und Zufall, denen Riedl zwar einen höheren Stellenwert als den Göttern einräumt, aber mehr in dem Sinne, dass Fortuna sich eben an die Seite des Tüchtigen stelle, wie im Falle der Flavianer. (bes. S. 218) Die "höheren Mächte" insgesamt hätten geringen Einfluss auf das Geschehen und träten fast immer in Verbindung mit menschlichen Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen auf, so das Fazit von Riedl. (bes. S. 225f.)

Es ist deutlich, dass Riedl hier einerseits ihren letztlich stark menschengemachten, weil "moralistisch" geprägten Determinismus verteidigt, anderseits einen genügend großen Abstand zu dem weitaus stärker mit Zufällen arbeitenden Ammian herstellen will. Dabei unterschätzt sie aber die Reichweite des Zufalls bei Tacitus doch erheblich. Zu nennen wäre da z.B. - abgesehen von den Ereignissen um Cremona, die Riedl selbst erwähnt 2 - der Machtübergang von Galba auf Otho, der kaum etwas mit rationaler Planung der Beteiligten zu tun hat, sondern vielmehr von Planlosigkeit, Konfusion, Gerüchten und Zufällen geprägt ist.3 Wiederholt zeitigen betontermaßen geringfügige Anlässe schwerwiegende Folgen.4 Eine Einbeziehung der Annalen könnte die Position von Riedl weiter in Frage stellen: Ist der Tod des Germanicus wirklich zwangsläufig, weil die schlechten Kräfte in Tiberius siegen? Wie ist denn Claudius auf den Thron gekommen? Durch ein launisches Spiel des Zufalls (ludibria, Tac. ann. 3,18,4). Überhaupt wird die Thronfolge - immerhin jeweils das zentrale Ereignis, das die Politik der folgenden Jahre maßgeblich bestimmt - mehrfach durch die undurchschaubaren Machenschaften und Intrigen der Frauen im Kaiserhaus entschieden. Ausweis rationalen Handelns ist das nicht, schon gar nicht Zeichen für einen zielgerichteten Prozess. Im Gegenteil bergen die genannten Passagen vielfältige Hinweise darauf, dass es Tacitus gerade darum geht, die Begrenztheit menschlicher Planung zu zeigen.5 Ein sehr verwandtes Phänomen ist übrigens das Gerücht, das bei Tacitus überaus häufig eine Rolle spielt. Riedl übergeht es, obwohl sie jeweils einmal kurz die Bedeutung von "Information" anreißt. (S. 124, 293)6

Ammian hat gegenüber Tacitus ganz anderes zu bieten. Die Perspektive ist bei ihm nicht mehr romzentriert, Beamtenschaft und Hofstaat treten als neues Kollektiv neben Senat, Volk und Truppen. Aber es ist ohnehin so, dass bei Ammian "die großen einzelnen im Vordergrund" stehen (S. 246), allerdings sind die handelnden Personen weniger Individuen im psychologischen Sinne als vielmehr "Kristallisationspunkte des Kollektivs", dem sie angehören. (S. 251) Die Personen Ammians sind folglich viel stereotyper, die moralische Beurteilung aus Sicht des Autors steht eindeutig im Vordergrund. Der historische Prozess, so Riedl, sei bei Ammian insgesamt weniger differenziert und verfüge über ein nicht annähernd so komplexes Motivationsgeflecht wie bei Tacitus: "Die Akteure bewegen das Geschehen häufig unabhängiger und unmittelbarer, wobei ihre Antriebe für den konkreten Fall oft sehr allgemein, wenn nicht zuweilen unklar bleiben." (S. 308) Bei Ammian sei das Geschehen eher durch "punktuelle Entscheidungen" motiviert als das Produkt "längerfristiger Entwicklung" (S. 310ff.). Gegenüber den Historien des Tacitus sei bei Ammian "eine deutliche Reduktion an Komplexität" erkennbar. (S. 355) Götter und Zufälle dienten öfters dazu, das Geschehen zu erklären, vor allem ständen sie oft im Gegensatz zu menschlichen Motiven. "Der menschliche Bewegungsspielraum scheint somit enger, das Resultat ihres Handelns mehr von höherem Willen abhängig." (S. 384)7 Auch hier herrsche Determinismus.

