C. Dillmann u.a. (Hrsg.): Geliebt und verdrängt

Cover
Titel
Geliebt und verdrängt. Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963


Herausgeber
Dillmann, Claudia; Möller, Olaf
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Deutsches Filminstitut
Anzahl Seiten
415 S., 270 Abb.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Knut Hickethier, Institut für Germanistik II, Universität Hamburg

Der vorliegende, mit 270 teilweise ganzseitigen Abbildungen opulent ausgestattete Band ist anlässlich einer Retrospektive des Festivals del Film in Locarno entstanden und enthält 33 Beiträge von Filmregisseuren, -autoren und -wissenschaftlern zahlreicher Filminstitutionen im Wesentlichen außerhalb der universitären Filmforschung. Es ist seit langem wieder ein Buch, das sich intensiv mit dem bundesdeutschen Film der 1950er-Jahre beschäftigt, detailliert auf einzelne Filme eingeht und danach fragt, was sie für das damalige Publikum bedeuteten.

Die zentrale These des Buches vom heute verkannten bundesdeutschen Film der Zeit wird vor allem von der Mitherausgeberin Claudia Dillmann vertreten. Sie betont, dass das Kino dieser Zeit näher am Publikum gewesen sei als das Kino der nachfolgenden Zeit, weil es allein vom Markt und nicht durch eine staatliche Förderung bestimmt sei (wie das seit dem Oberhausener Manifest 1962 der Fall sei) und dass die Filme in kürzerer Zeit hergestellt worden wären. So richtig Vieles an ihrer Argumentation ist, übersieht sie jedoch, dass es auch in den 1950er-Jahren eine staatliche Unterstützung durch die Bürgschaftspolitik des Bundes und einiger Länder (zum Beispiel Hamburg für die Real-Film) gab und die Neugründung der UFA 1956 von der Bundesregierung gefördert war. Gerade die hier beschriebene Praxis der Blind- und Blockbuchung durch die Verleihe, die zur kürzeren Produktionszeit zahlreicher ähnlicher Genrefilme führte, war für das niedrige Niveau vieler Filme verantwortlich. Es ist also alles etwas komplizierter als es der polemische Parforce-Ritt gegen die Oberhausener, die angeblich das Ende der schönen Filme der 1950er-Jahre bewirkt hätten, wahrhaben will. Eine neue Sichtweise zu fordern, ist sicherlich lobenswert, doch hätte es erfordert, deutlich zu benennen, von wessen Auffassungen man sich konkret abgrenzt (Enno Patalas? Ulrich Gregor? Klaus Kreimeier?).

Lars Henrik Gass beschäftigt sich mit den Oberhausenern und ihrem Manifest und zeigt, dass die Kritik am Kino dieser Zeit schon von Wolfdietrich Schnurre, Joe Hembus und Walther Schmieding in ihren Büchern von 1962 formuliert worden sei. Das ist nicht neu. Dass die Oberhausener mit ihrer Kritik erfolgreicher als die drei Autoren mit ihren Schriften waren, läge daran, so Gass, dass sie kollektiv aufgetreten seien. Dass im gleichen Jahr der Neue Deutsche Filmverleih zusammenbrach und die UFA ihre Filmproduktion einstellte, trug jedoch sicherlich mehr zum Umbruch der deutschen Filmwirtschaft bei als die Thesen einiger Jungregisseure in Oberhausen.

Kernpunkt einer Neubewertung der Zeit muss eine Auseinandersetzung mit den dominanten Filmgenres sein. Zum Heimatfilm liefert Fritz Tauber eine Systematisierung des Genres mit seinen Untergruppen, die sich im Wesentlichen an Willi Höfigs Standardwerk zum Heimatfilm von 1973 anlehnt und keine neue Sichtweise erkennen lässt.1 Jörg Gerle betrachtet im Heimatfilm weniger die öden Handlungsstrukturen und Narrationen, sondern glaubt, dass der Heimatfilm die Grundlage gelegt habe für das später erwachende Umweltbewusstsein. Dies gelingt ihm jedoch nur, weil er am Ende auch einen Bezug zu den Natur- und Tierfilmen bis hin zu Bernhard Grzimeks „Serengeti darf nicht sterben“ und Heinz Sielmanns Tierfilm-Produktionen herstellt. Aber sind das noch Heimatfilme?