In der Gesamtkonzeption ist es Ammian, der seine Gestalten steif am Ideal misst, nämlich an der Verkörperung der alten Res Publica im guten Kaiser, während Tacitus variabler ist und sieht, dass sein Ideal der Republik dem politischen Leben der Kaiserzeit nicht mehr angemessen ist. Folglich passt er sein Geschichtsmodell eher der Wirklichkeit als dem Ideal an (S. 228-232). Anders Ammian, der die Figuren an seinem politischen Ideal misst und daran scheitern lässt, bei ihm, so Riedl, herrsche "vordefinierte Erwartungshaltung statt Beobachterprinzip" (S. 388ff.). Das sind substantielle Ergebnisse, die zeigen, wie fruchtbar der vergleichende Ansatz sein kann. Pessimistisch seien im übrigen beide Autoren, bei Tacitus sei die Lage insofern komplizierter, als sein Geschichtsmodell keine einfache Kreisform oder Wellenbewegung darstelle, sondern eine Spirale mit insgesamt abwärtsführendem Trend (S. 390). Das ist problematisch. Die Annalen verstärken zweifellos zusätzlich den Eindruck, dass Tacitus insgesamt ein eher negatives Geschichtsbild vermittelt.8 Wie aber passt das mit einer Gegenwart zusammen, die für Tacitus eindeutig besser als die von ihm geschilderte Vergangenheit ist 9 - selbst wenn der Historiker im Laufe der Jahre vielleicht schon wieder enttäuscht von Trajan war?10

Das Kernproblem ist die deterministische Sichtweise, die Riedl Tacitus unterstellt, weil sie sich durch die Suche nach dem "Prozeß" dazu verleiten lässt, eine allzu starke Linienführung der berichteten Ereignisse zu konstatieren, wenn nicht zu konstruieren. Außerdem überbewertet sie dabei das Phänomen, dass Tacitus natürlich das Ergebnis der von ihm geschilderten Ereignisse kennt und deshalb manches vorwegnimmt. Deswegen ist er noch lange keine Determinist. Es bleibt die Frage, ob er langfristig einen sinnvollen Trend im Verlauf der römischen Geschichte sieht. Wenn ja, wohin?

Allzu sehr sind doch gerade in den späten Annalenbüchern die Handlungsstränge in einzelne Episoden aufgelöst, die oftmals theatralischen Charakter haben. Sie alle zeugen von der Verderbtheit der Oberschichten, von einigen wenigen Tugendbeispielen und von der Unfähigkeit der Herrscher, aber wohin führt das ganze? Wir wissen nur, mit Tacitus, dass wieder andere Zeiten kommen, und zwar, nach Meinung des Historikers, deutlich bessere Zeiten als all die 140 Jahre, über die er schreibt - Augustus eingeschlossen, der ja zu Beginn der Annalen recht negativ beurteilt wird. Die einzige Ausnahme haben vielleicht die verlorenen Historien-Partien über Vespasian und Titus dargestellt, und selbst daran kann man zweifeln, wenn man bedenkt, dass Vespasian den von Tacitus hoch in Ehren gehaltenen Helvidius Priscus hat hinrichten lassen. Es gibt also nur zwei "glückliche Zeiten" bei Tacitus: die ferne republikanische Vergangenheit - in der auch nicht alles besser war 11 - und die Gegenwart oder jüngste Vergangenheit unter Nerva und Trajan, in denen sich die republikanische libertas mit dem Principat verbunden hat (Tac. Agr. 3,1). Das ist gar nicht mehr so weit weg vom Ideal des Ammian. Außerdem ist Tacitus gewissermaßen ein agnostischer Historiker. Sehr oft verweigert er das abschließende Urteil über eine Erkenntnisalternative, zitiert Gerüchte und lässt das bruchstückhaft rekonstruierte Geschehen im Ungewissen auslaufen. Auch den Zufall nimmt er als geschichtsmächtige Kraft ernst. Aus dieser Haltung kann kein Determinismus erwachsen.