Peter Ellenbruch erörtert den bundesdeutschen Kriminalfilm und sieht die Ursache für dessen mangelnde Beachtung einmal mehr bei den Oberhausenern, weil der Kriminalfilm als „populäres“ Genre verachtet worden sei. Doch die Gründe für die in der Tat geringe Beschäftigung mit dem deutschen Kinokrimi liegt zum einen darin, dass die deutsche Genreforschung (etwa bei Georg Seeßlen2 oder bei der von Thomas Koebner initiierten Genreforschung3) Genres immer mehr als ein internationales denn als nationales Phänomen verstanden hat, zum anderen daran, dass es im Vergleich mit dem Heimatfilm auch nur relativ wenige deutsche Kriminalfilme im Kino der 1950er-Jahre gab. Diese wenigen Produktionen sichtet Ellenbruch jedoch systematisch und zeigt dabei, wie mit dem Genre umgegangen wurde und wie in diesen Filmen die bundesdeutsche Gesellschaft thematisiert wurde. Hervé Dumont widmet sich dem Filmschaffen von Robert Siodmak in Deutschland ab 1955 ebenso wie Fabian Schmidt auf Frank Wisbar eingeht.

Mit dem Kriegsfilm beschäftigt sich Marcus Stiglegger und gibt ohne alle Polemik eine solide systematische Genredarstellung der bundesdeutschen Kriegsfilme (die sich damals als Antikriegsfilme verstanden). Ihre Zahl war beträchtlich und setzte gegenüber den amerikanischen Produktionen dieses Genres eigene Akzente, die Stiglegger sichtbar macht. Das übliche Freund-Feind-Schema bauten sie zu einem Gegeneinander der ehrlichen Wehrmacht gegen die böse SS um. Werner Sudendorf erschließt das Kinomelodram über die Darsteller, um dann auf das Genre zu sprechen zu kommen sowie zu Filmproduktionen seiner Regisseure von Harald Braun bis zu Veit Harlan. Die melodramatische Grundstruktur wird in ihren Variationen deutlich herausgearbeitet und damit das Genre für diese Zeit erst sichtbar gemacht, die den Begriff des Melodrams im Film noch nicht kannte.

An die Schauspielerporträts knüpfen die Beiträge des Filmregisseurs Dominik Graf (über die männlichen Darsteller und Stars) und Rainer Knepperges (über weibliche Stars) an. Dominik Graf setzt bei seinem Vater, dem Schauspieler Robert Graf, an, um sich den Traumata der jungen Bundesrepublik über spezifische Schauspielercharaktere und den Typisierungen zu nähern, so zum Beispiel über die Konstruktion des „sanften Helden“ (als Reflex auf die martialischen Helden der NS-Zeit). Graf setzt auf Wiederentdeckung, aber weniger in einer Polemik als in einem lustvollen und ungemein kenntnisreichen Durchgang durch das männliche Spielen und Sprechen der Schauspieler von Carl Raddatz bis hin zu Horst Frank und Hansjörg Felmy. Er beschreibt dabei auch die Herausbildung des darstellerischen Unterspielens und der mimischen Reduktion, um dann zu zeigen, wie diese Darstellungskunst abgelöst wurde durch neue Prinzipien des Jungen deutschen Films, der auf eine Authentizität der Darsteller setzte. Graf stellt historische Zusammenhänge auf eine sehr einfühlsame und zugleich materialgesättigte Weise her. Hier wird sichtbar, was das Kino der Zeit seinen Zuschauern bedeutete.

Zu den wichtigen Beiträgen des Bandes gehören vor allem auch die, die neue Bereiche in intensiver Form darbieten. Rudolph Worschechs Darstellung der Kameraarbeit im bundesdeutschen Spielfilm der Zeit zählt dazu, wobei er einerseits das Konventionelle in den Filmen betont, andererseits die Vielfalt der kleinen und größeren Experimente innerhalb dieses Konventionellen zeigen kann. In den Blick nimmt er dabei auch die verwendeten Kameras und deren technischen Unterschiede. Dieser Blick auf die cineastischen Aspekte der Filme ist auch in anderen Beiträgen punktuell vorhanden, bei Worschech aber erfahren sie eine systematische Grundlegung.

Ähnlich wichtig ist auch der Beitrag von Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen über Außenseiter der Filmproduktion, wobei vor allem Herbert Viktor der interessanteste ist, weil er in den 1950er-Jahren ein Mann der vielen Medien war, der sich nicht nur im Kinofilm, der Fotografie, sondern auch im frühen Fernsehen umtat. Wenn von Vielfalt im bundesdeutschen Kino dieses Jahrzehnts die Rede ist, dann wird diese hier auch durch die Beziehungen zwischen den Akteuren in der Filmbranche sichtbar. Ebenso entdecken Norbert Pfaffenbichler den Avantgarde-Filmer Franz Schömbs und Fabian Tietke den Animationsfilmer Gerhard Fieber, doch man erkennt nicht immer wirklich, ob das Wissen über sie das bisherige Bild vom Kino der 1950er-Jahre wesentlich korrigiert oder ob sie doch nicht nur Außenseiter und Randfiguren gewesen sind. Bei Jennifer Lynde Barker, die sich mit den Animationsfilmer Hans Fischerkoesen beschäftigt, erfährt man nichts grundlegend Neues, was nicht schon Günter Agde über ihn in seinem umfangreichen Buch über die Geschichte des deutschen Werbefilms geschrieben hat.4