Riedls Buch ist übersichtlich und gut strukturiert. Der üppige Index tut dabei ein übriges. Die Fragestellungen sind reichhaltig, präzise und leiten in didaktisch vorbildlicher Weise den Leser durch die Arbeit. Dem entspricht, dass auch Antworten oder Thesen immer wieder anschaulich präsentiert und rubriziert sind. Dabei gibt es freilich Redundanzen, und zuweilen siegt auch der Ordnungssinn über die tatsächliche Relevanz und Markanz der Inhalte. Manche Kategorie gerät zur Schablone, und das Ergebnis ist genau das, was die Fragestellung einzig erwarten ließ. Ein verwandtes Phänomen ist die zuweilen handgestrickt wirkende Aufbereitung und Definition der Terminologie (bes. S. 17ff.). Hier fehlt eine Theorie, ein Überbau, der nur durch engere Anlehnung an soziologische oder literaturwissenschaftliche Literatur zu gewinnen gewesen wäre. Die Erörterungen zum "autonomen Prozeß" stellen die Ausnahme dar. Stattdessen kreist Riedl überwiegend in ihrer etwas artifiziellen Terminologie. Dabei ist sie wirklich sprachmächtig und erreicht eine beachtliche Argumentationsdichte. Gelegentlich überschlägt sie sich freilich in ihrer Formulierlust, so etwa mit dem "Fortschritt im [...] Prozeß" (S. 157); hübsch ist auch "Eingangsproömium" (S. 236, Anm. 691).

Der Einsatz von Sekundärliteratur hat durchwegs etwas Punktuelles und Beliebiges. So fragt man sich, warum ausgerechnet die für die Untersuchung gar nicht besonders relevante Frage nach dem Datum des Handlungsbeginnes der Historien der Verfasserin eine solch umfangreiche Fußnote wert ist (S. 28f.). In aller Regel zitiert Riedl zwar reichhaltig Literatur - auch über den deutschen und englischen Sprachraum hinaus -, geht dabei aber kaum einmal in die Tiefe. Folglich findet nicht wirklich eine Auseinandersetzung mit der Forschung statt, was schade ist, denn Riedl braucht die Diskussion um "Zufall", "Pessimismus" oder ähnliche reich erörterten Fragen bei Tacitus keineswegs zu scheuen, sondern hätte starke Argumente auf ihrer Seite. Der gründliche Vergleich mit Ammian bringt methodisch eindeutige Fortschritte gegenüber bisherigen Arbeiten, die meist nur Tacitus zum Inhalt haben. Gerade in der Frage des Zufalls ist der Blick auf Ammian durchaus dazu geeignet, eine allzu enge Betonung von Fatum und Fortuna bzw. eine daran anschließende Minimierung des menschlichen Handlungsspielraums bei Tacitus zu relativieren.

Trotz mancher Kritik bleibt denn auch das Gesamturteil positiv über ein gut geschriebenes Buch, das eine erfrischende Perspektive bietet, zu nennenswerten Ergebnissen kommt, klar aufgebaut sowie sauber lektoriert ist und das unser Verständnis von Tacitus und Ammian zweifellos vertieft und ein gutes Stück voranbringt.