Christoph Huber schreibt über das Verhältnis von Romanautoren wie Johannes Mario Simmel, Heinz G. Konsalik, Hans Hellmut Kirst oder Herbert Reinecker zum Film, verwendet dabei den Begriff der „Trivialliteratur“, von dem sich die Literaturwissenschaft schon längst als problematisch verabschiedet hat, so dass die Bezeichnung des „Trivialliteratur-Kinos“ nur komisch wirkt. Die Aufsätze zum Verhältnis jüngerer Autoren zum Kinofilm oder zu Ottomar Domnicks Film „Jonas“ gehören sicher in den Übergang vom Kino der 1950er-Jahre zum Jungen deutschen Film, und der Text zu Michael Pfleghar zum Verhältnis von Kinofilm und Fernsehen der 1960er-Jahre. Einige Beiträge beschäftigen sich auch mit bislang wenig behandelten Themen der innerdeutschen Filmbeziehungen, die im Lichte einer größeren Beschäftigung der deutsch-deutschen Filmbeziehungen wichtige und neue Bausteine liefern können. Ebenso finden sich auch einige Außensichten auf den bundesdeutschen Film dieser Jahre.

Was bleibt? Ganz ohne Zweifel liefert der Band wichtige Beiträge zu einer Zeit, die in den letzten Jahren wenig behandelt wurde. Sie sind in der Akzentsetzung und in der Dichte der hier gelieferten Informationen unterschiedlich. Die Vielfalt der Themen allein reicht schon aus, um das Buch als wichtig hervorzuheben und – mit kritischem Blick – zu lesen. Sein Bemühen, die Filmgeschichtsschreibung über die 1950er-Jahre neu zu schreiben, scheitert jedoch aus zwei Gründen.

Zum einen reiht sich Vieles ein in den laufenden Diskurs über diese Zeit, komplettiert ihn, bietet aber keine völlig neue Sicht. Zum anderen fehlen für eine wirkliche Neubewertung des bundesdeutschen Kinos dieser Zeit zentrale Themen: die Beschäftigung mit den großen Produktionsfilmen, etwa der Real-Film in Hamburg, der Filmaufbau in Göttingen, der Junge Film Union in Bendesdorf oder nicht zuletzt mit dem UFA-Komplex. Es fehlt eine Beschäftigung mit den großen Verleihern und ihrem Blind- und Blockbuchungssystem, das hier indirekt als publikumsnah gelobt wird. Ilse Kubaschewski vom Gloria-Filmverleih, die wohl einflussreichste Filmunternehmerin der Zeit, kommt nur in Nebenbemerkungen zum Bild der Frau im Film der 1950er-Jahre vor (S.192f.). Wie steht es um den Vorwurf, von Hans Peter Kochenrath5 statistisch belegt, dass die erfolgreichen Filmregisseure dieser Zeit, wie Wolfgang Liebeneiner und andere alle zuvor schon erfolgreiche Regisseure der NS-Zeit waren und von einem neuen Kino der Bundesrepublik kaum die Rede sein kann?

Und warum nur, das wüsste man nach 415 Seiten gern, warum nur ist dieser beim Publikum vermeintlich so erfolgreiche Film der so genannten „Altbranche“ dann in den 1960er-Jahren so rasant untergegangen? Das soll nur am Fernsehen gelegen haben? Und warum war dies in vielen anderen Ländern nicht so?

Anmerkungen:
1 Willi Höfig, Der deutsche Heimatfilm (1947–1960), Stuttgart 1973.
2 zum Beispiel Georg Seeßlen, Grundlagen des populären Films. Filmwissen, Marburg 1995ff.
3 Thomas Koebner u.a. (Hrsg.), Filmgenres, Stuttgart 2003ff.
4 Günter Agde, Flimmernde Versprechen. Geschichte des deutschen Werbefilms im Kino seit 1897, Berlin 1998.
5 Hans Peter Kochenrath, Kontinuität im deutschen Film (1966), in: Wilfried von Bredow / Rolf Zurek (Hrsg.), Film und Gesellschaft. Dokumente und Materialien, Hamburg 1975, S.286ff.

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