Anmerkungen:
1 Meier, C., Fragen und Thesen zu einer Theorie historischer Prozesse, in: Faber, K.-G.; Meier, C. (Hgg.), Historische Prozesse (Theorie der Geschichte, Beiträge zur Historik 2), München 1978, S. 11-65.
2 S. 215f. zu Tac.hist.3.18ff.
3 Vgl. z.B. Tac. hist. 1,21,1; 1,26; 1,29,1; 1,31,1; 1,39,1; vgl. Pöschl, V.; Klinz, A., Zeitkritik bei Tacitus, Heidelberg 1972, S. 18.
4 Tac. hist. 1,80,1; 2,66,2f.; 2,68,1f.
5 Rutland, L. W., Women as makers of kings in Tacitus' Annals, CW 72 (1978), S. 15-29, bes. S. 28f.; Rutland, L. W., Fortuna ludens. The relationship between public and private imperial fortune in Tacitus, Diss. Univ. of Minnesota, Minneapolis 1975; Pöschl; Klinz (wie Anm. 3), 18; Pöschl, V., Der Historiker Tacitus, in: Pöschl, V. (Hg.), Tacitus, Darmstadt 1986, S. 161-176 (ursprünglich: Die Welt als Geschichte 22, 1962, S. 1-10), hier S. 170ff.
6 Historien-Passagen, in denen das Gerücht selbst Einfluss auf den Fortgang des Geschehens nimmt: u.a. Tac. hist. 1,12,2f.; 1,54,2ff.; 1,89,2; 2,42,1; 2,78,3f.; vgl. dazu Gibson, B. J., Rumours as causes of events in Tacitus, MD 40 (1998), S. 111-129.; Develin, R., Tacitus and techniques of insidious suggestion, Antichthon 17 (1983), S. 64-95; Newbold, R. F., The vulgus in Tacitus, RhM 119 (1976), S. 85-92; Ries, W., Gerücht, Gerede, öffentliche Meinung. Interpretationen zur Psychologie und Darstellungskunst des Tacitus, Diss. Heidelberg 1969; Pöschl (wie Anm. 5), 171ff.
7 Vgl. zu diesen Fragen zusätzlich auch Williams, M. F., Four mutinies: Tacitus Annals 1.16-30; 1.31-49 and Ammianus Marcellinus Res Gestae 20.4.9-20.5.7; 24.3.1-8, Phoenix 51,1 (1997), S. 44-74.
8 Der "Pessimismus" des Tacitus ist reichhaltig erörtert, was Riedl allerdings wenig zur Kenntnis genommen hat, obwohl sie selbst gute Argumente in die Diskussion einbringen kann; vgl. u.a. Sage, M. M., Tacitus' Historical Works: A Survey and Appraisal, ANRW II 33,2 (1990), S. 851-1030; S. 1629-1647 (Indices), hier S. 948; Aubrion, E., Rhétorique et histoire chez Tacite, Metz Univ. 1985, S. 100ff.; Syme, R., Tacitus, Bd. 1, Oxford 1958, 219f.; Klingner, F., Tacitus, in: Römische Geisteswelt, 6. Aufl., Stuttgart 1979 (ursprünglich Leipzig 1943), S. 504-527.
9 Tac. Agr. 3,1; 3,3; Tac. hist. 1,4.
10 In diesem Sinne Klingner, F., Tacitus über Augustus und Tiberius, in: Pöschl, V. (Hg.), Tacitus, Darmstadt 1986, S. 496-539 (ursprünglich: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 7, 1953, S. 1-45), hier S. 519; vgl. Beck, J.-W., Germania - Agricola: zwei Kapitel zu Tacitus' zwei kleinen Schriften, Hildesheim 1998, 123; Dudley, D. R., Tacitus und die Welt der Römer, Wiesbaden 1969 (engl. 1968), 17.
11 Vgl. Tac. ann. 3,55,5: "Vielleicht besteht auch für alles in der Welt so etwas wie ein Kreislauf in der Weise, daß sich ebenso wie die Jahreszeiten im Wechsel auch die Sitten wandeln; nicht alles war in den früheren Zeiten besser, aber auch unsere Zeit hat vieles an rühmlichem Tun und Leistungen der schönen Künste hervorgebracht, das Nachahmung durch die Nachwelt verdient" (Übers. v. E. Heller, München 1991).

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